Sagen Sie auf einer Party, dass Sie Jesus sind?
Frederik Mayet: Auf keinen Fall. Aber meistens verraten es die Freunde. Letzte Woche war ich mit meiner Familie auf einer Hütte, und mein Sohn sagte, dass der Papa den Jesus spielt. Dann ging’s los, jeder wollte ein Foto. Mir ist das eher unangenehm.
Rochus Rückel: Wenn man sagt, dass man aus Oberammergau kommt und bei den Passionsspielen mitmacht, fragt aber jeder sofort: Spielst du den Jesus? Wenn ich dann Ja sage, fragen alle: na, wirklich?!
Frederik Mayet
Rochus Rückel
Mayet: Vor zehn Jahren ist mir auf einer Werbetour in den USA passiert, dass mich so fromme Leute fast gesegnet hätten und mir dankten und sagten: Gott hat einen Plan mit dir, schon bevor du geboren wurdest, das ist kein Zufall, dass du den Jesus spielst. Das ging mir echt zu weit.
Ist Jesus sympathisch?
Rückel: Auf jeden Fall. Er ist ein Störenfried im positiven Sinne. Einer, der viel Verständnis hat, andere mit Respekt behandelt und den Nächsten wirklich liebt.
Herr Rückel, vor zehn Jahren waren Sie14 Jahre alt. Was für ein Bild hatten Sie damals von Jesus?
Rückel: Mein Jesus warst immer du, Fredi! Ein weiser Jesus.
Frederik Mayet: Ich bin vom Naturell nicht brachial. Mein Jesus ist eher einer, der mit Vollmacht spricht. Die Leute merken, dass der was zu sagen hat, ohne dass er laut wird.
Rückel: Er hat aber auch eine harte Seite und kann Kante zeigen, wenn es nicht so läuft, wie er will. Zum Beispiel, wenn er die Händler aus dem Tempel wirft.
Was wollte Jesus?
Mayet: Nächstenliebe, Gerechtigkeit. Da sind die Seligpreisungen in der Bergpredigt ganz wichtig. "Selig seid ihr Armen", steht im Lukasevangelium, "denn das Reich Gottes ist euer." "Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden." Aber nicht erst später, Jesus wollte jetzt und hier was verändern. Das ist total politisch und hochaktuell.
"Alle wollen Macht. Aber das braucht man nicht"
Rückel: Alle wollen super Jobs, viel Geld, Macht. Aber das braucht man nicht, um ein gutes Leben zu führen. Das hat mir der Jesus schon gezeigt.
Mayet: "Ihr sehnt euch nach den Schätzen der Erde, die von Motten und Rost zerfressen werden", steht in der Bibel. Aber geht’s im Leben um das Materielle? Geht’s nicht vielmehr um das Miteinander? Dass man gute Beziehungen hat zu seiner Familie, seinen Freunden. Was ist genug für den Einzelnen? Wie geht man mit Ressourcen um, mit der Schöpfung? Jesus hat so viele Sätze gesagt, die auch nach 2000 Jahren Bedeutung haben.
Herr Mayet, Sie spielen den Jesus zum zweiten Mal. Können Sie den Schalter umlegen, und der Jesus in Ihnen ist wieder da?
Mayet: In den zehn Jahren ist ja viel passiert in der Welt und bei mir persönlich. Ich habe geheiratet und zwei Kinder bekommen. Ich habe jetzt viel mehr Verantwortung, da geht man an die Rolle anders ran, und der Blick auf die Geschichten ändert sich.
"Wie war Jesus als Kind? Anstrengend?"
Ein Beispiel?
Mayet: Wir und die anderen Hauptdarsteller waren im September zur Vorbereitung mit Christian Stückl eine Woche in Israel, haben viel in der Bibel gelesen und diskutiert. Das haben wir auch vor zehn Jahren so gemacht. Diesmal habe ich Nazareth ganz anders wahrgenommen. Dort ist Jesus aufgewachsen. Mein Sohn ist gerade fünf, und ich habe versucht, mir vorzustellen, wie Jesus als Kind war. Anstrengend? Hat der schon als Kind gescheit dahergeredet? Leider weiß man sehr wenig darüber.
