Die Schule bietet Platz für Schausteller, aber wenig Platz für Lebensfragen.
30.11.2010

Das Thema der Lehrprobe klang an- und aufregend: das Schwimmverhalten der Fische. Die Biologie-Referendarin plante, lebende Fische mit in den Unterricht zu bringen, um den Schülern deren Schwimmverhalten so anschaulich wie möglich zu präsentieren und um auf die Prüfer einen möglichst guten, das heißt stromlinienförmigen Eindruck zu machen.

Minutiöse Stundenausarbeitung, nahrungsarme Tage, schlaflose Nächte, das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen panischen Angstattacken und lähmender Apathie: All das mag als Erklärung dienen, wie es dazu kommen konnte, dass der Referendarin im Lehrerzimmer kurz vor der Lehrprobe das Goldfischglas umkippte. Glücklicherweise zerbrach es nicht, und auch die Fische fielen nicht zu Boden. Aber der Wasserpegel war jetzt viel zu niedrig. Die Referendarin füllte das Glas mit Leitungswasser auf. Doch weil dies zu viel Kalk enthielt, legten die Fische in der Lehrprobe ein Schwimmverhalten an den Tag, das gerade nicht in den so perfekt geplanten Unterrichtsverlauf passte: Sie bewegten sich erst japsend in der Bauchseitenlage, dann ruderten sie an die Wasseroberfläche und pumpten schließlich ihre letzten Atemzüge durch die Kiemen.

Als Känguru vor der Klasse: perfekte Ausstattung, große Schausprünge

Das ist die Wahrheit. Es ist weder gelogen noch übertrieben. Als ich zum ersten Mal in einer Buchhandlung aus meinem Roman "Lehrerzimmer" vorlas, war ich noch im Glauben, dieser Satire genügend Übertreibungen und Überzeichnungen beigemengt zu haben. Zutaten wie diese: In einer Lehrprobe erschießt ein Referendar einen anderen, um den Englischschülern das Wort to kill so gut wie möglich zu veranschaulichen. Oder: Der Medienwart einer Schule plant seinen Sexualverkehr nach verschiedenen Methodenwechseln (Einstiegs- und Übungsphase, Stillarbeit, dann das fragend-entwickelnde Gespräch, Tafelanschrieb, Folie). Und schließlich: Ein Direktor offenbart, was er für die vier unverzichtbaren Säulen der Schule hält: Angst, Jammer, Schein und Lüge.

Der Glaube, das seien nichts als Übertreibungen, währte nur kurz, genau: bis zum Ende dieser ersten Lesung. Dann war es an den Lehrern zu berichten. Sie sagten: "Genau so ist es!" Bald schon: "Das ist noch gar nichts!" Und dann: "Es ist viel schlimmer!" Schließlich: "Ihr Buch ist ja vollkommen harmlos!" Spätestens an diesem Punkt musste ich einsehen, dass ich das Biotop Schule als den Hort der Realsatire schlechthin gewaltig unterschätzt hatte. Viele Lehrer fühlen sich in systeminterne Absurditäten und Paradoxien verstrickt. Mit zunehmendem Eifer erzählten sie groteske Schulerlebnisse.

Schupfnudeln!, begrüßte zum Beispiel ein Direktor die neu angekommenen Referendare. Schupfnudeln, rief er, fast schon rot im Gesicht. Er habe gerade Feierabend machen wollen, sagte er, und jetzt müsse er hier mit ihnen sitzen, während seine Frau sein Leibgericht koche, Schupfnudeln, und Schupfnudeln müsse man frisch essen, aufgekocht taugten sie nichts. ­ Ein Deutschlehrer hatte vergessen, einen Antrag auf einen Antrag zur Bewilligung der Rückzahlung des von ihm vorgestreckten Geldes für die Studienfahrt nach Wien zu stellen. Er wurde nämlich, als er nach der Studienfahrt den Antrag stellen wollte, darauf hingewiesen, er hätte vor der Fahrt bekannt geben müssen, dass er nach der Fahrt diesen Antrag zu stellen beabsichtige. ­ Eine Englisch-Referendarin ihrerseits hielt ihre Lehrprobe zum Thema Australien im Kängurukostüm.

