Lauftreff Freiberg
Mitlaufgelegenheit Freiberg. Freiberg, Sachsen, Deutschland, Europa am 01.07.2021FOTO: Charlotte Sattler
Charlotte Sattler
"Sie sehen, dass sie etwas wert sind"
In Freiberg in Sachsen setzen sich Läuferinnen und Läufer für Toleranz ein - nun wollen sie Obdachlosen in den USA helfen. Ein transatlantisches Doppelinterview
Tim Wegner
03.06.2022

In und um Freiberg herum gibt es super Laufstrecken. Warum möchte die Mitlaufgelegenheit ausgerechnet in L. A., also in Los Angeles laufen?

Stefan Benkert: Das Laufen steht bei dieser Reise nicht im Vordergrund. Es gibt in Los Angeles auch einen Marathon, und es war auch anfangs unser Ziel, dort als Gruppe mitzulaufen. Aber ein Marathon sortiert immer Leute aus. Man muss sich sehr lange vorbereiten, nicht alle haben die Zeit dafür. Wir haben über 30 Zusagen, es wollen auch Jugendliche mit, die noch keinen Marathon laufen dürfen. Und Bruni, unsere älteste Mitläuferin, ist 74 Jahre alt. Wir wollen niemanden ausschließen, haben aber natürlich unsere Laufsachen dabei und freuen uns auf gemeinsame Läufe mit dem Skid Row Running Club. Aber es geht vor allem darum, der Geschichte des Filmes "Skid Row Marathon" nachzuspüren und die Stadt besser zu verstehen.

Amanda Edwards/Getty Images

Gabriele Hayes

Gabriele Hayes ist Filmproduzentin mit einer besonderen Lebensgeschichte. 1985 lernte sie in Jena, damals DDR, den US-Amerikaner Mark Hayes kennen, der eigentlich nach Polen reisen wollte, aber in Jena strandete. Sie wurden ein Paar, über Ungarn gelang Gabriele Hayes 1989 die Ausreise in die USA, wo sie heute mit ihrem Mann Mark, einem Regisseur, lebt. Das Ehepaar Hayes hat die Dokumentation "Skid Row Marathon" gedreht, Mark führte Regie, Gabriele ist Produzentin.
Charlotte Sattler

Stefan Benkert

Stefan Benkert lebt in Freiberg und engagiert sich dort für die Mitlaufgelegenheit. Er hat bereits die Marathondistanz bewältigt und ist aktiv im Netzwerk "Freiberg für alle", das sich für Demokratie und Toleranz einsetzt und bereits mehrfach ausgezeichnet worden ist.
Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann würde gern mitreisen, bereitet sich aber im Oktober auf seinen ersten Marathon in Frankfurt vor.

Frau Hayes, Ihre Dokumentation heißt "Skid Row Marathon" und ist 2019 in den USA in die Kinos gekommen. Wie kam es zu diesem Film?

Gabi Hayes: Ich bin in der DDR aufgewachsen, in Jena. Laufen war damals Freiheit für mich. Ich laufe bis heute. Mein Mann Mark Hayes ist US-Amerikaner, mit ihm ging ich nach L. A. Es hat mich immer sehr beschäftigt, wie viele obdachlose Menschen hier leben, in Zelten, in Kartons. Obdachlosigkeit ist eines der größten Probleme der USA. Allein in L. A. County gibt es 66.000 Menschen, die kein festes Zuhause haben. In der Zeitung las ich einen Bericht über Richter Craig Mitchell, der – angedockt an die Midnight Mission – auf der Skid Row, einem Kriminalitätsschwerpunkt in L. A., einen Laufklub gegründet hatte. Und zwar für Menschen, die große Probleme haben – ehemalige Strafgefangene, vorbestrafte Kriminelle, Drogenabhängige. Wir haben ihm geschrieben und gefragt, ob er sich eine Dokumentation vorstellen kann. Er sagte: "Ja, aber die Leute, die mit mir rennen, sind kamerascheu." Wir sind für fünf, sechs Wochen nur mitgelaufen und haben erst danach die Kameras mitgebracht – und das auch nicht jedes Mal. Das war 2013, damals kamen fünf bis zehn Leute zu den Läufen, heute gehören Hunderte dem Laufklub an. Die Dreharbeiten haben viereinhalb Jahre gedauert. Man kann bei einem Dokumentarfilm die Story nicht erzwingen. Sie kommt so, wie sie ist, und das dauert.

In den USA und auf internationalen Filmfestivals haben Sie mehr als 20 renommierte Preise gewonnen, in Deutschland blieb der Film dagegen eher unbeachtet. Aber wie kam er dann nach Freiberg?

