Anna ist sieben Jahre alt. Seit zwei Stunden hat sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Ihre Mutter fragt sich, was sie wohl treibt, denn es ist so still. Plötzlich kommt Anna aus dem Zimmer geschossen. "Schau mal, was ich Tolles gemalt habe!", sagt sie mit strahlendem Gesicht. Annas Bild ist ein buntes Durcheinander von Farben und Formen. Der Mutter gefällt es. Neugierig fragt sie nach: "Was hast du denn da gemalt?" Anna holt tief Luft und sagt feierlich: "Das ist Gott ... leider hat er nicht ganz aufs Bild gepasst."
"Das ist Gott ... leider hat er nicht ganz aufs Bild gepasst."
Annas Papierbogen hätte doppelt oder viermal so groß sein können. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sie auch dann gesagt, Gott würde nicht ganz darauf passen. Kinder wissen, dass ihre Vorstellung von Gott nicht mit dem übereinstimmt, was sie von ihm zu Papier bringen. "Gott kann man nicht malen, er ist unsichtbar", protestieren viele Kinder, wenn der Religionslehrer sie bittet, Gott zu malen. Fragt er weiter, wie Gott denn aussehen könnte, malen sie oft phantasievolle Bilder: Gott als himmlisches Flügelwesen, als Erdkugel mit Menschengesicht oder als pustende Sturmwolke ohne ihre Ansicht zu ändern, dass man Gott eigentlich nicht sehen kann.
"Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!", fordern auch die Zehn Gebote (2. Mose 20,4 f.). Da steht nicht, man dürfe gar keine Vorstellung von Gott haben, sondern man solle kein irdisches Bild für Gott halten und es zum Götzen erklären. Genau dies tun Kinder mit ihren Gottesbildern ja auch nicht.
Begriffe ohne Anschauung sind leer, sagte schon der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant. Das Gleiche gilt für den Begriff Gott. Wer diesen Begriff verwendet, muss bereits irgendeine Vorstellung von Gott im Hinterkopf haben. Sonst bleibt unklar, was er mit diesem Begriff meint. Allerdings muss ihm auch klar sein: Wie Gott nicht auf Annas Bild passt, so passt Gott auch in kein gedankliches Gottesbild.
Künstler aus früheren Zeiten gaben Gott oft die Gestalt eines alten Mannes mit grauem Bart. Möglicherweise verbanden sie damit die Vorstellung, dass der Ewige das Leben vieler Generationen überblicke und dass Gott ein weiser Weltenlenker sei. Andere Künstler malten an Stelle Gottes ein Auge in einem Dreieck. Gott könne man nur im Symbol zeigen, meinten sie, weil er sich menschlicher Vorstellungskraft entziehe. Das Dreieck repräsentiert die Dreieinigkeit, das Auge die göttliche Vorsehung. Andere Bilder zeigen Gottes Geist in Gestalt einer Taube nach biblischem Vorbild (Markus 1,10). Am einfachsten scheint es, Bilder vom Mensch gewordenen Gott zu malen: von Christus. Doch auch Christusbilder sind lediglich Symbole, Hinweise auf eine möglicherweise ganz andere Gestalt. In Anlehnung an eine festgelegte Ikonensprache zeigen sie Jesus als jungen Mann mit schwarzem Bart. Ob Jesus wirklich so aussah, weiß heute niemand mehr.
Du sollst deine Mitmenschen nicht mit dem Bild verwechseln, dass du dir von ihnen gemacht hast.
Die biblische Mahnung, sich kein Bildnis zu machen und es anzubeten, bedeutet: Du sollst deine Vorstellung von Gott nicht mit Gott verwechseln. Diese Mahnung erscheint plausibel, gilt sie doch auch zwischen Menschen: Du sollst deine Mitmenschen nicht mit dem Bild verwechseln, dass du dir von ihnen gemacht hast.
Keine Chance also zu erfahren, wie Gott aussieht? Gott habe den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen, heißt es in der Bibel (1. Mose 1,27). Die Bibel stellt damit klar: In jedem Menschen, unabhängig von seinem Erscheinungsbild, spiegelt sich die Gottheit wider. Man hat daraus oft gefolgert, dass Gott dann so ähnlich aussehen müsse wie der Mensch. Nicht zufällig malen die meisten Kinder, aber auch die meisten Künstler Gott in Menschengestalt.
Nach biblischem Verständnis verblasst die Ebenbildlichkeit von Gott und Mensch, wenn der Mensch widergöttlich handelt. An ihm lässt sich dann kaum noch erkennen, wozu Gott ihn ursprünglich bestimmt hat. "Christus ist Ebenbild des unsichtbaren Gottes", sagt das Neue Testament (Kolosserbrief 1,15). Mit anderen Worten: Wer seine Gottesebenbildlichkeit wieder zum Strahlen bringe wolle, müsse sein Leben am Vorbild und an der Lehre Jesu Christi ausrichten.
Wer betet, redet mit Gott wie mit einem Menschen. Zu einem Menschen gehören aber ein Gesicht und ein Körper mit Füßen und Händen. Es ist überhaupt nicht verkehrt, sich Gott als menschliches Gegenüber vorzustellen wenigstens manchmal.