Die Bibel entstand im Exil. Und mit ihr das Judentum. "Vielleicht ist dies ein gemeinsames Kennzeichen der drei monotheistischen Weltreligionen, dass sie von Flüchtlingen und Heimatlosen ausgingen", schreibt Johann Hinrich Claussen in seinem "Buch über die Flucht". Und weiter: "Der Polytheismus ist eine Religionsform für verwurzelte Völker: Ihre Götter haben feste Wohnsitze – diesen heiligen Berg, jenen Hain, diese Quelle, jenen Tempel. Der Glaube aber an nur einen Gott, der auf der ganzen Welt zu Hause ist und zugleich nirgends, ist ein Glaube von Menschen, die keine sichere Heimat mehr haben."
Im Herbst 2015, als Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland strömten, begann Claussen die Bibel neu zu lesen, als ein Flüchtlingsbuch. Ihr zufolge wird das erste Menschenpaar aus dem Paradies vertrieben. Der Mörder Kain muss fort aus dem Angesicht des Herrn, er zieht in ein Land jenseits von Eden. Abraham ist schon Migrant und muss dann noch vor einer Hungersnot fliehen. Jakob weicht vor seinem Bruder aus. Israel wächst in der Fremde zu einem Volk heran, in Ägypten. Es flieht und streift 40 Jahre heimatlos durch die Wüste, erobert sich ein Land und wird aufs Neue vertrieben. – So erzählt es zumindest die Bibel.
Die Bibel, eine literarische Fiktion
Doch all dies ist kein akkurater Bericht von der Frühgeschichte Israels, deren Spuren Archäologen heute freilegen. Es ist eine literarische Fiktion, niedergeschrieben, als ein Teil der israelisch-judäischen Bevölkerung nach Babylon verschleppt worden war. Die Exilierten erfanden sich neu als ein Volk, das sich von anderen Völkern unterscheidet. Es machte die Flucht aus Ägypten zum Gründungsmythos, jährlich gefeiert an Pessach, einem der höchsten jüdischen Festtage.
"Wer die Bibel heute mit seinen eigenen Fragen und Erfahrungen liest, schreibt sie auf seine Weise fort", notiert Claussen. "Die Flüchtlingskrise ist nicht nur ein aktuelles Problem, sondern eine epochale Herausforderung, denn sie stellt die grundsätzliche Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Deshalb lohnt sich ein frischer Blick in das Grundbuch europäischer Kultur."
Auch Jesus lebte heimatlos in Armut und Unsicherheit. Seine griechisch-jüdischen Anhänger wurden nach Jesu Tod und Auferstehung aus Jerusalem vertrieben. Paulus war ein Verfolger und wurde Christ – und damit ein Verfolgter. Auch wegen dieser Erfahrungen war christlichen Gemeinschaften von Anfang an eine Tugend sehr wichtig: Gastfreundschaft.
Ein Einstieg in eine fundierte Bibellektüre
Claussen paraphrasiert biblische Erzählungen, Prophetensprüche, Psalmen, Gleichnisse. Er stellt ihnen auch altorientalische Lieder gegenüber. "Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen" bietet einen guten Einstieg in eine umfassende, historisch fundierte Bibellektüre. Das Ganze wird angereichert durch historische Fotografien aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: von fliehenden Sklaven während des amerikanischen Bürgerkriegs, von vertriebenen Armeniern in der Türkei, von Immigranten auf Ellis Island, New York, von Holocaustüberlebenden während ihrer Ankunft im Gelobten Land, Palästina. Ein eindrucksvolles und lesenswertes Buch.
Johann Hinrich Claussen: Das Buch der Flucht, C.H.Beck 2018, gebunden, 332 Seiten, 24,95 Euro