Es war an einem Freitag, als mich die Studentin Elyan Musazadeh einlud, den Abend bei ihrer Familie zu verbringen. Die Musazadehs waren Mittelklasse-Iraner mit vier Kindern, einer Eigentumswohnung und einer kleinen Firma, die Schuhe und Taschen herstellte. In der jüdischen Gemeinde waren sie nicht aktiv.
Ich betrat ein typisch iranisches Wohnzimmer mit fast dreißig Sitzgelegenheiten. „Wir haben niemals so viele Gäste“, amüsierte sich Elyan, „aber die Mutter will es so.“ Am Türrahmen zu jedem Zimmer hing eine Mesusa, die jüdische Schriftkapsel. Draußen vor der Wohnungstür war keine angebracht worden. Man muss den Nachbarn ja nichts auf die Nase binden.
Als ich ankam, machten sich Elyans jüngere Schwestern gerade für die Synagoge fertig; ihr kleiner Bruder und der Vater waren schon vorausgegangen.
Bevor sie das Haus verließen, es wurde jetzt dunkel, eröffnete die Mutter den Sabbat. Sie legte sich dafür einen dünnen Schal übers Haar, zündete zwei Kerzen an und nahm vom Küchenbord einen gerahmten Gebetstext in Hebräisch. Sie sprach das Gebet mit lauter Stimme, dabei mit dem Ton des Fernsehers konkurrierend. Ihn auszuschalten war es jetzt zu spät – am Sabbat sollen keine elektrischen Geräte benutzt werden. „Das macht nur der Vater“, erklärte Elyan. Anscheinend war es sein Vorrecht, die Regel zu brechen. Alle hatten ihr Haar frisch gewaschen, denn in den nächsten 24 Stunden wurde nicht geduscht. Auch kein Internet benutzt.
Manche hebräischen Vornamen werden von Muslimen benutzt
Musazadeh, das bedeutet übersetzt: die Nachkommen von Moses; es schien mir ein typisch jüdischer Name zu sein, aber ich irrte mich. Auch iranische Muslime können so heißen, denn sie verehren Moses gleichfalls als Propheten. Aber ihr Vorname, sagte Elyan, sei jüdisch, er bedeute „Licht Gottes“; sie werde von Kommilitonen häufig neugierig auf den Namen angesprochen und erlebe keine feindseligen Reaktionen.
Religiöse Minderheiten sind manchmal an den Namen erkennbar, aber genauso oft eben nicht. Familiennamen wurden im Iran erst Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt und häufig von Orten oder Berufen abgeleitet. Es gibt hebräische Vornamen, die von Muslimen benutzt werden, etwa David, von ihnen Davud ausgesprochen. Ebrahim (Abraham), Soleiman (Salomon), Eschaq (Isaac) oder Yaqub (Jacob) verweisen gleichfalls auf ein geteiltes religiöses Erbe. Und alte persische Namen sind heute bei Juden ebenso in Mode wie bei den übrigen Iranern.
Ein Wandkalender im Flur erregte meine Neugier. Auf einem einzigen Blatt zeigte er die Komplexität iranischen Lebens. Für jeden Tag vier verschiedene Daten, vier Monatsnamen, vier Jahreszahlen. Der gregorianische Kalender, der muslimische Mondkalender, der iranische Sonnenkalender und als Viertes der jüdische Kalender, demzufolge wir bereits im sechsten Jahrtausend leben. Im Mittelteil standen Empfehlungen, welcher Abschnitt der Thora zu lesen sei. Am Fuß des Blatts warben ein jüdischer Zahnarzt und eine koschere Pizzeria.