Rückel: Israel war total cool. Jerusalem war wirklich beeindruckend, die drei Religionen, die Militärpräsenz, wie es im Souk zugeht, wie sich die verschiedenen christlichen Konfessionen die Grabeskirche aufteilen. Der See Genezareth war wie im Bilderbuch.
Wie ist das, wenn man die Via Dolorosa hochgeht und denkt: In einem halben Jahr muss ich das Kreuz auf der Bühne schleppen?
Rückel: Na ja, wir haben so viele Kirchen und historische Ort besucht! In der ersten Kirche war ich noch voll andächtig, hab eine Kerze angezündet, aber bei der zehnten war ich ein bisschen übersättigt und habe nicht mehr besonders drüber nachgedacht.
Mayet: So ging es mir mit der Grabeskirche. Die ist so voll und überladen, da kann man kaum glauben, dass darunter die Schädelstätte Golgatha sein soll. Aber wenn man am See Genezareth sitzt, kann man sich gut vorstellen, dass Jesus den gleichen Blick übers Wasser hatte.
"Dann hat's ihm gereicht mit den Wundern"
Ist Ihnen der Jesus nähergekommen, seitdem Sie sich intensiv mit ihm beschäftigen?
Rückel: Am Anfang dachte ich, dass ich schon viel verstanden habe. Aber dann haben sich mir so viele Fragen aufgetan, dass ich das Gefühl hatte, mitten im Wald zu stehen vor lauter Fragen. Zum Beispiel, warum hat er Wunder getan? Wie soll man das verstehen?
Mayet: Anscheinend hat er am Anfang Wunder gebraucht, um wahrgenommen zu werden. Später hat er ja klar gesagt, dass es ihm jetzt reicht mit den Wundern.
Rückel: Ich verstehe das alles sinnbildlich. Zum Beispiel, wenn er über’s Wasser läuft. Er sagt zu Petrus: Du kannst auch über Wasser laufen, musst mich nur im Blick behalten. Petrus probiert’s, schaut weg und fällt hinein. Damit ist gemeint: Schaut auf mich und geht so durchs Leben, dann wird es euch gut gehen.
"Wir sind alle Kinder Gottes"
Im Weihnachtslied "Es ist ein Ros entsprungen" singen wir "Wahr’ Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod". Wie spielt man das Göttliche?
Mayet: Wie soll man das verstehen mit dem Gottessohn? Auch darüber haben wir in Israel lange diskutiert. Man kann es so verstehen, dass wir alle Kinder Gottes sind. Und Jesus fühlte sich zu hundert Prozent in Gott aufgehoben. Aber am Ölberg hat auch er seine Zweifel und Ängste und schwitzt Blut und Wasser. Wir haben mal den Text vom Passionsspiel 1970 rausgesucht. Der Jesus von damals sagte zu seinen Aposteln, wenn sie ihn was gefragt haben: "Das versteht ihr jetzt nicht, das werdet ihr später einmal verstehen." Da schwebte er noch sehr über allem. Heute wollen wir einen Jesus zeigen, der für die Verbesserung der Welt kämpft, der seine Schwächen hat und nicht abhebt nach dem Motto "Ich bin eh schon heiliggesprochen".
Rückel: Es gibt für mich nichts, von dem ich sagen könnte: Das ist göttlich.
Wie stellen Sie sich Jesus äußerlich vor?
Rückel: Na, so wie den Fredi!
Mayet: Dabei hat er wahrscheinlich eher wie der Rochus ausgesehen: mit dunklen Locken, wie Menschen im Nahen Osten. Ich hab mal ganz frühe Darstellungen gesehen. Da hatte er kurze Haare und keinen Bart. Es gibt so viele Schichten an Jesus-Darstellungen und Interpretationen. Die muss man alle wegschaufeln, wenn man zu dem Urchristentum kommen will.
