Yarkon Friedhof in Petah Tikva
ISRAEL, Petah Tikva - View on graves located at the top floor of a modern four story building for high density burials and the neighboring city of Petah Tikva on Sunday, March 26, 2017. The Yarkon Cemetery has been the main cemetery for the Tel Aviv Metropolitan Area since 1991. When first opened, the cemetery covered an area of 230 acres, but has since been expanded to over 570 acres. There are plans for fourteen complexes, each four stories high, that are destined for “high density” burials. Three of these high buildings have already been completed. (Jonas Opperskalski / laif)
Jonas Opperskalski
Dem Himmel so nah
Auf der Suche nach der ewigen Ruhe in einer überbevölkerten Welt
Autorenfoto Franziska Knupperprivat
16.05.2017

Avi Saban legt den Kopf in den Nacken und schaut nach oben. “Zweiter Stock, auf der linken Seite”, sagt er und zeigt mit dem Finger auf das sandsteinfarbene Gebäude. Irgendwo da, im zweiten Stock, 15 Meter über dem Erdboden, ist die letzte Ruhestätte seiner Großmutter Edith Saban. “Wir haben es versäumt, uns rechtzeitig um eine Grabstätte für sie zu kümmern. Ihr Tod kam überraschend”, erzählt Avi, ältester Enkel von Edith. “Aber sie wollte unbedingt auf diesem Friedhof begraben werden, das hat sie immer gesagt. Hier liegen auch ihre Eltern und hier in der Nähe wohnt die ganze Familie”, Avi hält inne und wirft erneut einen Blick auf das massive Gebäude vor ihm. “Hoffentlich sind wir ihrem Wunsch nachgekommen”.

Der Yarkon Friedhof ist riesig. In einem Vorort von Tel Aviv gelegen, galt er bislang als eine der größten Begräbnisstätten des Landes mit einer Kapazität von 110.000 Gräbern auf einer Fläche von 60 Hektar. Doch es wird eng in Israel. Die Fläche des winzigen Landes wird sowohl für die Lebenden als auch für die Toten knapp. Architekten, Politiker und Stadtplaner suchen nun nach Lösungen, um die Toten weiterhin in der heiligen Erde Israels begraben zu können. Auf dem Yarkon ruhen die Verstorben daher seit einem Jahr auf mehreren Etagen. Die drei mehrstöckigen Gebäude, mit Sicht auf die Skyline der Stadt und jeweils vier Etagen sind fast fertig. Die Gärter sorgen für den letzten Schliff, die rote Erde liegt aufgewühlt auf jedem Stockwerk. Avis Großmutter ist eine der ersten, die hier begraben liegt.

Gräber auf dem Dach einer vierstöckigen Anlage. Petah Tikva, Yarkon Friedhof

“Nach jüdischem Glauben ist dieser Platz nun auf Ewigkeit belegt. Das Grab darf nicht bewegt werden”, erklärt Avi. Im Gegensatz zum Christentum ist die sogenannte Ruhefrist im Judentum zeitlich unbegrenzt. Man wartet auf die Ankunft des Messias, auf den Tag des Jüngsten Gerichts, an dem die Toten sich erheben werden, mit allen Knochen und Organen, intakt und bereit, die Herrschaft des Heiland zu begrüßen. Der Körper muss daher in einem Stück belassen werden. “Daher ist auch die Urnenbestattung ein religiöses Tabu”, so Avi. Das jüdische Totenritual basiert auf der Austreibung Adam und Evas aus dem Paradies, einer Passage in Genesis: “Denn Staub bist du und zum Staub zurück kehrst du” und schließt damit das Verbrennen der menschlichen Überreste aus.

Das Problem der überbevölkerten Friedhöfe, die aus den Nähten zu platzen drohen, konnten jedoch auch die Rabbiner der Hevra Kadisha, der ogenannten Begräbnisgesellschaft Israels, die alle Bestattungen in Israel übersieht, nicht länger ignorieren. Zunächst erlaubte man doppelte Begräbnisse - Eheleute dürfen nun am selben Ort übereinender begraben werden, solange eine harte Schicht Lehm oder Zement sie voneinander trennt. Doch in Zeiten, in denen die Bevölkerungsrate unter orthodoxen Familien stetig zunimmt, Einwanderer aus Russland und Frankreich das Land überschwemmen und der Speckgürtel um die Großstadt Tel Aviv immer dichter besiedelt ist, reichen auch doppelte Begräbnisse nicht. “Wenn wir zu unseren Lebzeiten kein Problem damit haben, in mehreren Etagen übereinander zu wohnen, warum stört uns das im Tode?”, fragt Tuvia Sagiv, Architektin und Designerin.

