Interview - Sexueller Missbrauch: Barbara Kavemann über Täterinnen
Interview - Sexueller Missbrauch: Barbara Kavemann über Täterinnen
MissX/photocase
"Wie konnten wir so kurzsichtig sein!"
Dass auch Mütter Kinder missbrauchen, dringt sehr spät ins gesellschaftliche Bewusstsein.
Tim Wegner
19.02.2019

chrismon: Eine der beiden Frauen, mit denen ich für chrismon über den Missbrauch durch ihre Mütter und weitere Täter berichteten, hatte sich auch an die Beratungsstelle Wildwasser in Berlin gewandt. Sie sagt: "Ich konnte den Frauen bei Wildwasser zwar von Unstimmigkeiten zu Hause erzählen, aber sobald es in die Richtung ging, dass die Mama mir wehtut – da stiegen die aus, das wollten die gar nicht hören." Das war 1997.  

Barbara Kavemann: Damals wusste man über missbrauchende Mütter fast nichts. Es gab keine Forschung dazu, keine Daten, nichts. Es gab auch noch kaum Internet. Wir wussten nicht ohne weiteres, was in anderen Ländern bereits erforscht war. Das war alles wenig zugänglich. Sexuelle Gewalt durch Frauen war bekannt, man hielt das aber für absolute Einzelfälle. Heute gucken wir zurück und sagen: Wie konnten wir so kurzsichtig sein! Aber damals hatte man gerade mal ganz gut hingekriegt, dass sexuelle Gewalt durch Männer gegen Kinder überhaupt gesehen wurde. Das war ein sehr schwieriger Durchsetzungsprozess.

Warum war es schwierig, dieses Wissen öffentlich durchzusetzen?

Die Gesellschaft wollte nichts hören von sexuellem Missbrauch. Abgesehen davon, dass sie Skandale liebt. Sensation war gefragt, aber die gesellschaftliche Dimension der Gewalt hat niemanden interessiert. Im Grunde hatten wir erst seit Ende der 80er Jahre überhaupt Öffentlichkeit zum Thema sexueller Missbrauch an Kindern. Vergewaltigung hatte die Frauenbewegung bereits seit zehn Jahren in der Öffentlichkeit diskutiert, bevor wir bei Übergriffen auf Kinder angekommen waren. Die Kinderschutzbewegung verweigerte sich dem Thema. Das sind mühselige gesellschaftliche Prozesse, solches Wissen zu etablieren. Und natürlich stößt man dabei auch auf Widerstände.  

Auf welche Widerstände stieß man denn?

Feministinnen standen sehr unter Beschuss: dass sie sich das mit dem sexuellen Missbrauch alles aus den Fingern saugen, dass sie das nur tun aufgrund ihrer Männerfeindlichkeit …  Man musste sich damals mit idiotischen Argumentationen auseinandersetzen. Sprach man über Frauen als Täterinnen, wurde die sexuelle Gewalt durch Männer sofort relativiert: Ja, wenn Frauen das auch machen, dann ist es ja nicht so schlimm! Es war also für viele engagierte Frauen sehr schwierig damals, den Blick auch auf Mütter und andere Frauen als Täterinnen zu richten. Das ist teilweise nicht gut gelungen. Weil eine breite fachliche Diskussion fehlte, konnte sich Unkenntnis halten und bei einigen auch Abwehr und Unglauben.

Privat

Barbara Kavemann

Die Sozialwissenschaftlerin Barbara Kavemann forscht seit den 1980er Jahren zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Sie ist außerdem Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die 2016 gegründet wurde.
Tim Wegner

Christine Holch

Chefreporterin Christine Holch mag knifflige Themen und sperrige Menschen. Sie hat für ihre Arbeit diverse Preise bekommen, etwa für die Recherche in der Psychiatrie den DGPPN-Preis für Wissenschaftsjournalismus, für einen Text über zwei Frauen mit schlimmsten Missbrauchserfahrungen wurde sie geehrt vom Journalistinnenbund und vom Weißen Ring; und sie war nominiert, zum Beispiel für den Theodor-Wolff-Preis mit dem Text über ihren Nazi-Opa und seine Zwangsarbeiterin. Ganz früher hat sie Germanistik und Philosophie studiert, Theater auf der Straße gespielt, in Hessen und Thüringen bei der Regionalzeitung HNA volontiert und bei der taz in Bremen und Hamburg gearbeitet.

Sie sprechen über die 80er und 90er Jahre. Nun war 2018 ein großer Prozess in Freiburg gegen eine Mutter, die ihren Sohn selbst missbraucht hatte, ihn ihrem wegen Missbrauchs vorbestraften Lebensgefährten und – gegen Geld – weiteren Männern ausgeliefert hatte. Die Öffentlichkeit reagierte entsetzt: dass eine Mutter so was tut!