Iranische Abendeinladungen: Wenn man satt ist, kommt erst das Essen
Als die Synagogengänger zurückkamen, setzten wir uns zu Tisch. Herr Musazadeh, ein ruhiger, zurückhaltender Mann mit grauem Vollbart, sagte nicht viel. Die Mutter hatte sich nun zu ihrer ärmellosen Lurexbluse erneut den Schal übers Haar gelegt. Der Vater sprach ein Gebet, alle sagten Amen, und er trank den ersten Schluck von einem hochprozentigen Weißwein, den die Familie selbst auf dem Balkon gekeltert hatte. Das Glas wurde herumgereicht, ich bekam es als Ehrengast nach dem Vater; danach nahm jeder einen winzigen Schluck, auch der kleine Sohn benetzte die Lippen.
Es folgten Trauben und Bananen. Ein mit religiösen Motiven besticktes Tuch, das Brot abdeckend, wurde gelüftet; der Vater brach die dünnen Fladen und gab jedem ein Stück. Anschließend Fisch, obligatorisch am Sabbat; es war Thunfisch aus der Dose, dazu ein Salat aus Roter Bete und Apfel. Dann Gebäck und Tee. Als ich den Abschied einläuten wollte, sagte Elyan: „Aber nein! Es gibt doch noch Abendessen!“ Auch dies war wie bei anderen iranischen Abendeinladungen: Wenn man satt ist, kommt erst das Essen.
Die Mutter machte sich mit Hilfe der jüngeren Töchter in der Küche zu schaffen. Eigentlich war wegen der Sabbatregeln alles vorgekocht, aber der Reis schmeckte doch besser frisch! Der Junge spielte währenddessen um die zahlreichen Stühle herum Fußball, während sich der Vater vor den Fernseher setzte und über dem Regelbruch einnickte. Als alle erneut am Tisch saßen, gab es Huhn im Gemüseeintopf.
Ein Friedhof für junge Holocaust-Flüchtlinge
Am Nachmittag, vor dem Beginn der Sabbatruhe, war ich mit dem Vater und Elyan zum jüdischen Friedhof von Teheran gefahren. Das große Friedhofstor stand offen. Mein Blick fiel als Erstes auf ein Mahnmal, es gedachte der jüdischen Gefallenen im Iran-Irak-Krieg. Die Regierung von Hassan Rohani hatte es aufstellen lassen, von Nationalflaggen flankiert – eine Geste an die iranischen Juden, dass ihre Märtyrer gleichermaßen zählten.
Wir kamen am Grab von Elyans Großvater vorbei, ihm hatte eine koschere Metzgerei gehört. Herr Musazadeh hielt auch an der Grabstätte eines früheren Lehrers inne und legte für einen Moment die Hand auf den Stein. Als wir uns dem Zaun des Friedhofs näherten, sah ich die Gräber, derentwegen ich vor allem gekommen war: Sie gehörten Holocaust-Flüchtlingen.
Flache, rötliche Steinplatten lagen in Reihen, wie bei Soldatengräbern. Die Namen darauf klangen polnisch, manche deutsch. Jede Platte trug eine Nummer, die höchste war dreiundsechzig. Manche Gräber gehörten Kindern, siebenjährigen, zehnjährigen. Die meisten Platten zeigten als Todesdatum nur eine Jahreszahl: 1942.
In jenem Jahr waren Zehntausende erschöpfter und unterernährter Flüchtlinge in Teheran angekommen. Sie hatten eine furchtbare Odyssee hinter sich; meist aus Polen, einige aus Deutschland stammend, waren sie vor der Wehrmacht durch Osteuropa und die Sowjetunion geflüchtet, drei Jahre lang, und fanden nun im Iran ein zeitweiliges Asyl. In den Trecks, denen auch christliche Polen angehörten, waren knapp tausend jüdische Kinder, meist Waisen. Sie wurden später international als die „Teheran-Kinder“ bekannt.
Die Jewish Agency, die damals die jüdische Einwanderung nach Palästina betrieb, nahm diese Kinder in ihre Obhut und organisierte Anfang 1943 ihren Transport auf dem See- und Landweg nach Palästina. Achthunderteinundsechzig Kinder trafen schließlich dort ein. Sie hatten in vier Jahren mehr als zwanzigtausend Kilometer zurückgelegt.
