Was zeichnet einen Christen aus
Was zeichnet einen Christen aus
Andree Volkmann
Was zeichnet einen Christen aus?
Die Antwort der Reformatoren klingt nicht lebenspraktisch: Der Mensch kann nichts tun, um vor Gott gut dazustehen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
02.10.2017

Zweieinhalb Jahre nach dem Abitur hockt der Sohn noch immer zu Hause herum – einen Plan, wie es weitergehen soll, hat er nicht. Immer wieder kommt es zum Streit mit den Eltern: Wenn er am frühen Nach­mittag aus dem Bett gekrochen kommt, und wenn er dann nicht einmal das Laub gefegt, die Wäsche gelegt oder den Müll herausgebracht hat. Sprechen die Eltern ihn auf seine Zukunft an, kommen Sprüche wie: „Chill mal dein Leben.“

Allein aus Gnade wird der Mensch vor Gott gerecht – ohne dass er irgend­etwas dazu tun könnte. Für die Reformatoren war das eine befreiende Erkenntnis. Ihnen ging es darum, beim Jüngsten Gericht zu den Guten gezählt zu werden, zu den Gerechten. Das könne sich aber niemand aus eigener Kraft verdienen.

Podcast mit Henning Kiene zum Thema "Was zeichnet einen Christen aus?"

Aus Sicht der verärgerten Eltern erscheint diese Behauptung völlig ­unpassend. Ihr Sohn lässt die besten Jahre seines Lebens verstreichen. Er verlernt, dem Leistungsdruck von heute standzuhalten und entwickelt keinerlei Initiative. Da wirkt die Botschaft, er könne zu seinem persönlichen Heil gar nichts tun, doch bestimmt kontraproduktiv.

Aber tut sie das wirklich? Mög­licherweise öffnet diese Botschaft auch den Blick für etwas Wesentliches. Unter dem Druck, Entscheidungen für sein weiteres Leben zu fällen, duckt sich der Sohn weg. Je länger er die Entscheidungen verdrängt und vor sich herschiebt, desto gereizter rea­gieren die Eltern und desto größer wird der Druck. Ein Teufelskreis.

Vielleicht wäre der Junge besser in einer Gesellschaft klargekommen, in der der Lebensweg vorgezeichnet ist, in der er sich nicht selbst definieren muss, sondern einfach den elterlichen Handwerksbetrieb übernimmt. Vielleicht ist dem jungen Mann aber auch nicht wirklich klar, dass er nichts erreichen muss, um akzeptiert und gewünscht zu sein – keine große Karriere, keine so legendäre Studienzeit wie einst die Eltern, nicht einmal ein Auslandsjahr. Für den Konflikt von Eltern und Sohn bietet die reformatorische Erkenntnis zwar keine direkte Lösung. Aber sie hilft möglicher­weise, etwas Druck aus dem Dauerkonflikt herauszunehmen.

„Ich mag nicht mehr leben.“ - „Aber du bist doch mein großes Glück.“

Ein zehnjähriges Mädchen ist in Tränen aufgelöst. Sie bekommt mit, wie die Großmutter jemandem von ihr erzählt: Der Vater ist suchtkrank, die Mutter kann sich nicht von ihm lösen, beide sind überfordert mit ihr, der geistig behinderten Tochter, schreien sie an, werden grob. Es sei besser, wenn sie die Enkelin zu sich nehme, sagt die alte Dame, auch wenn sie mit dem Kind physisch oft an ihre Grenzen komme. Und während sie ­redet, entfährt dem Kind plötzlich mit tränenerstickter Stimme: „Ich mag nicht mehr leben.“ Die Groß­mutter tut das einzig Richtige. Sie nimmt das Kind in den Arm und sagt: „Aber du bist doch mein großes Glück.“

Allein aus Gnade? „Gnade“ klingt gönnerhaft. Gemeint ist aber etwas sehr Menschliches: dass niemand auf seine Verdienste reduziert werden darf; darauf, wie er oder sie anderen nützt oder wie viel er oder sie leistet. Ebenso wenig auf das, was jemand noch nicht leisten kann oder wo er oder sie Mist gebaut hat. Natürlich gehören Fehler und Versäumnisse kritisiert. Aber man muss die Person von dem unterscheiden, was sie tut oder unterlässt, von ihrem „Werk“. Diese protestantische Unterscheidung hat sogar Eingang ins moderne Recht gefunden. Verfolgt und bestraft werden gesetzeswidrige Taten. Unabhängig davon behält jeder Mensch seine unveräußerliche Würde.

Was zeichnet einen Christen aus? Dass er daran glaubt und festhält. Natürlich ist für Christen auch anderes wichtig: Nächstenliebe, Demut, ein Gerechtigkeitssinn. Aber „immer soll dem Glauben vor der Liebe der Vorrang zukommen“, resümiert der Reformator Philipp Melanchthon am Ende seines Glaubenskompendiums, der „Loci Communes“ von 1521. Wer weiß: Vielleicht kann man selbst ja auch nicht mehr als andere lieben. Vielleicht ist man selbst auch nicht sonderlich demütig. Oder urteilt vorschnell und ungerecht. Dann ist es gut zu wissen: Nicht weil jemand toll ist, steht er gut vor Gott da. Sondern weil Gott ihn liebt.

Serie

Die 14-teilige Serie "Reformation für Einsteiger" folgt den Kapiteln des Buches von Philipp Melanchthon "Loci Communes 1521" (Grundbegriffe der Theologie).

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