Ja, da sind immer noch Blockaden. Das sieht man an den unterschiedlichen Reaktionen auf die Taten der Mutter und auf die des Stiefvaters. Der Stiefvater, der eh schon Gewalttäter war, das wird abgehakt, da gibt es dann auch nicht die riesige Empörung, denn es ist ein Mann, noch dazu ein richtig fieser Krimineller, okay. Und dann der Blick auf die Mutter: Mein Gott, die Mutter! Wie kann eine Mutter nur! Und da haben wir diese Zuschreibung von Mütterlichkeit: Mütter lieben ihre Kinder, Mütter schützen ihre Kinder. Dass ein Teil der Mütter das nicht immer gut hinkriegt und manche es überhaupt nicht hinkriegen beziehungsweise ihnen ihre Kinder herzlich egal sind, dass es andererseits sehr fürsorgliche Väter gibt, das hebelt diese unterschiedlichen Bilder von Mütterlichkeit und Väterlichkeit nicht aus. Die Erwartungen an Mütterlichkeit sind exorbitant. Die Mutter im Staufener Missbrauchsfall konnte Jugendamt und Amtsgericht auch deshalb so gut täuschen, weil die diesen Zuschreibungen an Mütterlichkeit aufgesessen sind.

Die beiden Frauen, die in chrismon vom Missbrauch durch ihre Mütter und durch Fremde berichteten, wussten, dass ihre Mütter selbst Furchtbares in der Kindheit erlebt hatten, auch Missbrauch.

Die Aktivität des Überlebens kann verschiedene Wege gehen, auch den in die eigene Gewalttätigkeit.

Aber warum? Warum tut jemand, der selbst Gewalt erlebt hat, nun auch dem eigenen Kind Gewalt an? Statt zu sagen: Dir, mein Kind, soll nicht passieren, was mir passiert ist.

Ich finde das gar nicht so schwer zu verstehen. Weil dieses "Ich habe es selbst erlebt, meinen Kindern soll so was nicht passieren" – das ist ein starker moralischer Impuls und auch sehr vom Verstand gesteuert. Aber jenseits von Moral und Vernunft fällt es vielen Menschen extrem schwer, damit umzugehen, dass sie absolute Ohnmacht erlebt haben. Sich selbst beweisen zu wollen, kein Opfer gewesen zu sein oder kein Opfer mehr zu sein, ist durch nichts leichter zu erreichen, als indem man selbst gewalttätig ist. Solch ein Verhalten wird bei Frauen eher nicht vermutet, aber es funktioniert natürlich auch für Frauen. Das ist ein Erklärungsansatz unter mehreren. Ein anderer ist zum Beispiel, dass das Leid der Kinder nicht gesehen werden kann, wenn das eigene Leid verdrängt wird und Unterstützung fehlt.

Beide Frauen, die in chrismon berichteten, erlitten organisierte sexuelle Gewalt und beide sahen in den Netzwerken auch Frauen.

Bei organisiertem Missbrauch sind viele Frauen in den Strukturen! Nicht alle missbrauchen selbst sexuell, aber sie profitieren davon und organisieren das Ganze. Denn es ist schwierig, an Kinder heranzukommen ohne Mütter, ohne Frauen. Genauso im Menschenhandel, auch da gibt es viele organisierende Frauen.

Warum wissen Polizei und Staatsanwaltschaften nichts über organisierte sexuelle Gewalt – also über wiederholte, geplante und meist auch kommerzialisierte Gewalt durch Netzwerke von Tätern?

Weil das sehr abgeschlossene Welten sind, in denen streng auf Geheimhaltung geachtet wird. Die Opfer zeigen nicht an, sie schweigen in der Regel aus Angst auch noch als Erwachsene. Man kann den Strafverfolgungsbehörden nicht vorwerfen, dass die sagen: Das soll es geben? Bei uns nicht. Ja, das gibt es bei ihnen auch nicht beziehungsweise ist nicht als solches beweisbar. Dazu kommt, dass viele Leute es einfach nicht glauben können. Dass es das gibt, davon erfahren zum Beispiel Traumatherapeutinnen und wir von der Aufarbeitungskommission.

Sie haben in Ihrer Forschung und als Mitglied der Aufarbeitungskommission Familiengeschichten gehört, wo es über Generationen sexuelle Gewalt in den Familien gab und gibt …

Ja, wir hören auch von Männern, die erst ihre Töchter sexuell missbrauchen und später dann ihre Enkelkinder.

Warum schützt eine Mutter, die selbst durch den Vater Gewalt erlitten hat, ihre Tochter nicht vor dem Großvater?

Die Tochter abzuwerten und ihr die Schuld zu geben ist leichter zu ertragen, als sich mit dem selbst erlittenen Missbrauch auseinanderzusetzen und dann auch noch mit dem mütterlichen Versagen leben zu müssen. Das sehe ich als so etwas wie einen Selbstrettungsmechanismus. Das sind schwierige Verläufe, die alle noch sehr viel genauer beleuchtet werden müssten.

Das heißt, man müsste mehr über Missbrauch in Familien wissen?

