"Guten Tag. Mein Name ist Michael Blume. Ist Zehra zu Hause?" Vor der Tür der Familie Tayanc steht ein Schulfreund der achtzehnjährigen Tochter und hält eine halb welke Geranie in der Hand. "Wer ist es?", ruft Papa Osman aus dem Wohnzimmer. "Blume, Michael Blume", wiederholt der junge Mann. Er hat noch nie einen türkischen Vater nach dessen Tochter gefragt. "Ich bin mit Zehra in der Jungen Union. Ich wollte mal fragen . . ." Frau Tayanc unterdrückt ein Kichern. Wer zittert mehr – die Blume oder der Blume? "Zehra ist mit ihrer Klasse im Landschulheim", sagt sie. "Aber kommen Sie doch rein." Michael schüttelt den Kopf. Die Geranie hält er über dem Kopf wie einen Regenschirm. "Dann fahr’ ich da hin. Wiedersehen!"
Im Ethikunterricht lernten sich Zehra und Michael kennen
Am 10. Dezember 2018 bekam in Oslo eine junge Frau den Friedensnobelpreis, die den Völkermord an den Jesiden überlebt hatte, weil sie den IS-Terroristen entkommen war: Nadia Murad. Die heute weltbekannte Menschenrechtsaktivistin war eine von rund 1100 Frauen und Kindern, die Michael Blume im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung 2015 aus dem Nordirak nach Deutschland holte. Fünfzehn Mal war er mit einem Team aus Psychotherapeuten, Übersetzerinnen und Beamten ins Kriegsgebiet gereist, um traumatisierten Opfern sexueller Gewalt ein Leben in Sicherheit und Frieden zu ermöglichen. Eigentlich ist er Religionswissenschaftler. Ein braver Beamter in der Stuttgarter Staatskanzlei. Vom Typ her niemand, der unter dem Feuerschutz kurdischer Peschmergatruppen Autos und Nummernschilder wechselt und in Zeltcamps Geheimverhandlungen mit Clanchefs führt. Wie er dazu kam, hat mit seiner muslimischen Frau zu tun.
Die beiden lernten sich im Ethikunterricht kennen. Das Fach Religion kam weder für sie als Muslimin noch für ihn, den Sohn aus atheistischem Hause, infrage. Michaels Vater hatte in der DDR wegen angeblicher Republikflucht im Militärgefängnis Schwedt gesessen, seine Mutter war als Dissidentin ausgereist – ihr im Westen geborener Michael sollte ideologiefrei aufwachsen. Also auch religionslos. Zehras Eltern hatten ihre Tochter vom dritten bis zum elften Lebensjahr tagsüber von Nachbarn betreuen lassen. "Urschwäbische fromme Bauersleute, die mich ganz arg liebhatten", erinnert sich Zehra, "und vor jeder Mahlzeit beteten: ‚Komm Herr Jesus, sei du unser Gast.‘ Das Lieblingsrezept meiner Tagesmutter waren Schweinerippchen. ‚Gell, Zehrale, du darfst das nicht‘, sagte sie oft, und, na ja, je nach Tagesform hielt ich mich dran."
Andreas Malessa
Manche im Dorf tuschelten, wie sie so ein "hergelaufenes Türkenkind" aufnehmen könne. Da wurde Zehras Tagesmutter immer energisch: "Gott weiß alles, nur die Nachbarn wissen mehr. Aber es gibt nur einen Vater im Himmel, gell?!" Es sind die 1980er Jahre. Noch ist die öffentliche Meinung nicht von Populisten vergiftet, die kulturelles Befremden in Hass umwandeln. Führerscheinneuling Michael merkt auf der Fahrt ins Landschulheim nicht, dass die Handbremse halb angezogen ist. Vaters Karre qualmt, als er Zehra seine Liebe gesteht und ihr die lädierte Geranie überreicht. "Wir sollten erst mal Abitur machen und dann musst du meinen Vater fragen", sagt sie, verliebt und bekümmert zugleich.
Michael wird jüngster Jugendgemeinderat im Rathaus des Ortes, Zehra organisiert Themenabende, Oldie-Nights mit Eltern und DJ-Partys für Teenager, forciert lokale Umweltprojekte und wirbt für die CDU. Ihre Abiprüfungen schaffen beide mit Bravour. Zehra hat sich vier Weisheitszähne ziehen lassen, als Michael ihr auf dem Heimweg vom Kieferchirurgen einen Heiratsantrag macht. "Ja!" schreibt sie gerührt auf einen Zettel. Reden kann sie ja grad nicht.
