Sommer 2017. Irlandreise. Es ist warm, das Leben harmonisch. Beim Abschied raubt eine Erkältung Opa die Stimme. Als ich zurückkomme, ist es kühl und regnet. Opa liegt im Krankenhaus.
Diagnose: Kehlkopfkrebs
Keine Erkältung. Mein Großvater hat einen Tumor am Kehlkopf, er wuchert und lähmt die Stimmbänder. Die Ärzte verhindern mit einem Luftröhrenschnitt, dass er erstickt. Fort-an atmet er durch eine sogenannte Trachealkanüle. Sie steckt in der Öffnung, die durch die OP entstanden ist, dem Tracheostoma. Opa wird künstlich ernährt. Die Ärzte machen uns Hoffnung, dass er wieder sprechen wird. Aber die Stimme kommt nicht zurück.
Wir begreifen noch nichts und doch schon alles. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Unsere: Das Geschwür wird sich operieren lassen, Opa wird leben. Opa war immer kräftig. Er hat vieles überstanden: Verwundungen im Zweiten Weltkrieg, Schlaganfall, Wirbelbruch – da war er schon über 80. Monate später kraxelte er wieder ums Haus und werkelte. Typisch Opa: Weiter geht’s!
Die Krankheit frisst Opas Schutzhülle
Keine Woche später ist klar: Der Tumor kann nicht operiert werden. Er hat eine der empfindlichsten Körperstellen durchdrungen, im Kehlkopf laufen viele Nerven zusammen. Eine Operation wäre lebensgefährlich. Der Arzt schlägt eine Chemotherapie vor. Nach allem, was er erklärt, wird mir klar, dass das auch nur eine Lebensverlängerung ist, aber keine Verbesserung. Ich rate von der Chemo ab. Was nehme ich mir heraus? Aber ich stehe dazu. Dieser Krebs in diesem Alter ist tödlich, mit oder ohne Chemo.
Opa stürzt und bricht sich den Arm. Dann infiziert er sich mit multiresistenten Krankenhauskeimen, gegen die viele Antibiotika nicht mehr wirken. Als hätte er seine Schutzhülle verloren.
Besuch im Krankenhaus: Die Ärzte geben unterschiedliche Prognosen ab, wie lange Opa mit dem Tumor noch leben kann, vielleicht Monate, vielleicht Jahre. Ich schneide ihm die Zehennägel, denn Opa kommt vor Schwäche nicht bis an die Füße. Früher hat er sich sogar die Krawatte selbst zurechtgerückt. Nun lässt er sich von mir die Schere aus der Hand nehmen und hält still. Mama und Oma stehen dabei. Stille im Raum, aber alles bebt. Opa stirbt.
Bei einer Krebserkrankung dehnt sich die Zeit und schrumpft zugleich. Schon nach Wochen ist die Familie ausgelaugt vom Organisieren, von der Fahrerei zu den Kliniken, vom Zeitaufwand und der Krankheit selbst. Sogar ich, obwohl ich kaum etwas organisieren muss. Immerhin lenkt das Organisieren auch ab: Welche Kleidung und Ausstattung sind nötig? Welche Medikamente? Was freut Opa? Und was braucht Oma?
Mein Scheitern
Ich habe mir früher einmal geschworen: Ich werde meine Großeltern pflegen. Nun steht Bequemlichkeit im Weg – werfe ich mir vor. Ich bin in meinem Leben ganz woanders, in einem schönen Beruf in einer Stadt Hunderte Kilometer entfernt, und will da nicht weg. Ich scheitere auch an der Überforderung: Innerhalb von Tagen müsste ich Pflegewissen lernen. Atemkanüle und Tracheostoma müssen Tag und Nacht in Feinarbeit gereinigt werden. Das wäre mein Job, würde ich Opa zu Hause pflegen. Ekel. Ich bringe es nicht über mich, mein Versprechen einzulösen. Was hatte ich mir unter Pflege vorgestellt? Ich fühle mich schuldig und jämmerlich.
Opa hat längst entschieden, dass er in ein Heim will. "Das könnt ihr nicht", bedeutet er uns und zeigt auf das Tracheostoma. Meine Mutter sucht fieberhaft. Wegen der Keime will ihn kein Heim aufnehmen. Mutter ist den Tränen nahe, ich sitze beklommen daneben.
Die Pflege-WG: Ein Glücksfall
Opa hustet und röchelt durch die Atemkanüle, er ist schwach, er verträgt die künstliche Nahrung schlecht. Oma, 90, kämpft mit der Anstrengung und dem Mitleid für Opa. Ich sehe besorgt zu. Seit 70 Jahren ist dieser Mann ihr engster Vertrauter. Jetzt soll sie ihn nicht mehr täglich sehen? Mit 92 darf man gehen, aber so?