Ja. Im Moment wird bedauerlicherweise nur zu Missbrauch in Institutionen geforscht, in Heimen, Schulen, Kirchen … Niemand steckt Geld in die Erforschung von sexuellem Missbrauch in Familien. Da hoffe ich wirklich, dass sich das in nächster Zeit ändert. Wir müssen da mehr verstehen! Und wenn es um organisierte Gewalt geht: Da sind in den Strukturen immer Familienmitglieder drin.

Betroffene fordern auch, dass endlich erforscht werden muss, warum Mitwisser in den Familien nichts sagen und nichts tun und wie man solche Mitwisser dazu bewegen könnte, doch was zu tun.

Unbedingt! Ja, das brauchen wir gerade für den familiären Bereich. Denn wir können in Institutionen Schutzkonzepte einführen, wir können Führungszeugnisse verlangen, wir können alles Mögliche machen – deswegen beschäftigen sich auch alle so gern damit. Abgesehen davon, dass es klar erkennbar um staatliche Verantwortung geht. Aber auch für den Schutz in Familien hat der Staat eine Verantwortung. Nur – da kann man nicht sagen, jetzt entwickeln wir dafür Schutzkonzepte, denn wie soll das gehen im familiären Bereich? Da muss man anders rangehen, und dafür fehlt es an Forschung.

 

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Sehr geehrte Damen und Herren,
in meinem unmittelbarsten familiären Umkreis hat eine russische Kinderfrau ein 12 jähriges Mädchen ein Jahr lang sexuell missbraucht.
Folge: exorbitante sexuelle Promiskuität mit Frauen, lebt heute in lesbischer Beziehung.
Aus früheren Untersuchungen ist mir bekannt , dass sexuelle Identitätsstörungen sehr wohl Folge eines Missbrauchs sein können. Heute darf allerdings auf Grund des derzeit herrschenden mainstreams dazu nicht mehr geforscht werden.
Der derzeitige tausendfache institutionelle Missbrauch in der kath Kirche( 80% der Priester sollen homosexuell sein)ist geradezu prädestiniert dazu, entsprechende Untersuchungen durchzufühern, also eine mögliche Korrelation von gleichgeschlechtlichem Missbrauch und späterer Entwicklung einer Homosex. auf zu decken.
Wissen Sie davon, ob solche Überlegunge irgendwo sonst angestellt werden, und wenn ja, würden Sie mir bitte die Kontaktdaten schicken?
Mir freundlichen Grüßen,
Agnes Friederici

Liebe Leserin,
ich würde Homosexualität nicht als "sexuelle Identitätsstörung" bezeichnen. Und mir ist auch keine Forschung bekannt, die sich nmit einem eventuellen Zusammenhang von Missbrauchserfahrung als Kind und späterer Homosexualität beschäftigt. Es soll wohl ältere Erhebungen geben, nach denen sich unter schwul oder lesbisch lebenden Menschen besonders viele mit Missbrauchserfahrung finden. Aber ob die sexuelle Orientierung Folge des Missbrauchs ist? Viele andere Zusammenhänge wären denkbar, rein theoretisch - zum Beispiel der, dass ein schwuler Jugendlicher früh ausgeschlossen wird aus Gruppen/von der Familie und auf seiner Suche nach Zuwendung  womöglich leicht Opfer von Missbrauchstätern wird.
Mit freundlichen Grüßen
Christine Holch/Redaktion chrismon

Stoße erst jetzt 2021 auf diese Leserzuschrift und bin wg. eigener Betroffenheit empört über die Blindheit/Ignoranz der Absenderin. In dem Artikel geht es um sexuellen Mißbrauch durch MÜTTER und nicht irgendwelche anderen Frauen. Leider sind Menschen nach wie vor blind / unwillig gegenüber der Tatsache, daß sexualisierte Gewalt nicht vom bösen fremden Mann, sondern meist von Menschen aus dem nahen familiären Umkreis ausgeht. Daß es auch Mütter gibt, die ihren Kindern, auch Säuglingen sexuelle Gewalt antun, scheint so Manche(n) noch immer zu überfordern... Der Verweis auf die katholische Kirche erscheint mir wohlfeil, da ist leicht auf den inzwischen seit gut 10 Jahren der breiten Öffentlichkeit bekannten Skandal zu verweisen.
ja, ich gebe zu, ich bin zornig, denn ich erinnere mich noch sehr gut, welch empörte Kritik, ja Verachtung ich von Frauen entgegengeschleudert bekam, als ich Anfang der 90er Jahre in einer Drogentherapiestätte es wagte, meine Vermutung auszusprechen, daß auch Jungen von ihren Müttern mißbraucht werden und nicht nur Mädchen von ihren Vätern.

Permalink

Was für eine grausame Geschichte und die Täter bleiben straffrei. Das ist unfassbar! Gilt denn hier nicht „Nein, heißt nein!“ Man hört sie doch förmlich verzweifelt schreien, diese vielfach missbrauchten und misshandelten Kinder: „Nein, bitte nicht. Nein!“... Und dann auch keine Entschädigung? Was sind das für unempfindsame Schreibtischtäter?