Stefan Benkert: Wir waren 2019 mit einer großen Gruppe zum Halbmarathon nach Berlin gefahren. Am Abend vor dem Lauf wollten wir in der Jugendherberge gemeinsam einen Film zum Thema Laufen schauen – und haben nichts gefunden. Wir sind aber drangeblieben und dachten: Machen wir eben einen Filmabend in Freiberg, wenn wir wieder zu Hause sind. Auf "Skid Row Marathon" sind wir zufällig gestoßen. In der Stadtwirtschaft, einer Gaststätte, haben wir ihn über einen Beamer an die Wand gestreamt. Nach dem Film waren alle baff. Wir hatten gedacht, wir gucken uns irgendeinen Sportfilm an – und dann wurde daraus so eine bewegende Erfahrung. In derselben Nacht haben wir Gabi geschrieben, wie fasziniert wir waren. Von unserer gemeinsamen ostdeutschen Geschichte wussten wir damals noch nichts. Wir blieben in Kontakt, und als Gabi und Mark 2020 in Deutschland waren, kamen sie nach Freiberg. Wir haben einen Kinochef überredet, einen Filmabend zu organisieren. Er sagte anfangs: "Ich mache viel mit, aber ich muss wirtschaftlich denken. Da kommt kein Mensch ins Kino." Trotzdem konnten wir ihn überreden. Der Saal war voll. Läufer, Sozialarbeiterinnen, Pädagogen, Frau Tempel als Vorstand der Diakonie hier in Freiberg, Mitglieder aus Kirchengemeinden – es war ein breites Publikum. Und nach dem Abspann sind die Leute sehr gerührt, überwältigt.

"Laufen bringt Menschen miteinander in einen Austausch, der allen guttut"

Im Film geht es darum, wie Menschen durchs Laufen zurück ins Leben finden, neuen Mut schöpfen. Aber Ex-Häftlinge wird man in Ihrer Mitlaufgelegenheit in Freiberg ja so nicht finden …

Stefan Benkert: Nein, das nicht, aber wir alle haben ja auch unseren persönlichen Rucksack zu tragen. Jeder Mensch hat so seine Probleme, und auch wir merken: Laufen hilft, es bringt Menschen miteinander in einen Austausch, der allen guttut. Wir sind mehr als eine Laufgruppe, wir sind bunt gemischt, international, alle möglichen Berufe sind vertreten, Alt und Jung. Es ist ein Wunder, dass wir Gabi und ihren Film kennengelernt haben. Dass wir Freunde geworden sind und sie im Oktober sogar in Los Angeles besuchen, wäre ja ohne ihre DDR-Vergangenheit nicht möglich gewesen.

Was bedeutet den Menschen auf der Skid Row das Laufen?

Gabi Hayes: Die Skid-Row-Läufer hatten keine Erfahrung mit dem Marathonlaufen. Ben, einer der Protagonisten in unserem Film, wog 180, 190 Kilo. Aber die Disziplin des Laufens bringt sie weiter. Sie haben Termine, zwei Mal die Woche morgens um sechs Uhr vier Meilen, das sind etwa sechseinhalb Kilometer. Und am Wochenende zehn oder 15 Meilen, das sind 16 Kilometer und mehr. Wenn sie laufen, lernen sie andere Menschen kennen. Diese Menschen haben eine große Gemeinsamkeit. Sie stammen aus zerrütteten Familien. Im "Skid Row Running Club" spüren sie, dass sie etwas wert und mehr als die Straftaten sind, die sie begangen haben. Sie sehen, dass auch nach der dritten, vierten Chance jemand an sie glaubt. Sie können etwas erreichen! Es gibt natürlich keine Garantie, nicht alle schaffen es, einige werden trotzdem rückfällig.

Was wäre der Lauftreff ohne den Richter, ohne Craig Mitchell?

Gabi Hayes: Der Richter spielt die wichtigste Rolle, ohne ihn würde es das alles nicht geben. Viele bitten ihn um Rat. Sie waren im Knast, und er weiß, was das bedeutet. Er hilft bei der Jobsuche, hat ein offenes Ohr und wenn jemand eine Weile nicht zum Laufen kommt, ruft er an.

Und welche Rolle spielt die Laufgruppe für ihn?

Gabi Hayes: Es ist ein Ausgleich, er hat gewisse Schuldgefühle, dass er Menschen zu teilweise extrem hohen Haftstrafen verurteilen muss. Indem er mit Menschen läuft, die im Abseits stehen, indem er an sie glaubt, sie fördert, hat er verhindert, dass sie Straftaten begehen oder wieder Drogen nehmen. Ich bin sicher, dass er manch einen der Läufer hätte verurteilen müssen, mit dem er irgendwo auf der Welt einen Marathon gelaufen ist. An einem internationalen Marathon teilzunehmen, ist einmalig – das verändert Menschen.

