Zucken an den Mundwinkeln. So fing es bei Elias an. Er war fünf Monate alt, der Kinderarzt sagte zu den Eltern, regen Sie sich nicht auf. Auch andere sagten, der hat nichts. Bis endlich eine Ärztin das Zucken sah und wusste: Das sind epileptische Anfälle. Es war 2012 und Elias ein Jahr alt, und die Anfälle wurden heftiger, das Kind sackte zusammen, spie und sabberte, kam hoch, sackte zusammen, kam wieder hoch, minutenlang, sechs, sieben Mal am Tag, manchmal auch zwanzig Mal, so erzählen es Melanie und Tim Jacobs heute. Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. Sie kann genetisch bedingt sein, durch eine Fehlbildung, einen Tumor, eine Verletzung im Gehirn entstehen. Nervenzellen feuern unkontrolliert Signale, wie ein Gewitter im Kopf. Manchem Patienten zuckt nur ein Augenlid oder ein Arm, manche sind abwesend, wieder andere nesteln an ihrer Kleidung herum oder schmatzen; das dauert 40 bis 60 Sekunden. Seltener ist der Grand Mal, der große epileptische Anfall: Der ganze Körper überstreckt sich, alle Gliedmaßen zucken rhythmisch, nach längstens fünf Minuten ist er vorbei.
Bei Fynn Backhaus, 23 und Karosseriebauer aus der Nähe von Wilhelmshaven, ist es so. „Das kann erschreckend aussehen“, sagt er, „ich selbst bekomme davon aber nichts mit.“ Er bemerkt auch keine Vorzeichen, es haut ihn einfach um: „Und aus, die Lichter.“ Danach schläft er tief, bekommt Muskelkater und fühlt sich schlaff. Den ersten Anfall hatte er mit 15, seitdem nimmt er Medikamente, aber ein, zwei Grand Mals hat er trotzdem pro Jahr. Die Tabletten, Levetiracetam, zweimal 1250 mg täglich, machen ihn ganz „drömelig“. Er fühle sich wie im Nebel. Das nervt ihn. Fynn Backhaus restauriert historische Fahrzeuge, neulich etwa einen Cadillac V16 Roadster von 1933. Dazu muss er Fotos oder Zeichnungen ins Blech umsetzen, das geht ohne Tabletten besser.
Er würde so gerne ohne die Tabletten leben
Vergangenen Sommer hat er sie eigenmächtig abgesetzt. Die Folge – ein Anfall. „Ist nach hinten losgegangen, ne“, sagt er und lächelt schief. Er würde so gerne ohne die Tabletten leben. Darum ist er nun für elf Tage zur Diagnostik in Bethel, er möchte wissen, ob ihm die Ärzte die Epilepsie aus dem Kopf operieren können. Aber erst mal müssen sie herausfinden, welche Art von Epilepsie Fynn hat. Die eine könnte man nicht operieren, weil sie das ganze Gehirn beträfe, die andere schon – wenn der sogenannte Herd, von dem die Anfälle ausgehen, an einem relativ unwichtigen Ort wäre. Wichtig ist zum Beispiel das Sprachzentrum.
Bei Familie Jacobs ging die Unsicherheit erst mal weiter. Eine Cortisontherapie brachte auf Dauer wenig, Medikamente dämpften das Kind sehr. Als Elias fast zwei Jahre alt war, bestätigte ein Gentest die Diagnose: Tuberöse Sklerose, TSC1, die meist mil-dere Form. Sie kann in fast allen Organen Tumore verursachen, meist sind sie gutartig, häufig sitzen sie im Gehirn. Manche Menschen haben keine Beschwerden, bei anderen, wie Elias, lösen sie epileptische Anfälle aus. Im Sommer 2013 fuhren die Eltern für ein paar Tage mit ihm nach Bethel: MRT, EEG, Videomonitoring, neuropsychologisches Gutachten. Melanie Jacobs weinte viel in dieser Zeit. Daheim, in der Nähe von Bremen, sagte eine Bekannte, wie froh sie sei, dass ihr eigenes Kind nur Neurodermitis habe – wie verletzt Melanie da ist!
