Karijn Kakebeeke
Abgeschoben! Ein Flüchtling aus dem Bilderbuch würde jetzt die Ärmel aufkrempeln und aufräumen in Afghanistan. So einer ist Sjafi nicht. Und in Holland war alles viel einfacher
07.10.2010

Die Welt ist in Ordnung in Ter Aar. Eine kleine Stadt, 9000 Einwohner, zum Arbeiten fahren die Leute morgens die 30 Kilometer nach Amsterdam und kommen abends zu ihren Familien zurück. Der Gemeindebrief teilt mit, dass die Tennisanlage rechtzeitig zum Frühjahr wieder hergestellt ist, und auf dem Feuerwehrabend bekam der Brandmeister für seine Verdienste einen Orden umgehängt. Im Historischen Museum sind zurzeit alte Fotos von Familien aus Ter Aar ausgestellt: Die Van der Hoorns, die Koelemans, die Sanders schauen ernst in die Kamera des Fotografen, selbstbewusste holländische Familien. Es ist die Welt, zu der Sjafi Naseri so gerne gehört hätte. Er und seine Frau Farima, seine Mutter, seine Schwester Sedegeh und seine vier Kinder Suria, Belal, Dina und Ali. Doch nach sechs Jahren in den Niederlanden ist die Familie nach Afghanistan zurückgeschickt worden. Nun sitzt sie in einem Land, das nicht mehr ihre Heimat ist.

Rückführung ist der offizielle Ausdruck dafür, Abschiebung ist das hässlichere Wort.

Rückführung ist der offizielle Ausdruck dafür, Abschiebung ist das hässlichere Wort. Die Naseris mussten ihre Koffer packen, weil ihre Aufenthaltserlaubnis in den Niederlanden nicht mehr verlängert wurde. "Uns blieb nichts anderes übrig", sagt Sjafi Naseri. Seit November sind sie wieder in Afghanistan. Und Sjafi sitzt herum.

Auch in Holland hat Sjafi kaum etwas anderes getan. Arbeiten war ihm aufgrund seines ungewissen Status als Flüchtling untersagt, das Nichtstun hingegen war erlaubt. Jetzt klafft eine sechsjährige Lücke in seinem beruflichen Lebenslauf. Vorher, vor der Flucht, hat er immer seinem Vater geholfen, der einen kleinen Laden in Kabul hatte, mehr hat er nicht getan, mehr schien auch nicht nötig. Die Jahre zwischen seinem 26. und 32. Lebensjahr, die Holland-Jahre, das sind die Jahre, wo andere Männer im Beruf schon lange ihren Mann stehen.

Für Sjafi sind diese Jahre verstrichen. Und jetzt sitzt er in einer Stadt, wo sie für einen, der nichts vorzuweisen hat, keinen Job haben. Weil hunderttausend andere in Kabul auch auf Arbeitssuche sind, in einer Stadt, die für 400 000 Menschen gebaut wurde und in der sich jetzt vier Millionen drängen. Vielleicht sind es auch fünf Millionen, keiner weiß das ganz genau. Die Flüchtlinge, die während der Kriegsjahre in die Nachbarländer Pakistan und Iran geflohen waren und längst wieder zurück sind ­ sie haben sich die Jobs, die da sind, gesichert. Sie kennen sich besser aus, sie haben Freunde, Kontakte, Vitamin B: "Ich kenne hier niemanden mehr", sagt Sjafi. Er lässt die Zeit vergehen. Mit Löcher-in-das-Nichts-Starren. Mit Grübeln, mit Zigaretten und Tee und manchmal mit Bier, aber das ist teuer in Kabul.

Seine Kinder hat er über Monate nicht zur Schule geschickt, er sagt, auf einer afghanischen Schule würden sie nichts lernen. Er hat die Schulen in Europa gesehen, hier in Kabul sind viele Schulen nichts als Zelte, es gibt keine Tische, keine Bücher. "Ich will überhaupt nicht, dass sie die afghanische Kultur annehmen. Sie sollen Deutsch, Französisch, Englisch lernen", sagt Sjafi. Außerdem hat er dauernd Angst um sie. Die Kinder dürfen nur im Hof spielen, aber nicht auf der Straße. In Europa haben ihm Landsleute von Kinderfängern erzählt, die durch die Armenviertel von Kabul fahren, um kleine Jungen und Mädchen zu kidnappen und sie als Diener in die Scheichtümer zu verkaufen. Manchmal würden Kinder auch entführt, um ihnen Organe zu entnehmen, die in Europa und den USA für teures Geld gehandelt werden, erzählt Sjafi. Ob das wirklich stimmt oder ob es nur Schauermärchen sind, weiß er nicht. "Mir ist nur wichtig, dass meine Kinder in Sicherheit leben können. Dass ihnen etwas passiert, ist meine größte Angst."

