Arnd Brummer
Der ehemalige chrismon-Chefredakteur Arnd Brummer
Claudia Meitert
Apfelbäume, der Bodensee und Wilhelm Tell
Torte aus Mostindien
Wie Legenden und Backrezepte die Identität von Gemeinschaften prägen können
Lena Uphoff
Aktualisiert am 27.09.2024
3Min

Wo bist du denn her? Ich? Ja, du! Wenn man mich dies in Hamburg fragte, war meine Antwort kurz und knapp: Ich komme aus Deutsch-Palermo. Ein gut hanseatisches Stirnrunzeln unter­strich die Nachfrage: "Wo liegt das denn?" Kein Problem. Am Rand von Mostindien. Nun war es für mein Gegen­über oftmals nicht leicht, die ortsübliche Höflichkeit weiter an den Tag zu legen.

So bog ich denn in die Erklärungskurve ein: Mit Deutsch-Palermo meine ich Konstanz am Bodensee, direkt an der südlichen Grenze Deutschlands. Und Mostindien ist der nordost-­schweizerische Kanton Thurgau. Den nennt man in Zürich oder Bern so, weil es dort aus städtischer Sicht nicht viel mehr gibt als Apfel- und Birn­bäume. Irgendein Satiriker soll zudem festgestellt haben, dass auf den eidgenössischen Landkarten die Form des Kantons zwischen Bodensee und Alpen wie eine Miniatur von Indien aussehe.

Nun haben die Schweizer in ihrer historischen Gründungslegende um den Armbrustschützen Wilhelm Tell zwar einen Apfel als bedeutsames Symbol. Daraus jedoch eine Wertschätzung des Thurgaus abzuleiten, hieße, die Leute zu "veräppeln". Mostinder tauchen in zahlreichen schweizerischen Witzen als arme, diebische Figuren auf. Der kürzeste Witz lautet: Ein Most­inder kauft ein Velo (Fahrrad). Ein anderer: Warum haben die Gleise der Mittelthurgaubahn so viele Kurven? Damit der Zugführer rasch feststellen kann, wenn jemand einen Waggon geklaut hat.

Der ‚Schwoob‘ Schiller hat den Helden Wilhelm Tell berühmt gemacht

Was aber in weiten Teilen der Schweiz geliebt, gebacken und geschmaust wird, ist die Thurgauer Apfeltorte. Auch in den Cafés und ­Restaurants rund um den Vierwaldstättersee findet man sie auf den Speise­karten.

Lesen Sie hier: Fernando Botero malte Adam und Eva drollig. Warum?

In dieser Gegend liegen die sogenannten Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Und dort spielt die Geschichte des Wilhelm Tell, von einem "Schwoob" (Schwaben) namens Friedrich Schiller erzählt. Dass Tell vom Landvogt Gessler gezwungen worden sein soll, mit seiner Armbrust einen Apfel auf dem Kopf seines Sohnes zu treffen, ist eine Legende. Und dass er mit der Waffe wenig später in der "hohlen Gasse" Gessler tötete, wird von Historikern ebenfalls ins Reich der Mythen und Sagen eingeordnet. Aber die von Schiller dramatisierte Story prägt bis heute das Selbstverständnis der Schweizer Eidgenossen.

Auf dem Rütli, einer Viehweide oberhalb des Vierwaldstättersees, hätten sich die Urkantone am 1. ­August 1291 mit einem Eid zu einem Bund gegen die tyrannischen Vögte der Habsburger verschworen. Und der Apfelschütze soll dabei gewesen sein. Mostindien war damals jedenfalls noch fest in habsburgischer Hand. Das gilt auch für weite Teile Süd­badens und des Kantons Aargau, in dem sich übrigens der Stammsitz des Adels­geschlechts, die Habsburg, be­findet. Dies alles spricht jedoch nicht da­gegen, dass das Rezept der Thurgauer Apfeltorte schon im Mittelalter bis an den Genfer See, an Rhein, Neckar und Donau vermittelt wurde. Vielleicht hat auch Schillers Mama im Städtchen Marbach ihr Backblech damit belegt. Und wenn der Bub begeistert fragte, "wo kommt denn der Kueche her?", geantwortet: "Des isch us de Schweiz."

Als der aufmüpfige Jungintellek­tuelle Schiller aus Württemberg ins heute thüringische Bauerbach flüchtete und sich als "Dr. Ritter" im Hofgut der Familie Wolzogen versteckte, könnten ihm die zahlreichen Apfelbäume als Symbole der Freiheit erschienen sein. Während er dort an "Kabale und Liebe" und "Don Karlos" schrieb, verliebte er sich unglücklich, weil arm und nicht standesgemäß, in die Wolzogen-Tochter Charlotte. Vielleicht tröstete ihn ein Stückchen Apfel­torte, bevor er sich zur überstürzten Abreise entschloss.

Eine erste Version des Textes erschien am 25. September 2018.