"Medikamente sind nicht harmloser"
Aber die Familie half, die Großeltern, die Tanten und Onkel, sie informierten sich, sie kamen immer wieder mit ins Krankenhaus, um Melanie und Tim zu entlasten. Die Anfälle wandeln sich, sie werden „tonisch“, Elias versteift sich, hält inne, dreht Augen und Kopf nach rechts oben und blinzelt, 30 bis 60 Sekunden dauert das, bis zu fünfundzwanzig Mal am Tag. Neue Medikamente, Valproat, Vigabatrin, Topiramat, nichts lindert dauerhaft. Eine gute Nachricht gibt es aber auch: Elias ist zwar anfallsgeplagt, aber ansonsten ein normal entwickelter kleiner Junge. Er besucht eine Krippe, er liebt es, Bücher anzuschauen, und erzählt selbst kleine Geschichten von einem Bären, der im Wald lebt. Dann, wieder in Bethel, der Vorschlag der Ärzte: „Eine Operation könnte Elias zu 50 bis 60 Prozent anfallsfrei machen.“ Oh! Die Jacobs überlegten und haderten. Erst mal probierten sie noch die ketogene Diät, besonders fettreiches Essen, manchen hilft das. Immer sonntags kochten sie für die ganze Woche vor, kompliziert ist das! Die Folge: keine Anfälle tagsüber, nachts fünf bis sechs. Also doch operieren?
Er trägt kurze Hosen und ein schwarzes Shirt des „Deichbrand Festivals“, das sommers an der Nordsee stattfindet. „Viele Patienten haben Angst, dass ihnen beim Anfall etwas passiert“, sagt er, sie seien sehr vorsichtig. Einmal ist er bei einem Anfall mit dem Kopf gegen eine Heizung geknallt, danach hatte er eine schwere Gehirnerschütterung, und er musste wieder gehen lernen. „Aber wenn einen ein Geisterfahrer erwischt, kann es auch vorbei sein.“ Er will der Epilepsie nicht die Regie über sein Leben überlassen. Deshalb tut er, was ihm Spaß macht, er besucht Festivals, schwimmt, fährt Snowboard mit seinen Kumpels, und Kumpels hat er viele. Was Menschen mit Epilepsie oft erleben, dass andere sie für dumm oder verrückt halten, kennt er nicht.
Ein Risiko: halbseitige Lähmung
Je länger er ohne Tabletten ist, desto mehr kommen seine Gefühle zurück. „Wahnsinn“, sagt er, „alles fühlt sich schöner an.“ Er könne schneller nachdenken. Und er sei noch verliebter in seine Freundin als ohnehin. In seiner fünften Nacht in Bethel hat Fynn Backhaus, unter Schlafentzug, endlich seinen Anfall. „Wenn Epilepsie nicht heilbar ist, soll das Leben so gut wie möglich sein“, sagt Tilman Polster, das ist der Anspruch, den sie in Bethel haben. Fürsorge und Nächstenliebe sind hier ebenso wichtig wie Hightech. Das haben auch Elias Jacobs und seine Eltern erlebt. Die Klinik hat ein Hochleistungs-MRT, es macht superscharfe Bilder. Darauf sieht man ein paar weiße Areale in Elias’ Gehirn, sogenannte Tuber. Weil man noch genauer wissen muss, welcher der anfallauslösende Herd ist, implantiert der Neurochirurg Thilo Kalbhenn Elias für eine Woche Tiefenelektroden ins Gehirn. Mit einem Verband, der wie ein Turban aussieht, sitzt der Junge im Bett. Gar nicht einfach, den Dreijährigen bei Laune zu halten. Intensivdiagnostik heißt das, es wird klar: Man muss eine Stelle in der rechten Hirnhälfte herausoperieren, fünf mal vier Zentimeter, ganz nah an der Zentralregion, und die steuert die Bewegungen. Ein Risiko, wenn auch ein geringes: eine halbseitige Lähmung.
Fynn Backhaus ist wieder zu Hause, er arbeitet an einem BMW 328. Die Ärzte haben nach seinem Anfall weitere Tests gemacht. Leider hat sich herausgestellt, dass seine Epilepsie nicht operierbar ist. Aber er nimmt nun nur noch zwei Drittel seiner Medikamentendosierung und hofft, dass er damit weniger „bedrömelt“ ist. „Mal gucken, wie es auf Zeit läuft“, sagt er. Sonst kommt er noch mal zurück nach Bethel und versucht es mit einem anderen Wirkstoff. Elias ist seit über zwei Jahren anfallsfrei, ein Wirbelwind, nach den Sommerferien kommt er in die Schule. Unter dem blonden Wuschel fällt die Narbe, die sich über den Schädel schlängelt, nicht auf. Sein Arm funktioniert wieder. Der Junge muss jährlich auf Tumore untersucht werden, bisher ist alles gut. Melanie und Tim Jacobs sagen, früher sei Elias immer der Prinz gewesen, und nun müssten sie ihn erziehen. Aber dieses Alltagsproblem haben sie gern.