Sjafi solle seine beiden Töchter dem verfeindeten Clan überlassen, dann erst herrsche Ruhe.

Die Angst hat eine Geschichte. Es ist die Geschichte einer Fehde zwischen Sjafis Familie und einem anderen Clan, eine Fehde, wie sie viele afghanische Familien ihr Leben lang mit sich herumtragen. Diese Fehde zieht sich wie ein blutiger Faden seit Generationen durch das Leben der Naseris. Sjafi kann nicht mehr sagen, wie es angefangen hat, aber er wird den Tag nicht vergessen, als der gegnerische Clan seinen Vater umbrachte. Und vor allem weiß er den Preis, den die andere Familie für die Beendigung der Fehde verlangte: Sjafi solle seine beiden Töchter dem verfeindeten Clan überlassen, dann erst herrsche Ruhe.

Daraufhin hatte Sjafis Onkel entschieden: Die ganze Familie muss Afghanistan verlassen. Das ist jetzt acht Jahre her, die Angst ist geblieben. Sie ist Sjafi zur treuen Begleiterin geworden. Ohne sie tut er nichts mehr. Er weiß ja auch nicht, ob die feindliche Familie wieder auftaucht oder nicht.

Das Arbeiten im Haushalt überlässt er seiner Frau Farima, die sich von morgens bis abends abrackert. "Am Anfang habe ich jeden Abend geweint, es ist hier so viel Arbeit." Im armen Norden von Kabul, wo sie ein Haus gefunden haben, fällt oft der Strom aus, die Küche ist ein dunkles Loch, ob es einen Tag mal frisches Wasser gibt oder nicht ­ reine Glückssache. Und da ist noch Sjafis Mutter, sie ist arm und krank und braucht Medikamente. "Hier ist alles schwierig. In den Niederlanden war das Leben so viel einfacher", sagt Farima. Und mit Blick auf ihren Mann sagt sie noch: "Für Sjafi ist es vielleicht am schwierigsten. Er hat das Arbeiten nie richtig gelernt. Früher hat sein Vater immer alles getan."

"Die Burka ist ein Gefängnis"

Farima würde sich auch gern selbst auf die Suche nach einem Job machen, aber ihr Vater, der die ganze Zeit in Afghanistan geblieben war, hat es ihr verboten. Er hat gesagt, eine junge Frau wie sie gehöre ins Haus und nicht nach draußen auf die Straße. Die Nachbarn würden schon genug tuscheln über sie, "die aus dem reichen Europa gekommen sind". In den ersten Monaten nach der Rückkehr hatte ihr Vater ihr das Tragen der Burka verordnet, wenn sie mal zum Einkaufen nach draußen gegangen ist. Erst jetzt, vier Monate später, hat Farima die Erlaubnis erhalten, "nur" mit dem Kopftuch auf die Straße zu gehen. Der Tag, als sie die Burka ablegen durfte, war ihr erster Feiertag, seit sie wieder in Afghanistan ist: "Die Burka ist ein Gefängnis", sagt sie.

In Holland, da habe sie sich frei gefühlt, sagt Farima. Ihre Kinder gingen zur Schule, alle lernten, niederländisch zu sprechen. Ali, der Jüngste, ist in Holland zur Welt gekommen. Suria, die Älteste, war gerade einmal vier Jahre alt, als die Familie Afghanistan verlassen hatte, Belal, der erste Sohn, war zwei Jahre alt, Dina, die Dritte, ein kleines Baby. Die Erinnerungen der Kinder heißen Pindakaas, Beatrix, Ajax Amsterdam. Sie wissen nichts vom afghanischen Bürgerkrieg, von den Mudschaheddin, von Karzai und Zahir Shah, dem letzten König von Afghanistan. Sie wissen auch nichts von der Blutrache. Die feindliche Familie ist vor zwei Jahren in den Iran umgezogen, "aber immer wieder träume ich davon, dass sie zurückkommt und uns sucht", sagt Farima. Wenn Sjafi mal später nach Hause kommt, als er es angekündigt hat, stellt sie sich vor, man habe ihn umgebracht.

Drei Monate hatte die Flucht aus Afghanistan gedauert, auf See und über Land, versteckt zwischen Containern im Schiffsbauch, hinter Kisten auf der Ladefläche von Lastwagen. Die Kinder bekamen Schlaftabletten verabreicht, damit sie nicht Krach schlagen konnten, wenn es an den Grenzen zu Kontrollen kam. Ihr Haus in Kabul hatten sie verkauft, um die Schleuser bezahlen zu können, die die Flucht organisiert hatten. Sie hatten nur ein paar Dokumente dabei, ein paar Sachen zum Anziehen, alles andere blieb zurück.