Rückel: Mein Religionslehrer in der Schule sagte: Das ist doch ein totaler Schmarrn, was die Passionsspiele da machen, dass die sich alle Bärte wachsen lassen. Die haben sich vor 2000 Jahren den Bart abgeschnitten, damit sich kein Ungeziefer reinsetzt.
"Dem Jesus war nichts Menschliches fremd"
Ist Jesus ein lebenslustiger Typ?
Rückel: Der hat bestimmt mit seinen Jüngern Witze gerissen und auch Alkohol getrunken.
Mayet: Sein erstes Wunder war, Wasser in Wein zu wandeln. Der war bestimmt kein Kostverächter! Der ist dahin gegangen, wo das Leben war, auch zu denen am Rand der Gesellschaft, zu den Söldnern und Huren. Dem war nichts Menschliches fremd, und der hatte bestimmt seinen Spaß. Man muss ihn so spielen, dass später ein Bruch hineinkommt, wenn das Leiden beginnt. Ihn von Anfang an als Leidenden zu spielen, ist total langweilig.
"Danach muss man sofort unter die heiße Dusche"
Wie fühlt man sich am Kreuz?
Rückel: Ich war da bis jetzt nur einmal oben, um Maß zu nehmen, damit die Fußstütze genau passt. Das ist Millimeterarbeit. Ich habe großen Respekt davor.
Mayet: Das ist ein ganz intensiver Moment und ein sehr merkwürdiges Gefühl, so nackt und ausgesetzt zwanzig Minuten lang vor dem Publikum zu hängen. Die ersten Minuten versucht man, einen Todeskampf zu spielen, dann kommen die letzten Sätze, aber dann hängt man da noch weiter und darf sich nicht mehr rühren. Da versucht man, fast meditativ in sich zu gehen, ruhig zu werden, einen flachen Atem zu bekommen, damit man tot wirkt. Das ist auch körperlich sehr anstrengend. Natürlich arbeiten wir mit Theaterblut und Theaternägeln, aber man kriegt doch einen kleinen Eindruck, wie brutal das gewesen sein muss.
Rückel: Du hast erzählt, dass die Zuschauer beim Kreuzigen so entsetzt sind.
Mayet: Die sind oft total mitgenommen, weinen, obwohl ja jeder weiß, dass Jesus am Kreuz endet.
Rückel: Fredi, hat’s bei dir eigentlich mal geschneit am Kreuz?
Mayet: Als Jesus nicht. Aber 2000 war ich der Lieblingsjünger Johannes, der unterm Kreuz sitzt, da hat es geschneit. Danach muss man sofort unter die heiße Dusche.
"Am Kreuz sollte einem nie der Arm aus der Schlinge rutschen"
Herr Mayet, ich habe gelesen, dass Sie am Ende der Passionsspiele vor zehn Jahren völlig erschöpft waren. Was raten Sie Rochus Rückel, damit das nicht passiert?
Mayet: Ja, ich war ziemlich fertig nach den 51 Aufführungen. Ich hab mir danach nicht mal eine Auszeit gegönnt. Das war falsch. Ich habe gelernt, dass man auf sich und seine Kräfte hören muss, man darf sich nicht völlig verausgaben.
Rückel: Das ist bestimmt nicht einfach. Wenn ich weiß, dass ich am Abend auf der Bühne stehe, rattert es in meinem Kopf den ganzen Tag. Vielleicht wird es so nach der zwanzigsten Aufführung entspannter?
Mayet: Auf der Premiere lastet ein wahnsinniger Druck, 2010 wurde ich nach der zehnten Aufführung lockerer, man gewinnt schon eine Sicherheit, aber in dieser Rolle kriegt man nie Routine. Da sitzen 5000 Zuschauer, die kommen aus der ganzen Welt, da hast du eine riesige Verantwortung und willst es möglichst gut machen. Da trinkst du abends höchstens ein Bier.
Welcher Lapsus sollte einem nicht passieren?
Rückel: Zu spät kommen.