Sie haben drei Mal geheiratet: standesamtlich, muslimisch, evangelisch
Dann der Moment, den beide so lange fürchteten: "Baba Osman, ich liebe deine Tochter und bin mir sicher, dass ich sie heiraten will. Ich bitte dich um deinen Segen." Herr Tayanc ist überrumpelt und überrascht. "Du willst ein Ehemann sein, soso. Aber was glaubst du?" Michael fährt es in den Magen. Meint Osman "Was glaubst du eigentlich, wer du bist?", oder meint er "Woran glaubst du?"? Muss er zum Islam konvertieren? "Bist du ein Christ?", setzt Zehras Vater nach. Vielleicht ist ihm ein christlicher Schwiegersohn lieber als ein Atheist? "Äh . . . ich bin auf dem Weg. Ich bemühe mich, ein Christ zu werden. Und ich achte eure Religion."
Zehras Mutter Anne legt Michael die Hand auf die Schulter und sagt: "Oglum!" Mein Sohn. Ein Ehrentitel und Kosename mit dem Gewicht einer Quasiadoption. Sie wendet sich an ihren Mann: "Michael ist kein Muslim, aber wenn du mich fragst – ich nehm’ ihn als Schwiegersohn." Osman ist eingekreist von Menschen, die lieben. "Dann ist es in Ordnung. Ich stimme zu", sagt er. Sein Lächeln wächst zu einem Grinsen. Die Männer umarmen sich. "So also funktioniert euer Patriarchat", denkt Michael erleichtert. Er absolviert einen Taufvorbereitungskurs, der ihm als eine Art verdichteter Konfirmandenunterricht angerechnet wird. Seine atheistischen Eltern reagieren verhalten positiv: "Wir haben für die Freiheit gekämpft. Wenn du die jetzt dazu nutzt, evangelisch zu werden, ist das auch okay."
Zehra entzündet die Taufkerze
Die Kirche im Ort ist rappelvoll. Erwachsenentaufen sind selten. Und dann noch ein stadtbekannter Jugendgemeinderat! Zehra und ihre Eltern sind ebenfalls da. Als Michael mit ein paar Tropfen Wasser auf den Kopf getauft ist, wendet sich der Pfarrer zur Gemeinde: "Ich möchte Zehra Tayanc nach vorne bitten." Die Leute drehen überrascht die Köpfe. "Sie ist seine Verlobte und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Glaube in Michael entfacht wurde. Zehra – würdest du bitte seine Taufkerze entzünden?"
Zehra macht eine Banklehre, Michael studiert Religionswissenschaft an der Uni Tübingen. Es gibt drei Hochzeitsfeiern: säkular, muslimisch, christlich. Michael bekommt eine halbe Stelle als "Referent für interreligiösen Dialog" im Stuttgarter Staatsministerium und schreibt seine Magisterarbeit über das Thema "Die Öffnung des Islam in Deutschland durch eine neue islamische Elite". Per Rundmail verschickt er Interviewfragen an junge Muslime, bittet um Weiterleitung und bedankt sich mit der Hoffnung, "bald mal wieder zusammen wirken zu dürfen". Erst als er die Fragebögen auswertet, merkt er, dass auch ein radikaler Muslim geantwortet hat. "Reicht der Einfluss von Islamisten mittlerweile bis in Baden-Württembergs Regierungszentrale?", bellt eine Zeitungsschlagzeile.
Nach der Logik des Verfassungsschutzes hatte der Referent Blume nämlich – Kontakt! Und will mit diesen Kontakten "bald zusammen wirken".
In der Hysterie nach dem 11. September 2001 ist ein muslimisch verpartnerter Staatsdiener hochverdächtig. Das Kopfschütteln über die Unterstellung, ein "evangelischer Gefährder" zu sein, weicht bald der Schlaflosigkeit und Existenzangst: "Schadet es dir, dass du mich geheiratet hast?", fragt Zehra. "Du bist schließlich noch in der Probezeit!" Michael ist niedergeschlagen: "Wenn man Nachteile hat, weil man eine Andersgläubige liebt – ist es dann noch die Demokratie, an die ich glaube?" Sein Chef steht hinter ihm.