Es findet sich eine Pflege-WG, spezialisiert auf Tracheostoma, ganz in der Nähe! Es gibt viele Betreuer, wenige Patienten, alles ist großzügig eingerichtet und persönlich. Ein riesiger Glücksfall.
Dennoch müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht überlasten. Es gibt Beratungen, Vereine, Sterbebegleiter, psychologische Hilfe für Krebspatienten. Im Nachhinein kann ich nicht sagen, warum wir uns nirgends informiert haben und warum ich meine sichtlich überforderte Mutter nicht gedrängt habe, die Angebote zu nutzen.
Wut
Opa, halb aufgerichtet im Bett, brüllt stumm Worte. Gestikuliert. Schreiben ist ihm zu langsam. Oft verstehen wir ihn nicht, ein richtiges Gespräch ist kaum möglich. Wir statten einen Laptop mit einem einfachen Schreibprogramm aus. Es funktioniert nicht gleich. Opa will den Computer nicht mehr sehen.
Er will keine Krankengymnastik, keine Brettspiele, sich nicht anziehen und nicht aus dem Bett. Meine Cousine und ich lesen ihm die Worte von den Lippen ab. "Das ist scheiße", sagt er. "Ich will sterben." Wir sprechen für Oma mit, was er formuliert. Den letzten Satz sagen wir nicht.
In einer ruhigen Minute will ich ihm die Möglichkeit zu Klartext geben. "Was fühlst du?", frage ich. "Was denkst du über den Tod?" Entsetzen schlägt mir entgegen. Einen Tag lang weicht Opa meinen Blicken aus. Wie blöd bin ich?! Was gesagt ist, ist gesagt. Mehr geht nicht. Über das Bereden sind wir hinaus.
Entfernung
Der November ist trist und regnerisch. Wir wollen Opa keinen Tag allein lassen, auch Oma zuliebe. Der Tagesplan wird zur Belastungsprobe. Mein Vater und mein Bruder helfen Oma, kaufen ein, putzen, kochen, spenden Trost. Nur Opa besuchen sie nicht oft. Das Krankenzimmer halten sie kaum aus.
Unser Umgang wird sprachloser. Längst liegt auch der Schreibblock beiseite. Tag für Tag rückt die Welt von Opa weg – auch wir. Während ich vom Alltag erzähle, sehe ich an Opas Augen, wie er in Gedanken abschweift, wie ihm das Leben unbedeutend und dadurch unbegreiflich wird. Das ist das Sterben.
Abschiede
Ende November liegen die Nerven blank, ich ständig erkältet, meine Mutter dünnhäutig vor Stress, Oma ständig den Tränen nah, meinen Vater plagen Schwächeattacken. Für mich steht eine Dienstreise ins Ausland an. Ich bin nicht halb so vorbereitet wie gewünscht. Ich denke daran, dass der Abschied von meinem Großvater der letzte sein könnte.
Dezember: trist, kalt, windig. Ich baue die Weihnachtskrippe in Opas Zimmer auf. Er selbst hat den Stall für die Christfamilie gezimmert, mit viel Heu, einer Lichterkette und Tannengrün auf dem Dach, in dem Rehe knietief staksen. Von meiner Reise habe ich ein geschnitztes Kamel mitgebracht. Ich stelle es zu den Rehen. Es ist so groß wie sie. Da schmunzelt er.
Weihnachten
Die ganze Familie liebt Weihnachten bei meinen Großeltern. Und dieses Jahr? Oma will mit uns Enkeln zu Opa fahren und singen. Sie kündigt es Opa an. Er will uns davon abbringen. Er fuchtelt in der Luft, versucht zu sprechen, schüttelt den Kopf, was ihn schmerzt.
Wir kommen, die Gitarre im Gepäck. Er ist so brüsk und gestikuliert so wütend, dass wir nicht singen. Oma versucht, ihren Schock zu verbergen. Dies ist ein Nicht-Weihnachten. Opa will Weihnachten lieber gar nicht als halb.
Dämonen
Wenn es die Hölle gibt, beginnt sie vor dem Tod. Im Januar kommen furchtbare Schmerzen. Opa stöhnt, er leidet ununterbrochen. Die Ärztin beginnt, Morphium zu verabreichen. Morphium lindert die Schmerzen, die psychische Wirkung hängt vom Seelenzustand ab. Opa bestürmen Geister, Schatten, Dämonen. Statt Schmerz nun Grausen.
