Sie ist nicht mehr da. Er ist allein
Sie ist nicht mehr da. Er ist allein
Anne-Sophie Stoltz
Sie ist nicht mehr da. Er ist allein
Seine Frau liegt im Heim. Unansprechbar. Darf er sich neu verlieben? Seine Tochter findet: Ja.
27.08.2020

Patrick Braun, 37:

Manchmal wünsche ich mir, ich wäre am 4. Februar 2017 nachts nicht aufgewacht. In dieser Nacht erlitt ­meine Frau Sonja eine Hirnblutung. Ein ­Aneurysma war geplatzt. Ich weiß nicht, was mich geweckt hat. Ich rettete ihr das Leben oder vielmehr das, was davon übrig ist. Sonja konnte nicht mehr sprechen, sich nicht mehr selbst waschen, ihre Bewegungen waren spastisch. Sie musste ins Altersheim, weil es woanders keinen Platz für sie gab und ein 24-Stunden-Pflegedienst zu teuer war. Ich war 34 und plötzlich alleine mit drei Kindern. Ich hatte Angst.

Die Ärzte sagten, ich solle das Beste hoffen und das Schlimmste erwarten. Also hoffte ich, dass Sonja schnell Fortschritte macht. Ich wollte sie wieder nach Hause ­holen. Doch die erste Reha brachte keine Besserung. Bekannte meinten, ich müsse loslassen. Aber ich liebte Sonja doch! Seit siebzehn Jahren waren wir ein Paar. Ein Leben ohne sie – undenkbar. Also kämpfte ich für sie, für uns.

Ich brachte ihre Parfüms von früher mit

Jeden Tag besuchte ich sie im Heim. Dann erzählte ich von den Kindern, übernahm die Pflege, fuhr sie im Rollstuhl spazieren. Sie schaute mich an, fast starrte sie, so als wäre ich ihr Mittelpunkt, als freute sie sich, mich zu sehen. Ich brachte ihr Shampoos und Parfüms von früher mit, damit sie sich noch ein Stück weit wie die Frau fühlen konnte, die sie mal war. Und ich beantragte eine zweite Reha.

Ich musste nun die Miete mit nur einem Gehalt stemmen, musste Medikamente, Physiotherapie sowie einen Teil der medizinischen Ausstattung für Sonja zahlen. ­Ohne meinen Vater säße ich heute in der Schuldenfalle. Arbeitete ich, betreute er meinen damals neunjährigen Sohn. Meine Töchter waren zum Glück schon 16 und 18 Jahre alt. Und er half mir mit Geld. Er übernahm die ­Rolle, die ich vom Staat erwartet hätte – denn eine unbüro­kratische, schnelle Entlastung bei medizinischen Sonderausgaben oder Miete gibt es nicht.

Meine Liebe konnte sie nicht erwidern

Nach der zweiten Reha entfernten die Ärzte Sonja die Atemkanüle, sie konnte wieder schlucken und schmecken. Trank sie einen Latte Macchiato, entspannte sich ihr Gesicht vor Genuss. Sprechen konnte sie immer noch nicht. Lange dachte ich, sie könne Ja- oder Nein-Fragen mit dem Heben ihres rechten oder linken Armes beantworten. Dann fand ich heraus, dass sie auf einfache Fragen falsch reagierte. Meine Liebe konnte sie nicht erwidern. Früher haben wir Sorgen, aber auch schöne Momente geteilt. Jetzt kamen mir abends oft die Tränen: Meine Frau ist nicht da. Sie ist behindert. Sie wird immer behindert sein. Ich bin alleine.

Einmal sagte meine mittlere Tochter zu mir: "Papa, es wäre bestimmt nicht in Mamas Sinn, wenn du dein Leben alleine verbringst." Sie glaubte, es würde mir guttun, wenn ich eine Freundin hätte. Darüber hatte ich nie nachgedacht, ich hoffte doch immer, dass wir wieder ­eine Familie sein können: Sonja, ich und die Kinder. Doch seit vergangenem Sommer schließt sie die Augen, wenn ich bei ihr bin und den Fernseher ausschalte. Ist ihr die ­Glotze etwa wichtiger? Bin ich ihr zu viel? Oder hat meine ­Tochter vielleicht recht, und Sonja will mir so mitteilen, dass es in Ordnung ist loszulassen?

Doch dann verliebte ich mich

Immer öfter fragte ich mich, wie es wohl wäre, eine neue Partnerin zu haben. Die antwortet, wenn ich mit ihr spreche. Ich wusste aber auch, dass mein Vater dann ­sagen würde: Sonja liegt im Altersheim, und du lebst dein Leben – hältst du das für richtig? Er glaubte, ich würde damit mein Eheversprechen brechen. Seine Hilfe war mir wichtiger als mein Glück. Doch dann verliebte ich mich.

An Silvester hat es zwischen mir und einer Freundin gefunkt. Mit ihr konnte ich spazieren gehen, Schlitten ­fahren, meine Ängste und Sorgen teilen. Ich fühlte mich befreit. Und das Wichtigste: Die Kinder mochten sie. Sonja besuchte ich nun nur noch dreimal die Woche. Trotzdem wollte ich eine weitere Reha für sie erwirken. Würde ich es nicht tun, ich hätte ein schlechtes Gewissen.

Ich wollte endlich auch meinem Vater von meiner Freundin erzählen. Aber dann kriselte es zwischen uns. Vielleicht habe ich zu häufig von mir erzählt, anstatt zuzuhören? Es war so schön, jemanden zum Reden zu ­haben. Keine Ahnung, ob ich wieder jemanden finde, der es akzeptiert, dass ich eine pflegebedürftige Frau habe. Ich wünsche es mir.

Protokoll: Sarah Bioly

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Sehr geehrte Redaktion,
das „sehr geehrte“ ist keine übliche Floskel eines formalen Schreibens sondern von mir tief empfunden.
Ohne selbst eine Verbindung zu irgend einer Konfession zu empfinden ist Ihr Magazin für mich eine Quelle für Nachdenklichkeit und tiefe Gedanken und Gefühle.
Ich möchte mich bei Ihnen Bedanken und würde mich freuen, wenn Sie diesen Weg mit diesen Themen weitergehen. Speziell die Geschichten über Patrick Braun und Lilit Martirosyan haben mich sehr berührt.
Vielen Dank und herzliche Grüße aus Hamburg
Thomas Albrecht