"Wir hatten keine Ahnung, wohin man uns brachte"

Europa, Afrika, Amerika ­ "wir hatten keine Ahnung, wohin man uns brachte, es war mir auch egal". Irgendwann ging die Ladeklappe des LKWs auf, in dem sie sich versteckt hatten, und einer der Schleuser sagte: "Willkommen in Holland." Dann schickte er sie zur nächsten Polizeiwache und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Die Polizisten waren freundlich, die Naseris bekamen erst einmal etwas zu essen, im Auffanglager gab es eine Nikolausfeier für die Kinder, der Saal war vorweihnachtlich geschmückt. "Wir fühlten uns wie im Paradies", sagt Sjafi.

Ein Paradies mit vorläufiger Aufenthaltserlaubnis. "All die Jahre habe ich den Moment gefürchtet, wo es heißt, wir müssen zurück", sagt Sjafi. Vor den Kindern hielt er das geheim, "sie sollten sich keine Sorgen machen". Nach drei Jahren im Auffanglager bekamen sie die Wohnung in Ter Aar zugewiesen. Die Kinder begannen, Freundschaften zu schließen, Sjafi hatte irgendwann einen ehrenamtlichen Job in der öffentlichen Bibliothek und sortierte Bücher. Farima absolvierte in der Abendschule ihren Sprachkurs. Immer den Gedanken im Hinterkopf: Das kann irgendwann vorbei sein.

Irgendwann, das war im August vergangenen Jahres. Schule und Nachbarn machten sich für die Familie stark, die Naseris nahmen sich einen Anwalt, um gegen die Rückführung zu protestieren ­- alles erfolglos. Dem Anwalt haben sie ihre ganze Geschichte erzählt. Er hat dann gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Alles werde geregelt. Als es dann zur Verhandlung vor Gericht kam, hat der Anwalt kein Wort gesagt und nach dem Urteil nur die Achseln gezuckt. Er habe leider gar nichts machen können.

Helfen soll den Rückkehrern die IOM, die International Organization for Migration. Das ist eine offiziell unabhängige Organisation, aber gestützt und gefüttert von den westlichen Staaten. Timor Hakim hat selbst ein paar Jahre in Dänemark als afghanischer Flüchtling gelebt und ist aus freien Stücken nach Kabul zurückgegangen. Er ist einer von denen, die es geschafft haben, und das strahlt er auch aus. Wenn er erzählt, was die IOM alles so tut, mag man kaum glauben, dass es so jemanden wie Sjafi Naseri überhaupt gibt. Hakim zählt auf: Die Rückkehrer erhalten Geld, ihnen wird bei der Wohnungssuche geholfen, beim Aufbau einer Existenz. Sjafi Naseri hat davon nicht viel mitbekommen, obwohl er mindestens zehnmal das IOM-Büro aufgesucht hat. Dass die IOM eine Kooperation mit den zwei deutschen Schulen am Ort pflegt, um Rückkehrerkindern den Schulbesuch zu erleichtern, hat ihm dort niemand gesagt. Er hat es erst Monate später durch einen Zufall erfahren. Die Hilfe bei der Wohnungssuche beschränkt sich auf die ersten zwei Wochen nach der Rückkehr ­ "wenn sie dann nichts gefunden haben, können wir leider nichts mehr tun", sagt Hakims IOM-Kollege Mohammed Elias.

Tatsächlich bietet die IOM Unterstützung beim Aufbau einer Existenz. Die sieht dann so aus: "Wir bitten die Rückkehrer, zunächst den Markt zu sondieren. Dann sollen sie uns ein gutes Konzept vorstellen, und wir geben ihnen 1500 Dollar in Produkten als Hilfe", erklärt Hakim. Sjafi hat sich einen kleinen Laden aufreden lassen, wo er ein paar Putz- und Waschmittel und Süßigkeiten verkauft. Markt sondieren ­- mit solchen Vokabeln ist er überfordert. Der Laden läuft nicht, es gibt Abertausende dieser kleinen Geschäfte in Kabul, die das Gleiche verkaufen. Mohammed Elias hebt die Schultern: "Wir können auch keine Garantien geben, dass es funktioniert."

