Ja, guckt denn hier keiner? Es ist 13:26, es ist 13:27, 13:28... und eigentlich hatte Eckart von Hirschhausen doch zu diesem Flashmob auf gerufen. #dusiehstmich, jeden Tag um 13.29 sollten Kirchentagsbesucher mit den Händen ein Fernrohr bilden und eine Minute inne halten. Jemanden angucken, wahlweise den nächsten, den übernächsten oder den Himmel. Aber zumindest hier in Halle 3.2, wo wir immerhin um 12 Uhr kollektiv geschwiegen haben zum Fluchtgedenken, da faltet keiner seine Finger zum Fernrohr. Geschäftiges Treiben auch um 13.31, nix mit Flashmob.
Aber das ist, ganz ehrlich, nicht so tragisch. Erstens weil alle Sätze rund um die Wortfamilie "sehen" auf diesem Kirchentag so inflationär sind, dass niemand wirklich eine weitere optische Aktion vermisst hat. Guckst du hier, Ich sehe was, was du nicht siehst, sehen und gesehen werden, Endlich siehst du mich, Schau mir in die Augen... es reicht. Wirklich. Auch ohne Guckrohr.
Langsam ist es vobeit mit Narzissmus
Man vermisst die Aktion zweitens nicht, weil der evangelische Doktor Hirschhausen trotzdem sehr, sehr präsent ist auf diesem Kirchentag, und das ist wirklich ein Segen. Auf dem Eröffnung-Gottesdienst, bei der Bibelarbeit, bei Gesundheits-Foren und Abendkonzert - was für ein Einsatz. Klug, evangelisch und witzig, ein echter Gewinn.
Drittens, und das ist das wichtigste: Der Spirit der geplanten Aktion - guck auf deinen Nachbarn, zeig dich - der ist Mainstream auf diesem Kirchentag. Drum braucht‘s vielleicht auch keinen Flashmob. Wenn der Kirchentag ein "Zeitanzeiger" ist, dann für dieses Phänomen: Es ist langsam vorbei mit dem narzisstischen "Hoffentlich haben mich alle gesehen". Es wächst das Bedürfnis, nach draußen zu gehen, ins Gespräch zu kommen. Pulse of Europe, der Protest gegen den AfD-Parteitag (bei dem beide großen Kirchen eine zentrale Rolle spielten), die neue Lust der jungen Leute, sich in Parteien und Initiativen zu engagieren - all das geht weit übers kirchliche Milieu hinaus. Selbst die Tagesschau hat heute eine Aktion "Sag's mir ins Gesicht" gestartet. Mit dem Motto könnte sie glatt eine Bibelarbeit in der Gedächtniskirche abhalten.
Die Botschaft, lieber Eckart von Hirschhausen, ist angekommen. Ganz ohne Flashmob. Und das Kirchentagsmotto hat selten so gut gepasst wie dieses Jahr.