Schon vor 2000 Jahren habe man die Toten übereinander begraben, sagen die Rabbiner
Sie und ihr Kollege Uri Ponger schlugen schon  im Jahre 2001 den Bau von Grabstätten auf mehreren Etagen vor. Die drei Hochhäuser am Yarkon sind ein Pilotprojekt. “Sie werden ungefähr 250.000 Gräber fassen. Damit haben wir erstmal einen Puffer von 25 Jahren”, so Sagiv.  Damit der Bauplan genehmigt wurde, mussten religiösen Auflagen beachtet werden: Durch die Türme ziehen sich Rohre gefüllt mit Erde, sodass jede Etage theoretisch mit dem Erdboden verbunden ist. Das Design soll an die vorchristliche Zeit der Region erinnern als die Verstorbenen noch in Höhlen und Katakomben begraben wurden. “Außer, dass man jetzt mit dem Fahrstuhl in die verschiedenen Etagen fahren kann”, fügt Avi hinzu.

Die Idee mehrstöckiger Friedhöfe ist jedoch keine israelische Innovation. Auch andere Länder, wenn auch nicht so klein, kämpfen mit der “Überbevölkerung der Toten”. Die Megacities, Großstädte mit über zehn Millionen Einwohnern, brauchen Platz. Nicht nur für die Lebenden. In 1985 gab es lediglich neun, heute sind es bereits 26 Mega-Metropolen mit den Spitzenreitern Mumbai, Mexico City, Seoul und Tokyo. Sollte das Bevölkerungswachstum im gleichen Tempo voranschreiten, wird die Anzahl der Menschen auf diesem Planeten in 40 Jahren auf über neun Milliarden angestiegen sein und die Mehrheit der 10.000 Babies, die jeden Tag geboren werden, wird in urbanen Gegenden aufwachsen. Damit werden über 70 % der Bevölkerung den Megacities angehören und dort voraussichtlich auch versterben.

In vielen Städten hat man sich bereits darauf eingestellt: Der Turm der Toten in Mexiko City erstreckt sich sowohl in die Höhe als auch in die Tiefe. Er ist Hochhaus und gleichzeitig 250-Meter tiefes Untergrundmausoleum. Noch höher hat man in Santos, Brasilien gebaut. Das Memorial Necropole Ecumenica verfügt über 32 Stockwerke, ein Restaurant sowie mehrere Gärten zum nachdenken und trauern und hat sich bereits als Touristenattraktion etabliert. Auch das Viertel Stadt der Toten in Kairo erfreut sich einer ansteigenden Zahl von Besuchern, die das Morbide nicht fürchten: Dort müssen sich die halbe Million Einwohner ihre Küchen und Wohnzimmer mit Grabkammern teilen und die Wäsche zwischen den Grabsteinen aufhängen.

Koukoku-ji-Tempel, Tokio
Im sechs-stöckigen, buddhistischen Kouanji Tempel in Tokyo geht es hingegen geordneter zu. Hier können sich Angehörige mithilfe einer Mitgliederkarte die Urne des Verstorbenen per Förderband innerhalb von Minuten anliefern lassen. Und in Hong Kong, wo sich die Kosten auf ein privates Grab innerhalb der Stadtgrenzen mittlerweile auf umgerechnet 40.000 Euro belaufen, haben sich die Architekten des Bread Studios etwas Extravagantes einfallen lassen, um dem Platzmangel der Stadt Herr zu werden: Auf der Floating Eternity, einem Kreuzfahrtschiff auf Unterwasserschienen, sollen bis zu 370.000 Urnen gelagert werden, sodass die Toten in den Gewässern des Südchinesischen Meeres auf immer gleicher Route bis in die Ewigkeit vor dem Festland treiben können.

Dabei muss man nicht lediglich auf die Länder mit explodierenden Geburtenraten schauen, um zu begreifen, dass Platzmangel auf Friedhöfen mittlerweile ein weltweites Problem darstellt. Kürzlich berichtete der BBC, dass auch England sich am Rande einer “Friedhofskrise” befindet. Man erwarte, dass 76 Millionen Menschen, die Generation der späten Baby Boomer, in England allein zwischen 2020 und 2040 sterben werden. Für die Gräber benötigt man eine Fläche in der Größe von Las Vegas. Der verbleibende Raum in den Metropolen des Landes wird dafür nicht ausreichen. So hat man bereits mit der Exhumierung menschlicher Überreste auf Friedhöfen im Stadtzentrum begonnen und sie anschließend in tieferen Bodenschichten wieder vergraben, um so Platz für neue Ankömmlinge zu schaffen.

“Das wäre für uns eine Katastrophe”, erklärt Avi. “Meine Großmutter jedenfalls würde sich im Grabe umdrehen wenn sie wüsste, da hat vorher schon mal ein Fremder drin gelegen”, sagte er und muss lachen. Er schultert seinen schwarzen Rucksack und geht auf das Hochhaus zu. Der Fahrstuhl ist modern, aus Metall und blank poliert. Nur die Fußabdrücke aus roter Erde verraten, dass man nicht gerade ein schickes Großstadtbüro betritt. Es könnte schlimmer sein, findet Avi. Immerhin habe man eine gute Aussicht. Er macht einen Schritt in den Aufzug hinein und drückt auf den grünen Knopf für die zweite Etage. “Früher wurden wir in der Wüste in irgendwelchen Bergen begraben. Heute bauen wir uns diese Berge eben selbst”. 

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