Schließlich weihte man mich in die so genannte Dompteurspädagogik ein. Ein durchaus sympathischer und friedfertiger Berufsschullehrer berichtete von seiner Waffensammlung, die er sich ­ "gezwungenermaßen!" ­ im Laufe der Jahre für den Löwenkäfig Schule hatte anschaffen müssen: zwei Megaphone, ein "großes, noch aus 68er-Kontext, verbeult, kann töten", und ein kleines, Marke playskol, dazu eine rote und gelbe Karte mit großer Aufschrift "rot" und "gelb", ein Pfefferspray für die Defensive, eine (er holte sie aus der Tasche und zeigte sie mir) original britische J.-Hudson-Polizei-Trillerpfeife aus Birmingham, silbern, Jahrgang 1944, zweitönig, die sämtliche Trommelfelle im Umkreis von zwanzig Metern zum Zerspringen bringe, "gut für die Aufsicht, die Täter stoppen ihre Aktionen abrupt". Damit nicht genug: Er holte auch eine Gummipistole hervor, Benteler Werke AG, die, wenn man sie zusammenquetscht, einen Tischtennisball abfeuert. Und nicht zu vergessen: die "dompteurspädagogisch" unersetzliche Bonbondose zum "Anfüttern" der Tiere, gemeint ist: der Schüler.

Es geht immer nur um Ergebnisse, Resultate, Vorzeigbares.

All das entstammt nicht dem Reich der Fantasie und der Satire, sondern der so genannten Realität, und es drängt sich die Frage auf, wie das System Schule zu einem solchen Narrenhaus hat werden können. Es gibt viele Gründe: Für das Gymnasium sind das der überzogene Leistungsdruck unserer Wettbewerbsgesellschaft, die veraltete hierarchische Struktur, die sich widersprechenden normativen Vorgaben und das Kreuzfeuer der unterschiedlichsten Erwartungen, die den Lehrer in ein Spinnennetz von Paradoxien verweben, aus dem es in unserer Konsensgesellschaft kein Entrinnen gibt, dann die Beurteilungs- und Kontrollmanie sowie der Ergebnis- und Präsentationswahn, der sich besonders hartnäckig hält: Es geht immer nur um Ergebnisse, Resultate, Vorzeigbares.

Lösung ­ so heißt das Zauberwort. Die Schüler werden unruhig, wenn sie nichts Sicheres und Gewisses mit nach Hause nehmen können. Der wichtigste didaktische Schritt, lernen die Referendare in der Ausbildung, ist die berühmte Ergebnissicherung. Dass man auf diese Art 45-Minuten-Gedächtnisse züchtet und die Schüler diese so genannten Ergebnisse oft schon beim Pausenklingeln wieder vergessen haben und nach einer Klausur das Erlernte wie einen lästigen Sandsack erleichtert über Bord werfen, gerät aus dem Blick. Und die Präsentation? Sie ist in unserer Schein-Gesellschaft wie auch in der Schule wichtiger als der Inhalt.

An einem so genannten pädagogischen Tag, dessen Zeuge ich als Referendar werden durfte, betraten zwei eigens zu diesem Zweck aus- und fortgebildete Oberschulamtsbeamte unsere Schule und teilten den versammelten Lehrern mit, Ziel dieses pädagogischen Tages sei es, herauszufinden, wie es uns, den Lehrern, hier an der Schule gehe. Sie fragten nach unseren Befindlichkeiten, nach der Atmosphäre und dem Klima der Schule. Damals ahnte ich nichts Böses, sondern freute mich und ging voller Elan in meine Kleingruppe. Ich erwartete ein tief gehendes Gespräch über das, was wir, die Lehrer, wirklich fühlten und dachten. Dann wurden Zettel verteilt. Auf ihnen gab es Kategorien wie Atmosphäre, Kollegialität, Direktion. Nun sei es an uns, den einzelnen Kategorien Zahlen zuzuordnen: Es gebe ein klares Spektrum, von minus 2 bis plus 2. Ich starrte auf den Zettel und anschließend in die Runde. Die Lehrer um mich herum, allesamt schon länger im Geschäft, hatten bereits begonnen, ihre Zahlen zu kritzeln, sichtbar gelangweilt. Man sah ihnen an, sie machten das nicht zum ersten Mal.