Es gibt wenig persischsprachige Literatur über den Judenmord
Die rötlichen Steine, vor denen wir standen, zeugten von jenen, die bereits zu entkräftet waren, um sich im iranischen Asyl erholen zu können. Es gab einige größere Grabsteine für erwachsene Flüchtlinge, die offenkundig in Teheran geblieben waren und später verstarben.
Elyan und ihr Vater hatten die Geschichte der Teheran-Kinder nicht gekannt. Obwohl die jüdischen Waisen damals auch die Fürsorge der iranischen Gemeinde erfuhren, war mit der nachfolgenden Generation darüber anscheinend wenig gesprochen worden. Der Holocaust, die Schoah, war für die iranischen Juden anders als für die europäischen ein geografisch fernes Ereignis; sie waren nie bedroht.
Unter den übrigen Iranern ist das Wissen erst recht begrenzt. Es gibt wenig persischsprachige Literatur über den Judenmord – so wenig, dass sich vor einigen Jahren ein jüdisch-iranischer Frauenarzt in Los Angeles daranmachte, die Lücke zu füllen. Ardeschir Babaknia schrieb als engagierter Laienhistoriker ein vierbändiges Werk über den Holocaust in Farsi, das über private Kanäle auch in den Iran gelangte.
Bis zu zweitausend Juden rettete er das Leben
Aber selbst die Geschichte eines Judenretters, eines iranischen Oskar Schindler, ist vielen Iranern nicht geläufig. Abdol-Hossein Sardari, ein Nachfahre der qadscharischen Königsfamilie, hatte in Genf Jura studiert und wurde 1940 Leiter der iranischen Vertretung im besetzten Paris. Noch war Schah Reza an der Macht, er pflegte gute Beziehungen zu Nazideutschland, lehnte aber die Judenverfolgung ab.
Sardari machte sich diesen doppelten Umstand zunutze: Er stellte für Hunderte Juden in Paris iranische Pässe aus sowie andere Dokumente, mit denen sie sicher durch das besetzte Europa reisen konnten. In seinem Schriftverkehr mit den NS-Behörden erfand der Diplomat sogar eine vermeintlich jahrhundertealte persische Judenspezies namens „Djuguten“, die mit den europäischen Juden rassisch nicht verwandt sei.
Wie vielen Juden Sardaris Mut und Geschick das Leben rettete, wissen wir nicht genau; Schätzungen reichen bis zu zweitausend. Zum Schutz der Verfolgten setzte er auch sein Privatvermögen ein. Erst 2004 verlieh ihm das Simon-Wiesenthal-Zentrum posthum eine Auszeichnung.
Drei Jahre später wurde die Geschichte des Judenretters Vorlage für eine Serie im Staatsfernsehen – zu einer Zeit, als Mahmud Ahmadinedschad Präsident war und den Holocaust bekanntlich „einen Mythos“ nannte. Nichts ist in diesem Land unmöglich.
"Wir sind im Krieg. In einem Krieg der Bleistifte"
Ahmadinedschads Nachfolger Rohani und sein Außenminister Javad Zarif bemühten sich, ostentativ ein neues Kapitel zu beginnen, und bezeichneten den Judenmord mehrfach als historische Tragödie. Zumindest Zarif wurde dafür vom rechten Spektrum im Iran heftig gerügt. Die Bewertung der Schoah ist zum Bestandteil des inneriranischen Machtkampfes geworden, und die Hardliner wissen in dieser Frage den Revolutionsführer auf ihrer Seite.
Weniger tote Juden, so die krude Logik, bedeuten eine Schwächung Israels, weil die moralische Begründung seiner Existenz dadurch quasi vermindert würde. Schwer zu sagen, was dabei Überzeugung ist und was bloße Taktik. Eine feindselige Stimmung gegenüber dem Westen und gegenüber Israel ist aus Sicht der Hardliner ein Lebenselixier der islamischen Republik. Sie pflegen für innenpolitische Zwecke die rituelle Doppellosung „Tod Amerika! Tod Israel!“ fast unabhängig von der jeweiligen Außenpolitik.