Mayet: Dass einem am Kreuz der Arm aus der Schlinge rutscht. 2010 habe ich einmal bei der Verzweiflungsszene am Ölberg meinen Text vergessen. Das war schlimm. Ich bin dann nach vorne gegangen, wo der Souffleur sitzt. Aber der war nicht da. Es war die 35. Aufführung, er meinte später: Du warst immer so sicher, da dachte ich nach der Pause, ich geh heim.
"Wie hängt der denn da?"
Auf allen Postkarten, Büchern, T-Shirts wird Ihr Konterfei zu sehen sein. Alle wollen ein Autogramm und ein Selfie mit Jesus. Hebt man da ab?
Mayet: Auf die Postkarten und Poster habe ich 2010 irgendwann gar nicht mehr geschaut. Und hier im Dorf ist der Jesus nur ein bisschen was Besonderes. Wenn man sich bei einem Fest trifft, kann es sein, dass man auch mal einen Abend gar nicht über die Passionsspiele redet. Der Hype ist eher außerhalb von Oberammergau groß.
Claudia Keller
Magdalena Jooss
Am 7. Dezember gehen die Proben los. Proben Sie jeden Tag?
Mayet: Fünf Tage die Woche, jeden Abend so von 19 bis 22 Uhr.
Herr Rückel, wie geht das mit Ihrem Studium in München zusammen?
Rückel: Ich schreibe im Januar vier Prüfungen und hoffe, dass ich danach fertig bin.
Mayet: Wenn der Rochus sagt, er braucht eine Woche für die Prüfungen, dann gehe halt nur ich zu den Proben. Mein fünfjähriger Sohn wird auch mitspielen. Auch die Kinder aus dem Flüchtlingsheim in Oberammergau spielen mit.
Rückel: Die beste Art, um sich hier zu integrieren.
Feiern Sie Weihnachten anders, seitdem Sie Jesus sind?
Mayet: Ich gehe schon mit einem anderen Blick durchs Jahr. Und wenn ich an einem Kruzifix vorbeikomme, überlege ich: Wie hängt der denn da? Um mir Inspiration für die Rolle zu holen. Ich komme aus einer Holzschnitzerfamilie und habe daheim einen Christus von meinem Uropa hängen, eine Kopie von einem Ignatz Günther, das war ein Bildhauer aus dem 18. Jahrhundert. Das ist so ein wunderschöner Christus. So würd ich gerne am Kreuz hängen. Weihnachten ist der schöne Anfang, wenn man von Herodes’ Kindermord absieht, und das Kreuz ist das andere Ende.
Rückel: Es wird sein wie immer, und das ist gut so. Eine schöne Zeit, noch mal durchatmen, bevor es dann mit den Prüfungen losgeht.
Die Passionsspiele in Oberammergau
1633 schworen die Oberammergauer, alle zehn Jahre Passionsspiele aufzuführen, wenn Gott die Ausbreitung der Pest in ihrem Dorf aufhalte. Daraufhin soll sich keiner mehr mit dem Pestvirus infiziert haben. 1634 spielten die Oberammergauer zum ersten Mal das Leiden und Sterben Christi nach. Die Tradition ist nie abgerissen. Jede und jeder Erwachsene darf mitspielen, wenn sie oder er mindestens 20 Jahre in Oberammergau lebt oder dort geboren ist, für Kinder gelten andere Regeln. Alle 21 Hauptrollen sind doppelt besetzt, denn das Spiel ist sehr anstrengend und dauert fünf Stunden.
2020 sollte es wieder so weit sein: Vom 16. Mai bis 4. Oktober sollten über 2400 einheimische Laiendarsteller, Sänger und Musiker die Passion an über 100 Tagen aufführen. Doch dann kam die Corona-Pandemie, weswegen die Passionsspiele auf 2022 verschoben wurden.
Regie führt Christian Stückl, der Intendant des Münchner Volkstheaters und selbst Oberammergauer. Er hat auch 1990, 2000 und 2010 Regie geführt und das Stück modernisiert. Die Karten kosten von 30 bis 180 Euro.