Was auch immer Opa getan hat – er fühlt sich schuldig. Hat es mit dem Krieg zu tun? Uns hat er immer dieselben Geschichten von der Front erzählt – die unverfänglichen. Dabei aber kam er jedes Mal in eine immer heftigere Argumentationsspirale. Was er im Einzelnen sagte, erinnere ich nicht mehr. Aber es zeigte mir: Da muss mehr sein. Für eine Beichte ist es zu spät. Meine Unruhe: Soll ich Nachforschungen anstellen? Was, wenn ich Unangenehmes über seine Zeit in der Wehrmacht herausfinde?
Vergebung
"Damals kam man aus dem System doch gar nicht raus", sagt mein Freund. "Wichtig ist, was für ein Mensch er danach war." Opa war nicht immer einfach. Er hatte einen Dickschädel, aber war für alle da: für Nachbarn, Bekannte, Oma, die Kinder und Enkel, für mich. Das also ist meine nächste Übung: blind vergeben. Einfach so. Ihm sagen: "Alles ist gut."
Der Tod trägt Opa in neues Fahrwasser: Er dämmert. Tagelang. Bald, sagt die Ärztin. Gefühle, die ich nicht zuordnen kann, brechen zu unmöglichen Zeiten aus mir heraus: Traurigkeit? Mitleid? Selbstmitleid? Stress? Zum Beispiel bei einem Lied von Wir sind Helden: "Ich werde riesengroß für dich / Ein Elefant für dich / Ich trag dich meilenweiter / Über’s Land / Und ich trag dich so weit wie ich kann." Das Lied war mir bisher nie wichtig, ich habe es unbewusst mitgesungen. Nun breche ich dabei in Tränen aus. Trotzig spiele ich es immer wieder ab, bis das Mitsingen ohne Heulen klappt. Klappt nicht.
Praktisches
Meine Mutter bespricht mit dem Bestatter die Beerdigung, gestaltet eine Sterbekarte, berät sich ewig mit Oma über die Traueranzeige. Ich rebelliere: Er lebt noch! Aber Mama braucht etwas Praktisches, woran sie sich halten kann. Und später, als Opa tot ist und wir doch alle in Aufregung sind, ist es gut, dass alles schon geklärt ist – und die richtigen Worte gefunden sind.
Nähe
Oma sitzt stundenlang neben Opa, streichelt seine Hand, spricht zu ihm. Wir reiben Opa mit beruhigendem Lavendelöl ein. "Ich habe dich lieb", sagen wir täglich. Ob er wach ist oder nicht. Mein Onkel kommt jeden Abend. Einmal beobachte ich sie: die beiden zurückgezogenen Männer in einer Art Zwiesprache.
An seinem Geburtstag ist Opa klar. Er liegt aufgerichtet im Bett, schaut, begutachtet Omas Blumenkranz, die Geschenke. Alle sind da. Oma lässt ihn nicht los, küsst ihn. Opa ist gerührt. Er sieht sie an, drückt ihre Hand. Sein Mund bewegt sich: "Danke. Für alles." Das ist das Letzte, was er sagt.
Nach Opas Geburtstag kommt der Frühling. Ich gehe mit meinem Freund wandern. Alles ist Leben. Ich atme die süße Luft, sehe den strahlenden Sonnenuntergang und denke, dass manche im trüben November gegangen wären. Oder im kalten Januar. Welchen Moment wählt Opa?
Diesen.
Opa ist eingeschlafen. Niemand war da. Sein Gesicht, sagt Mutter, sah glücklich aus.
Familie
Selbst in größter Trauer ist Oma dankbar für alles. "Dass wir den Weg gemeinsam gehen konnten", sagt sie unter Tränen. Immer dankbar sein, zufrieden, großzügig, und vergeben – lange erschien mir das übertrieben, unterwürfig. Nun begreife ich: Das ist Omas Jungbrunnen, das ist Weisheit.
Die Pfarrerin besucht uns. Sie fragt: "Wie ist es Ihnen ergangen?" Wir erzählen, wie wir trotz aller Wirren zusammen halfen. Jeder das Seine geben wollte. Dass wir ins Gespräch kamen, mehr denn je. Heute kann ich sagen: auch blieben! Oma soll nicht allein sein.
Unsere Autorin möchte anonym bleiben, um die Privatsphäre ihrer Familie zu schützen. Ihr Text erschien zuerst im JS Magazin. Die Evangelische Zeitschrift für Junge Soldaten, November 2019.