Als Frank Morgenstern 1994 seine erste Pfarrstelle antreten sollte, wunderte er sich sehr. Er hatte doch nun wirklich klargestellt, wo er stand – den Kriegsdienst verweigert, obwohl Theologiestudenten sowieso keinen Dienst an der Waffe leisten mussten. Und nun wollte der Oberkirchenrat ausgerechnet ihn als Pfarrer an der Christus- und Garnisonkirche in Wilhelmshaven haben: einer Kirche mit marmornen Gedenktafeln für Soldaten, mit riesigen Kommandoflaggen im Hauptschiff und Rettungsringen an den Wänden, mit einem Altarbild zur Erinnerung an die Skagerrakschlacht und der Grabstätte eines unbekannten Seemanns gleich neben dem Altar.
Die Flaggen abhängen und die Garnisonkirche zu einem zivilen Gotteshaus umgestalten – geht gar nicht, hieß es damals. Steht alles unter Denkmalschutz! Morgenstern blieb dennoch. Und statt sich selbst die Hörner am schwülstigen Heldentamtam abzustoßen, stieß er sehr beharrlich dessen Hörner ab. Im Laufe der Jahre kamen weitere ehemalige Zivildienstleistende als Pfarrerskollegen dazu.
Heute ist aus der Kirche der militärischen Traditionspflege ein Ort des Erinnerns geworden, an die Toten sinnloser Schlachten. Auch an die anderen, die der Kolonial- und Kriegspolitik von Kaiserreich und NS-Regime zum Opfer fielen. Und mehr noch: Die Pfarrer der Christus- und Garnisonkirche gehen raus in die Stadt und spüren weitere Orte auf, die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Orte, an denen sich Denkwürdiges ereignet hat.
Mit ihren Andachten werde Wilhelmshaven "gottesdienstlich kartographiert"
Montagabend nach Palmsonntag. Fast 200 Wilhelmshavener versammeln sich in der Parkstraße. Die Puttenfiguren überm Eingang der Hausnummer 16 sind Skulpturen von Josefa Egberts. Dies war ihr Elternhaus. Die Künstlerin war angeblich geisteskrank. Die Nazis ermordeten sie 1941.
Burkhard Weitz
„Passionspunkte“ nennen die Pastoren der Christus- und Garnisonkirche ihre Andachten in der Woche vor Ostern, in denen sie schon seit 17 Jahren an vergangenes Leid an vielen Orten der Stadt erinnern. Kirchengemeinden bundesweit machen diese Form des Gedenkens nach. Und die Karl-Bernhard-Ritter-Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes wird der Wilhelmshavener Gemeinde Mitte Juni einen Preis verleihen: Mit ihren Andachten werde Wilhelmshaven „gottesdienstlich kartographiert“, schrieb die Jury.
Ehrengäste waren zwei Admirale Hitlers
Schon 1997 war ein zweiter ehemaliger Zivildienstleistender als Pfarrer in die Gemeinde gekommen. Den Pastoren war klar: Irgendwas musste mit dem historischen Raum der Christus- und Garnisonkirche geschehen.
Zuerst verhängte der 1942 in Wilhelmshaven geborene Künstler Uwe Appold die marmornen Ehrentafeln an den Seitenwänden der Kirche – Tafeln für gefallene und ertrunkene Marinesoldaten. Es war eine
umstrittene Aktion. Appold hatte als Jugendlicher das Heldengedenken als Domäne der Unbelehrbaren erlebt. Damals, 1957, wurde in der Christus- und Garnisonkirche ein Mahnmal für den unbekannten Soldaten eingeweiht. Als Ehrengäste dabei: Hitlers Admirale Erich Raeder und Karl Dönitz, beide waren in Nürnberg verurteilte Kriegsverbrecher und gerade aus der Haft entlassen.