Bei der Landtagswahl 2011 gehen in Baden-Württemberg 58 Jahre CDU-Regierungszeit zu Ende. Michael Blume, inzwischen Vater dreier Kinder, packt im Büro Umzugskartons. Er plant, sich an der Universität Tübingen zu bewerben. Plötzlich steht Winfried Kretschmann im Türrahmen, der erste grüne Ministerpräsident. "Würden Sie bleiben? Für Kirchen- und Religionsangelegenheiten plus Integration von Minderheiten?" Ein unerwarteter Karrieresprung.
Tausend Menschenleben retten – da kann man sich doch nicht wegducken
Am 3. August 2014 überfallen Terroristen des sogenannten Islamischen Staats Dörfer und Städte im Nordirak, weil dort "Ungläubige" leben: Jesiden, Christen, nichtsunnitische Muslime. Sie ermorden rund 3000 Männer vor den Augen ihrer Familien und entführen mindestens 5000 Frauen und Kinder, um sie als Sklavinnen zu missbrauchen. Rund 190 000 Jesiden leben in Deutschland oder sind hier geboren. Vertreter ihres Zentralrats zeigen im September 2014 Bilder, Folterungen von Kindern, öffentliche Hinrichtungen, sogar Kreuzigungen. Sie bitten um Katastrophenhilfe. Winfried Kretschmann ist schockiert, aber "Baden-Württemberg hat keine Armee . . .", erklärt er den Jesiden.
Seine Mitarbeiter erinnern sich an die späten Siebzigerjahre, als Niedersachsen vietnamesische "Boat People" aufnahm, denn Bundesländern ist es erlaubt, Sonderkontingente an Flüchtlingen aufzunehmen. "Sollen wir rund 1000 Opfer sexueller Gewalt aus dem Nordirak holen?", fragt der MP, wie man ihn intern nennt, auf einer Konferenz aller Parteien, Landkreise und Kommunen, Kirchen und Verbände. "Rechtlich geht es. Aber es wird zweistellig Millionen kosten. Und nicht der Bund, sondern allein wir tragen die volle Verantwortung." Alle Hände gehen hoch. Ein nie erlebter Konsens.
Am Abend vor Weihnachten stellt Winfried Kretschmann die Frage: "Würden Sie es denn machen, Herr Blume?" Durch ein Fenster der Staatskanzlei sieht Michael einen geschmückten Weihnachtsbaum. Kann er was ändern am Elend der Welt? Er, der kleine Referatsleiter im Land der kehrwochengefegten Reihenhäuschen? "Jeder in meiner Generation hat doch den Film ‚Schindlers Liste‘ gesehen und gedacht: Würde ich mich das auch trauen? Diese Frage wurde plötzlich konkret", erinnert er sich, "tausend Menschenleben! Und wenn ich mich jetzt wegducke?" Er hört sich antworten: "Ja, das kriege ich hin. Aber ich muss zuerst meine Frau fragen."
Christvesper in der evangelischen Kirche. Blumes Kinder sind 11, 9 und 3. Die schönsten Jahre, um mit Kindern Heiligabend zu feiern. Zehra und Tochter Melissa spielen Flöte, Michael liest aus dem Lukasevangelium, Kapitel zwei vor. Zehra wundert sich, warum Michael dabei Tränen in den Augen hat. Es gibt Kartoffelsalat und Geflügelknacker. Dann die Bescherung.
"Gott wird uns einmal fragen, was wir mit dem Elenden vor unserer Tür gemacht haben"
Als die Kinder im Bett sind, muss es raus: "Der MP hat mich gefragt, ob ich die IS-Sklavinnen, tausend Frauen und Kinder, aus dem Irak hole." Zehra ist geschockt. "Alle auf einmal?" – "Nein, das braucht etliche Missionen." – "Wie oft? Wie lange?" –"Ich weiß es nicht. Wir müssen sie finden, ihren Gesundheitszustand checken, ihnen Visa ausstellen, sie herbringen, sie unterbringen. Wahrscheinlich dauert es ein Jahr." – "Wo du dann jedes Mal in den Irak . . .?" Er nickt. Plötzlich weint sie und nimmt seine Hand: "Wir glauben beide, dass uns Gott einmal fragen wird, was wir mit dem Elenden vor unserer Tür gemacht haben, richtig?" Wieder nickt Michael. "Dauernd schäme ich mich, was für Verbrechen da unten im Namen des Islam begangen werden. Es ärgert mich dermaßen, dass diese Monster sich Muslime nennen!" Sie schaut Michael an: "Du bist der Mann geworden, den ich damals in dir gesehen habe. In der Schule, im Ethikunterricht. Also gut: Mach es. Jedes Leben zählt."