chrismon: Madame Meurisse, wie geht es Ihnen?
Catherine Meurisse: Viel besser. Die Arbeit an meinem Buch hat mir gutgetan, sie war geradezu therapeutisch. Und ich bekomme seit seinem Erscheinen viel Zuspruch. All das hat sehr zu meinem . . . sagen wir: Wiederaufbau beigetragen. Aber ich merke, dass ich langsamer bin als früher, mehr Zeit brauche für mich und für die Dinge, die mich stärken.
Der Anschlag auf die Redaktion habe Sie zerstört, sagen Sie.
Ja. Ich bin durch einen Zufall – der Bus ist mir vor der Nase weggefahren – zu spät zur Redaktionskonferenz gekommen. Und dieser Zufall hat mein Leben gerettet. Aber ich habe die Mitglieder meiner Charlie-Ersatzfamilie verloren. Ich war zunächst wie betäubt und litt unter Amnesie, Gedächtnisstörung. Die Erinnerung kam dann langsam zurück. Aber ich hatte Angst, meine Fähigkeit, zu zeichnen, ebenso verloren zu haben wie meine Freunde und Kollegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, je wieder die Leichtigkeit und Unbeschwertheit des Lebens davor zu empfinden. Es herrschte Stille in mir und um mich herum: keine Literatur, keine Kunst, keine Musik, kein Lachen.
"Ich will nicht immer über die Risiken des Lebens nachdenken"
Sie beschreiben in Ihrem Comic, wie Sie sich auf die Suche nach der Leichtigkeit begeben – haben Sie sie wiedergefunden?
Der Anschlag ist ein enormer Riss durch mein Leben. Und deswegen war es auch ein ganz schön langer Weg zurück. Aber ja, ich habe wieder Lust aufs Zeichnen; darauf, viel Neues und Schönes zu entdecken – ich lechze geradezu nach Schönheit, sei es in der Kunst oder in der Natur. ‚Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen’, hat der Philosoph Friedrich Nietzsche geschrieben. Im Buch habe ich ein Erlebnis in Rom festgehalten: Ich stand vor einer Plastik, sie zeigt Niobe, die legendäre Königin von Theben, die ihre von Apollon und Artemis hingemetzelten Kinder beweint. Dieses Werk erzählt etwas so Grausames – und ist trotzdem wunderschön. Die Kunst war für mich eine Art Mediator, der mich an die Gewalt heranführte und so half, sie zu verarbeiten.
Können Sie wieder vertrauen?
Wenn man sieht, was sich politisch gerade abspielt: nein. Aber ich habe meine Umwelt schon vor dem Anschlag kritisch gesehen, sonst hätte ich nicht als politische Karikaturistin arbeiten können. Menschlich jedoch habe ich enormes Vertrauen. Das liegt vor allem an meinen Freunden, die mich in dieser schweren Zeit so wunderbar gehalten haben.
Empfinden Sie keinen Hass?
Nein. Die Morde bei Charlie Hebdo, sie waren Hass. Wenn ich diesem Gefühl in mir Raum gäbe, spräche ich die gleiche Sprache wie die Terroristen. Das will ich auf keinen Fall. Stattdessen möchte ich die Wut und die Trauer, die natürlich in mir sind, in etwas anderes verwandeln. In etwas, das mich und andere aufbaut, anstatt zu zerstören. Sie ahnen sicher, was das ist: meine Bücher, Kunst! Ich empfände es als einen enormen Verlust, wenn man aus Angst keinen Zugang mehr zur Kunst oder Musik hätte, die einen enorm trösten können. Ich werfe mich seit dem Anschlag erst recht hinein, sauge alles auf und lasse mich davontragen, erheben, anstatt über die Risiken des Lebens nachzudenken.
Frankreich wurde wie Deutschland vom islamistischen Terror hart getroffen. Was sagen Sie Freunden, die aus Angst nicht mehr zu Konzerten gehen?
Fast jeder von uns kennt jemanden, der im Konzerthaus Bataclan oder in einer der Bars war, die von den Anschlägen betroffen waren. Gerade in Paris und Nizza ist uns Franzosen der Terror sehr nahe gekommen. Angst ist deswegen eine völlig natürliche Reaktion. Und wenn jemand sich unwohl fühlt in einem Konzertsaal, dann darf man ihn nicht zwingen.