Anfänge - Das Kind ist wieder da
Anfänge - Das Kind ist wieder da
Sebastian Arlt
Das Kind ist wieder da!
Sie war 16, als ihr Baby auf die Welt kam. Es kam in eine Pflegefamilie. Drei Jahre lang.
Privat
Sebastian Arlt
24.06.2020

Juliane, 19*

Wir hatten alles so schön vorbereitet mit Luftballons und einem bunt bemalten Schild "Herzlich willkommen zu ­Hause". Ich werde den Moment nie vergessen, als das Jugendamt meine Tochter Antonia zu mir zurückbrachte. Sie war mir weg­genommen und in eine Pflegefamilie gesteckt worden, als sie sieben Monate alt war. Rund drei Jahre durfte sie nicht mit mir leben, das war schrecklich.

Ich war 16, als sie geboren wurde, ein Wunschkind. Ich hatte so viel Liebe in mir, genug für eine ganze Familie. Ich war mir sicher, dass das klappt. Aber dann ging alles schief.

Ich hatte als Kind viel Gewalt erlebt. Mein Stiefvater ging meiner Mutter an die Gurgel, da bin ich dann mit meinen drei Jahren dazwischen. Meine Mutter war suizid­gefährdet, wie ich später erfuhr. Ich war dann einige Jahre im Heim. Ich wollte nie, dass Antonia so leben muss.

Und ich wollte ihr auch nie den Vater wegnehmen, deshalb schluckte ich dessen Gewaltausbrüche lange Zeit runter. Dabei hatte er sich anfangs gefreut, als ich schwanger war. Doch als Antonia auf der Welt war, wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Gegen mich ist er immer gewalt­tätiger geworden. Als er dann Antonia einmal ­brutal und hysterisch schreiend gepackt und an den Armen hoch­gerissen hatte, bin ich zum Jugendamt. Wir kamen in ein Mutter-Kind-Heim. Dort weinte ich fast nur noch. Um ­Antonia habe ich mich schon gekümmert, aber ich war in einem schrecklichen Zustand.

Ich bin einfach ausgetickt

So war die Situation, als das Jugendamt mir mein Kind wegnahm. Fünf Minuten vorher hat mich eine Betreuerin vom Mutter-Kind-Heim in ein anderes Zimmer geholt, um mir das zu sagen. Dabei hatte sie das laut Jugendamt schon eine Woche früher tun sollen, damit ich mich darauf einstellen konnte. Ich wollte rüber zu Antonia, auf dem Gang haben sie mich festgehalten. Ich bin einfach ausgetickt, habe geschrien, geheult, jeden Einzelnen übelst beleidigt. Ich konnte sehen, wie sie Antonias Sachen in Müllbeutel gestopft haben – weg waren sie.

Ich kauerte auf dem Boden, es war die Hölle. Und dann hieß es, ich muss innerhalb einer Stunde ausziehen. Ich bin erst einmal bei meinem leiblichen Vater untergeschlupft. Ich habe damals einfach keinen Sinn mehr gesehen, mein Kind war weg. Ich habe meine Kleine so vermisst, das Kuscheln, Füttern, ja sogar ihr Schreien.

Irgendwann ist mir klargeworden, dass es so nicht mehr weitergehen durfte. Da habe ich Tommy angerufen, meinen besten Freund. Ich hatte sehr viel Bier getrunken. Wir trafen uns auf einer kleinen Bank vor einer Kirche, er hat mir erst einmal den Alkohol weggenommen. Tagelang redeten wir über meinen Ex, mit dem Tommy mal befreundet war, und darüber, was ich jetzt machen könne. Tommy, er ist einige Jahre älter als ich, war einfach da, er hat zugehört und immer wieder gesagt: "Du schaffst das schon."

Es lohnt sich zu kämpfen

Nach vier Wochen hatte ich einen Therapeuten ge­funden, nach ein paar Monaten ging es mir schon besser, auch wenn ich mich immer mal wieder mutlos fühlte. Aber ich sagte mir immer: Ich habe ein Ziel. Ich will mit meiner Tochter leben und sehen dürfen, wie sie groß wird. Anfangs konnte ich Antonia nur einmal die Woche im Jugendamt im Beisein einer Mitarbeiterin sehen. Später durfte ich allein mit ihr sein. Die Bindung zu ihr ist nie abgerissen, Tommy war oft dabei. Heute weiß ich, wie sehr es sich lohnt, zu kämpfen.

Tommy und ich haben geheiratet und einen kleinen Jungen bekommen. Mein Mann hat eine gute Stelle als Handwerksmeister, und ich gehe ab September zur Volkshochschule, um einen qualifizierten Hauptschulabschluss nachzumachen. Danach möchte ich eine Ausbildung zur Altenpflegerin beginnen, in Teilzeit. Das dauert zwar ein Jahr länger, aber ich kümmere mich ja noch um die ­Kinder. Der Sorgerechtsstreit mit Antonias Vater belastete mich sehr, es war manchmal eine Zerreißprobe für unsere Beziehung – aber sie ist dadurch noch fester geworden.

Antonia hat sich gleich bei uns zu Hause gefühlt. Die beiden Kinder sind normale Geschwister, die sich streiten und lieben. Antonia weiß, wer ihr richtiger Vater ist, und dennoch sagt sie zu Tommy "Papa". Ich habe keine Angst mehr, und meine Familie macht mich glücklich.

Protokoll: Beate Blaha

* Alle Namen von der Redaktion geändert geändert

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In dem o.g. Artikel bin ich auf einen Ausdruck der leiblichen Mutter gestoßen, mit dem ich als Adoptivmutter eines Sohnes häufig zu tun habe: „Antonia weiß, wer ihr richtiger Vater ist,...“ Ich erkläre meinem Sohn immer, dass es keine „richtigen“ oder „falschen Eltern“ gibt. Wichtig ist, dass Kinder Eltern haben, die sich liebevoll um sie kümmern. Das können leibliche -, Pflege- oder Adoptiveltern oder -Elternteile sein. Manchmal sind das sogar beide, sodass manche Kinder zwei Mütter/Väter haben.