Ich wollte mich nicht kampflos geschlagen geben, sondern meldete mich und sagte: Ich könne keine eindeutige Ziffer finden für so etwas wie Atmosphäre, da die Atmosphäre manchmal so, manchmal so sei. Der Einwand wurde abgeschmettert: Ein Mittelwert sei in einem solchen Fall angebracht, hieß es. Ich traute meinen Ohren kaum. Noch heute sehe ich das selbstzufriedene Lächeln der Amtsvertreter in der abschließenden Lehrervollversammlung, als sich herausgestellt hatte, dass wir eine tolle Schule waren, ein tolles Kollegium mit toller Direktion und einer tollen Atmosphäre. Es ging mal wieder um Präsentation: die alle beruhigende, nach außen vorzeigbare Darstellung eines Ergebnisses. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Menschen der Schule, die diese ernst genommen hätte: unerwünscht.

Die Schule als notenfreier Raum: Das böte Platz für wirkliche Lebensfragen

Ein Systemfehler. Eine Systemkrankheit. Es mangelt eklatant an dem, was ich mit Karl Jaspers existentielle Kommunikation nennen möchte, der "liebende Kampf" der Menschen untereinander, geprägt von Infragestellung, Sich-Zeigen, Gleichheit und Offenheit. Die Einübung solcher Auseinandersetzungen mit sich selbst und anderen überlebt in der Schule, wenn überhaupt, meist nur in den "Randfächern" Religion, Philosophie und Ethik, wo sie ein von Schülern und manchen Lehrerkollegen als "sinn- und ergebnisloses Gelaber" oder "überflüssiges Psychologisieren" belächeltes Schattendasein führen.

Doch genau für diese Auseinandersetzung mit den anderen und sich selbst müsste in der Schule ein zeitlich großzügig bemessener Raum geschaffen werden, und zwar ein notenfreier Raum. In Jaspers "existentieller Kommunikation" wären Schüler und Lehrer Kommunikationspartner; es ginge nicht um Ergebnisse, sondern um das Entdecken der eigenen und der anderen Person, ja, um das Entdecken des Anderen als Teil und Bedingung seiner selbst. Statt hohler, scheinhafter Präsentationen das gemeinsame Einüben des offenen Umgangs miteinander. Es ginge nicht mehr um das zum Vergessen verurteilte Anhäufen von Faktenwissen, sondern um Auseinandersetzungen, die für das weitere Leben der Schüler bestimmend werden könnten.

Auf einem solchen Boden könnten Schüler mit ihren eigenen Interessen, ihren Vorlieben und Talenten vertraut werden. Und davon ausgehend, könnte schließlich das Lernen von Fakten, Strategien und der berühmten Schlüsselqualifikationen in neuem Licht erscheinen ­ und endlich den Gestank des Übergestülpten, Angeordneten, Vorgekauten, Eingetrichterten, Kontrollierten, Beurteilten und Abgehakten verlieren. Aber all das ist derzeit noch reinste Utopie. Momentan, muss man leider sagen, hat unsere schein-, nutzen- und ergebnisorientierte Gesellschaft genau die Schule, die sie verdient.

Man kann sie durchaus mit den armen Fischen aus der Lehrprobe vergleichen: Sie sollen eine große, erkenntnisträchtige Rolle spielen, doch sie liegen japsend auf der Seite, rudern strudelnd nach oben und schnappen krampfhaft nach Luft.