"Ich bin seit meiner Rückkehr jeden Tag hier gewesen und habe nach einem Job gefragt"

Stammtische von Rückkehrern, wo die Heimkehrer aus Europa ihre Erfahrungen austauschen könnten, bietet die IOM nicht an. Wie viele Flüchtlinge aus Europa zurückgekommen sind, seit die Taliban verjagt wurden? Er weiß es nicht genau. Manche der Afghanen aus Europa sind einmal im IOM-Büro aufgetaucht und dann nie wieder. Was aus ihnen geworden ist? "Wir haben keine Ahnung. Wahrscheinlich haben sie eine Arbeitsstelle gefunden", sagt Elias. Ein Afghane, der aus Deutschland zurückgekommen ist, sitzt auf dem Flur und wartet und sagt: "Ich bin seit meiner Rückkehr vor zwei Monaten jeden Tag hier gewesen und habe nach einem Job gefragt. Aber keiner kann mir hier helfen." Die Pressesprecherin der niederländischen Botschaft in Kabul sagt: "Die IOM tut sehr viel und unterstützt, wo sie nur kann."

Die Naseris leben zurzeit noch von dem Geld, das ihnen IOM und die niederländische Regierung gegeben haben, damit sie Holland wieder verlassen. Es ist bald aufgebraucht. Die Familie bekam das Geld am Amsterdamer Flughafen Schiphol ausgezahlt, bevor sie ihre Heimreise antrat, 1020 Euro für jeden Erwachsenen. In Kabul sind die Kinder erst einmal der Reihe nach krank geworden. Die europäischen Mägen waren kein afghanisches Essen mehr gewohnt, das unsaubere Wasser von Kabul, das stinkende Klo im Hof, die Haut juckt, vom Staub, der überall ist, kommt der Husten. Suria und Belal haben sich am Anfang geweigert, die Toilette zu benutzen. Als sie einen Bekannten besuchten, der eine Toilette mit Wasserspülung besitzt, hat der kleine Ali gefragt, ob er in der Toilette übernachten dürfe.

Dazu kommt der Regen, der die Straßen in eine Morastlandschaft verwandelt, das Verkehrschaos, der Krach, der Gestank, die schlechte Luft, der Müll. Belal hat gefragt: "Vater, warum nur hast du uns in dieses Land gebracht?" Sjafi ist nicht viel mehr eingefallen, als sich bei seinem achtjährigen Sohn zu entschuldigen.

"Jeder, der in dieses Land zurückkehrt, vermehrt nur die Armut"

"Jeder, der in dieses Land zurückkehrt, vermehrt nur die Armut", sagt einer, der weiß, wovon er spricht. Tom Koenigs, der Leiter der UN-Mission für Afghanistan, ist seit Februar in Amt und Land, aber "man muss nur ein paar Wochen hier sein, um zu wissen: Dieses Land ist zurzeit nicht aufnahmefähig." Doch der niederländische Ministerpräsident und seine forsche Ministerin für Integration, Rita Verdonk, stehen unangefochten zu ihrem Beschluss, mehr als 20 000 Flüchtlinge auszuweisen, die meisten davon sind Afghanen. In Deutschland ist der Hamburger CDU-Senat vorgeprescht mit seinem Plan, zunächst alleinstehende Männer und kinderlose Paare abzuschieben. Der Innensenator war im vorigen Jahr für einen viertägigen Blitzbesuch im Land und wusste danach: "In einem Großteil des Landes sorgen Bundeswehr und Polizei für Sicherheit. Die Flüchtlinge können in ihr Land zurückkehren."

Farima sagt: "Ich bin sehr böse auf die holländische Regierung. Ich habe sechs Jahre in diesem Land friedlich gelebt, meine Kinder und ich sind dort zur Schule gegangen. Ich habe all mein Geld, mein Haus für die Flucht hergegeben, um dort in Sicherheit sein zu können. Warum lassen sie uns überhaupt erst ins Land, wenn sie uns nachher wieder loswerden wollen?" Hätte sie das vorher gewusst, hätten sie versucht, woanders unterzukommen. "Das geht jetzt nicht mehr, es ist kein Geld mehr da."

Manchmal ist Farima überzeugt, "dass wir hier nie ein gutes Leben aufbauen können". Sjafi sitzt wie immer auf seinem Platz auf dem Boden im Zimmer, trinkt seinen Tee und sagt: "Was die Zukunft bringt? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht." Dann schwärmt er wieder von den Aldi-Märkten in Europa, wo man alles, was man zum Leben braucht, so billig bekommen kann. Einmal ist er in einem italienischen Restaurant eingeladen gewesen. Er sagt: "Wenn ich Pizza sehe, muss ich heulen."

Die Kinder haben in ihrem kleinen Zimmer, das sie sich zu viert teilen müssen, ein großes Poster aufgehängt. Das Bild zeigt ein riesiges Tulpenfeld. Wenn Besuch kommt, dann führt der kleine Ali die Leute ins Kinderzimmer, zeigt auf das Poster und sagt: "Das ist Holland." Einmal hat Ali vorgeschlagen, man solle in das Poster eine Tür machen, und dann könnte man durch die Tür direkt wieder nach Holland gelangen. Die Tür ist zu.