"Wenn irgendwo Hilfe gebraucht wird, auf uns ist Verlass"

Welche Pläne hat die Mitlaufgelegenheit in L. A. im Oktober?

Stefan Benkert: Wir bleiben neun Tage. Wir möchten natürlich den Richter und seine Gruppe kennenlernen, uns das Umfeld anschauen, etwas über die Probleme dort erfahren. Wir wollen in der Obdachlosenhilfe helfen, in der "Midnight Mission", der Mitternachtsmission. Und natürlich laufen. Für viele wird es die erste Reise in die USA sein.

Gabi Hayes: Ihr müsst früh aufstehen, wir treffen uns um 5.45 und laufen um sechs Uhr los.

Stefan Benkert: Schaffen wir!

Für die Reise bittet die Mitlaufgelegenheit Freiberg um Unterstützung. Worum geht es genau?

Stefan Benkert: Wir haben in Deutschland schon an vielen Läufen teilgenommen, Läufe für soziale Zwecke organisiert, Freundschaften geschlossen, selbst als Helfer agiert und viel erlebt. Wenn irgendwo Hilfe gebraucht wird - auf die Mitlaufgelegenheit ist Verlass. Der Spreewald, Leipzig, Dresden, Läufe und Wettkämpfe hier im Landkreis Mittelsachsen, die Skatstadt Altenburg waren Ziele. An vielen dieser Orte kennt man uns inzwischen und freut sich aufs Wiedersehen. Alles wunderbare Momente und Erinnerungen. Wir waren inzwischen auch schon drei Mal für mehrere Tage unterwegs. Mit knapp 50 Läuferinnen und Läufern beim Lübeck-Marathon, zum großen Halbmarathon in Berlin und jetzt erst kürzlich im wunderschönen Spreewald. Wir waren mit unseren Shirts nicht zu übersehen. Jeder, der will, soll mitkommen können! Es soll nicht am Geld scheitern und jeder soll sich fair an den Kosten beteiligen.

"Wir suchen Sponsoren!"

Aber L. A. ist nicht Lübeck oder der Spreewald ...

Stefan Benkert: Ja, wir sprechen hier über andere Summen und das macht es zu einer noch größeren Herausforderung. Momentan fehlen uns noch etwa 8000 bis 9000 Euro, damit die Rechnung aufgeht. Also suchen wir Sponsoren und haben uns dazu viele Gedanken gemacht: Wer möchte Teil der Geschichte sein? Wer möchte sogar selbst dabei sein und mit uns die Skid Row erleben und Richter Craig Mitchell persönlich kennenlernen? Wer möchte für einen der Jugendlichen eine Patenschaft übernehmen und einen Teil der Reisekosten tragen? Wer möchte mit seinem Logo auf unsere Shirts, die wir für die Reise neu designen und als Gastgeschenk mit nach L. A. nehmen? Wer möchte so ein Shirt zum Solipreis kaufen? Wer möchte uns einfach so unterstützen und sich dann über eine Postkarte aus L. A. und die Beiträge nach der Reise mit uns und für uns freuen, inklusive Foto- und Videomaterial? Alles ist denkbar, wir sind für jede Idee offen! Wir versprechen, dass wir als Botschafter aus L. A. zurückkommen und gern davon bei Vorträgen oder in den Medien darüber berichten.

Wer fliegt, stößt ja leider viel Kohlendioxid aus. Gibt es Gedankenspiele, die Emissionen zu kompensieren?

Stefan Benkert: Das war, ehrlich gesagt, noch kein Thema. Aber wir von der Mitlaufgelegenheiten gehören hier vor Ort zu den Umweltbewussten, sammeln oft genug unterwegs Müll aus der Landschaft. Klar, eine Kompensation ist eine gute Idee – auch dafür sind natürlich Sponsoren willkommen!

Spendeninfo

Sponsoren sind willkommen! So können Sie die Reise der Läuferinnen und Läufer unterstützen:

Die evangelische Kirchgemeinde Petri-Johannis Freiberg hilft der Mitlaufgelegenheit dabei, Spenden zu sammeln - und stellt eine Bankverbindung zur Verfügung. Über den Verwendungszweck RT 1303 SAS Freiberg für alle MLG werden Ihre Spenden der Mitlaufgelegenheit zugeordnet. Die Bankverbindung ist:

Kassenverwaltung Pirna
IBAN: DE86 3506 0190 1617 2090 35
BIC: GENODED1DKD
Verwendungszweck: RT 1303 SAS Freiberg für alle MLG

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