Am 1. September 1999 lasen hundert Wilhelmshavenerinnen und Wilhelmshavener von morgens 5.45 Uhr bis Mitternacht in der Kirche aus Feldpostbriefen vor. Vertreter der Stadt eröffneten den Lesemarathon, der an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnern sollte. Den ganzen Tag über kamen und gingen Zuhörer.
Die denkmalgeschützten Kriegsflaggen verschwanden nach der Expo 2000 aus der Kirche. Sie drohten sich aufzulösen und mussten zur Restauratorin. Eine einzige hängt jetzt auf der Empore im Südschiff; die anderen sind nicht mehr zu retten.
Marinesoldaten waren gegen das Herero-Denkmal
Ein zweiter Lesemarathon folgte am 8. Mai 2005: Erinnerungen von 80 Wilhelmshavenern an ihr Kriegsende sechzig Jahre zuvor, alle in zufälliger Folge. Auf den Bericht der BDM-Führerin folgte der eines früheren Häftlings. Wieder strömten die Menschen. Inzwischen war die Christus- und Garnisonkirche zu einem der wichtigsten Gedenkorte der Stadt avanciert.
Cindi Jacobs
Ende 2005 regte der Leiter der Kunsthalle Wilhelmshaven einen Bildtausch mit der Kirche an. Vom zweiten Advent bis Ende Januar 2006 hing das Altarbild der Christus- und Garnisonkirche in der Kunsthalle: Sonnenuntergang über der stillen See nach der Schlacht von Skagerrak. Und ein Schüttbild des Künstlers Hermann Nitsch hing überm Altar: Blut vom Schlachthof, auf einer Leinwand ausgegossen und verspritzt. „Unser Altarbild zeigt die Oberfläche, das Schüttbild führt runter an den Grund des Meeres“, sagt Morgenstern. „Wir hatten alle Weihnachtsgottesdienste damit. Noch heute kommen Leute und sagen:
‚Sie haben ja wieder das alte Altarbild.‘ Dabei war von Anfang an klar: Das kommt nur vorübergehend weg.“
Verurteilte Kriegsverbrecher waren zur Einweihung eingeladen
Seit einer Kirchenrenovierung 2011 erzählt eine Ausstellung auf der Empore die Geschichte der Kirche. Und kürzlich haben das Deutsche Marinemuseum und die Christus- und Garnisonkirche die Ausstellung „Mit Schwert und Talar“ eröffnet. Sie porträtiert drei Pfarrer, die im Laufe ihres Lebens mit Wilhelmshaven in Berührung kamen. Martin Niemöller, später Hitlerverehrer und zugleich Widerstandskämpfer, kam im Ersten Weltkrieg als U-Boot-Kommandant in die Stadt. Ludwig Müller, Reichsbischof unter Hitler, war seit Anfang des Ersten Weltkriegs bis Mitte der 20er Jahre Pastor der Kirche. Pfarrer Friedrich Ronneberger war ab 1915 die prägende Gestalt der Wilhelmshavener Garnisongemeinde.
Für die Ausstellung haben der Chef des Marinemuseums und Morgenstern die Geschichte des Mahnmals für den unbekannten Soldaten aufgearbeitet. Ronneberger hatte es nach seiner Pensionierung durchgesetzt und zur Einweihung verurteilte Kriegsverbrecher eingeladen. Erst wollte er den im Ersten Weltkrieg gefallenen Dichter Johann Wilhelm Kinau (bekannt als Gorch Fock) in die Gruft umbetten lassen. Aber dessen Familie sperrte sich. Also ließ er einen unbekannten Soldaten vom Friedhof exhumieren. Dagegen konnte sich keiner wehren.
Die Ausstellung wird am Reformationstag enden. An dem Tag wird die Vierung der Kirche mit Worten aus dem Gästebuch der Kirche eingekleidet: „Hallo, lieber Gott! Schade, dass niemand von den Toten mit uns reden kann.“ Und: „Heute besuche ich mit meiner kleinen Enkelin diese wunderbare Kirche. Wir sind beide gerührt. Sie spricht ihr erstes Gebet.“