Wegen Überfüllung geschlossen. Für viele, die am 31. Oktober, dem Reformationstag, einen Gottesdienst besuchen wollten, blieben die Kirchentüren zu. Mit so großem Zuspruch hatten viele Gemeinden einfach nicht gerechnet. „Dieses Problem hatten wir noch nie“, sagt der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, vor der Synode, dem Parlament, der evangelischen Kirche in Bonn. Das Thema Reformation hat unerwartet viele Menschen erreicht.
Zu den Klassikern der Kritik am Reformationsjubiläum gehört hingegen der Vorwurf, es habe von allem zu viel gegeben. Zu viele regionale Kirchentage, zu viele konkurrierende Angebote in der Lutherstadt Wittenberg. Selbst der Rat der EKD schlägt sich irgendwie schuldbewusst an die Brust. Im schriftlichen Teil des Berichts ist die Rede davon: „Viele Besucherinnen und Besucher der Lutherstadt standen vor der Vielfalt der angebotenen Themen und der gewählten Veranstaltungsformate und mussten Schwerpunkte setzen.“
Wieso „mussten“? Was ist eigentlich so schlimm daran, dass die Besucherinnen und Besucher die Qual der Wahl hatten? Müssen alle alles gesehen haben? Und dann dieser Satz: „Die Gäste der Weltausstellung in Wittenberg nahmen angesichts der Weitläufigkeit und Vielfalt der Weltausstellung oftmals nur an Ausschnitten des gesamten Angebots teil.“ Wieso „nur“?
"Ein Vitaminstoß für die Erneuerung der Kirche"
Es ist eine interessante Zukunftsfrage für die evangelische Kirche. Soll sie sich verabschieden von der Vorstellung, dass sie – möglicherweise als einzige Institution der Zivilgesellschaft – in der Lage ist, alle soziale Gruppen, Schichten und Generationen an einem Ort und zu einer Zeit zusammenzubringen? Schichtarbeit und Akademiker, Linke und Rechte, Junge und Alte treffen in der Kirche, im Gottesdienst aufeinander und entdecken ihre Gemeinsamkeiten. Das ist das Ideal.
Aus dem Reformationsjubiläum gehen die evangelischen Christen mit neuer Verve hervor. Innerkirchlich wie gesellschaftlich wollen sie den gewonnenen zusätzlichen Schwung für Neuanfänge nutzen. In seinem Rechenschaftsbericht vor der EKD-Synode bezeichnete der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm das Jubiläumsjahr als „Vitaminstoß für die geistliche und inhaltliche Erneuerung unserer Kirche, den wir gerade jetzt brauchen.“ Die entscheidende Frage dabei: „Wie kann man die Erlebnisse des Reformationsjubiläums transformieren in die Zukunft?“, so die Synodenpräses Irmgard Schwaetzer. Denn trotz eines erfolgreichen Reformationsjubiläums lässt sich „ein gesellschaftlicher Megatrend wie der der Individualisierung nicht einfach umkehren“, sagt Bedford-Strohm. „Aber wir sprühen vor Ideen.“
Das Dilemma der Kirche ist überdeutlich. Erhebt sie klare politische Forderungen (wie in der Flüchtlingsfrage), erntet sie den Vorwurf des Moralismus und der religiösen Ausdünnung. Hält sie sich mit politisch-ethischen Forderungen zurück (zum Beispiel in der Klimafrage), verliert sie die jungen Leute. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass man mit der Moral kritische Nachfragen erdrücke. Wo immer dieser Eindruck entstehe, müsse die Kirche dagegen halten.
Große Hoffnung richten sich auf die Berliner Koalitionsverhandlungen
In seinem Bericht sagt Bedford-Strohm auch: „Der Bedarf an ethischer Orientierung ist einerseits deutlich gestiegen. Wenigstens die Kirchen – so heißt es dann – mögen uns doch bitte den Weg weisen! Ebenso wahr ist aber auch: Gefährlich abgenommen ... haben die angemessenen Formen des Umgangs miteinander im politischen Diskurs.“ Dem Vorwurf des kirchlichen Moralismus will der Ratsvorsitzende durch mehr „werbenden Vernunft“ entgegentreten. Er empfiehlt auch hier die goldene Regel. „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch“ (Lukas 6, 27-30).
Er setzt gerade hinsichtlich der Flüchtlinge große Hoffnungen auf die Berliner Koalitionsverhandlungen und ein neues Einwanderungsrecht. So hat er auch den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet in seinem Grußwort vor der Synode verstanden: Es solle mehr Bleibemöglichkeiten für gut integrierte Flüchtlinge geben. Ein politischer „Spurwechsel“ sei wünschenswert. Bedford-Strohm: Oft wollten ganze Kommunen verhindern, dass jemand rückgeführt wird. Eine Aufnahme von Flüchtlingen könne zu einer Win-win-Situation führen.
Eine Bitte von Bedford-Strohm an die US-Administration
Gerade im Blick auf die Jugendlichen sieht der Ratsvorsitzende ganz klar: „Kirche ist für junge Menschen weitgehend nicht mehr relevant. Junge Menschen fragen heute vor allem nach Sinn, Glück und Identität.“ Es gebe alarmierende Befunde über den Traditionsabbruch gerade bei ihnen. Sie zu erreichen, sei „eine der zentralen Herausforderungen für die Kirche der Zukunft.“ Und er macht erste vorsichtige Vorschläge, empfiehlt sie stärker in zeitlich begrenzte Projekte einzubinden, ihnen in der Kirche ein Ambiente anzubieten, in dem sie sich zu Hause fühlen könnten, und sei es, dass die „alten Sakralräume mit postmodernen Elementen“ verändert würden.
Und hier noch ein Aufreger, zumindest für die, die überall kirchlichen Moralismus sehen wollen: Bedford-Strohms Haltung zu Klimaschutz. „Der Klimawandel schreitet voran“, schreibt er im Ratsbericht, „und er verschärfte die Kluft zwischen Armut und Reichtum, denn seine Folgen treffen die am meisten, die am wenigsten dazu beigetragen haben und sich auch am wenigsten schützen können.“ Der US-Administration schreibt er ins Stammbuch: „Torpediert nicht das Pariser Klimaabkommen. Werdet wieder Teil einer Koalition der Willigen, wenn es um den Schutz des Klimas auf unserem Planeten geht.“
So hört man den Ratsvorsitzenden gern sprechen.