Antisemitismus ist nach internationalen Studien, etwa durch die US-amerikanische Anti-Defamation League, im Iran weniger verbreitet als in arabischen Ländern, aber es gibt ihn natürlich, und er verquickt sich mit Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern. Zwei sogenannte Holocaust-Karikaturenwettbewerbe waren dafür ein Beispiel. In beiden Fällen war ein weiteres Element der Auslöser: westliche Schmähdarstellungen des Propheten Mohammed, erst in Dänemark, dann im Pariser „Charlie Hebdo“.
Ich traf den Verantwortlichen für die Wettbewerbe, Massud Schodschai Tabatabai, im Teheraner „Haus der Karikaturen“, dessen Direktor er war. Tabatabai, selbst Maler und Grafiker, erklärte mir seine Motive so: „Wir sind im Krieg, in einem Krieg der Bleistifte. Der Westen stellt unsere Religion infrage, also stellen wir infrage, was dem Westen heilig ist.“ Das Thema Holocaust schien dabei nur ein Instrument zu sein. „Ich bezweifle nicht, dass es den Holocaust gab“, sagte Tabatabai. „Es gab Auschwitz, es gab die Gaskammern. Aber die Zahl der Opfer wurde übertrieben, im Interesse der Zionisten.“
Ein Kniefall vor den Hardlinern?
Tabatabai zeichnete auch für „Kayhan“, das publizistische Flaggschiff der iranischen Hardliner. Er war als junger Freiwilliger im Iran-Irak-Krieg gewesen. Dessen Opfer hielt er in hohen Ehren. Für die Opfer des Holocaust empfand er nichts.
Über die unappetitlichen Wettbewerbe wurde in westlichen Medien weitaus mehr berichtet als in iranischen. Als Ahmadinedschad 2006 vom Holocaust-Mythos sprach, hatte der damalige jüdische Parlamentsvertreter den Präsidenten öffentlich kritisiert: Das sei „eine Beleidigung aller jüdischen Gemeinschaften der Welt“. 2016, beim zweiten Wettbewerb, zog es die Gemeinde vor, ihn nicht durch Kritik aufzuwerten; immerhin hatte sich die Rohani-Regierung bereits distanziert.
Und doch kam dann ein Nachspiel: Ein leitender Beamter des Kulturministeriums zeichnete die Gewinner jenes Wettbewerbs aus, mit dem die Regierung angeblich nichts zu tun haben wollte. Und dieser Mann war kein Geringerer als der Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst, der Herr über Picasso, Warhol, Pollock.
War das womöglich ein Kniefall vor den Hardlinern, um für anderes mehr Spielraum zu haben? Jedenfalls kann im Iran hinter der nächsten Ecke alles immer anders aussehen, als man eben noch dachte. Auf diesem schmalen Grat balanciert auch die jüdische Gemeinde.
Friedvoll parallel
Noch einmal ein Sabbat, diesmal in Isfahan. Und dies war nicht irgendein Samstag, sondern Aschura, der Höhepunkt des schiitischen Trauermonats. Auf dem Imam-Platz sammelten sich Tausende von Muslimen zur Parade: Trommeln, Kettenschläger, Lehm in Gesichtern. Zehn Minuten Fußweg davon entfernt waren in der Keter-David-Synagoge etwa hundert Männer und zwei Dutzend Jungen in naturweiße Gebetsschals gehüllt. Die Frauen saßen auf der Balustrade, sie trugen ihre Straßenkopftücher. Durch bunte Glasfenster fiel ein weiches Licht in die Halle.
Einige Männer sangen, die Jungen liefen umher, spielten mit ihren Schals und krähten mit hellen Stimmen frisch gelernte hebräische Verse. Ein kleiner Junge kletterte auf einen Plastikstuhl und durfte eine Zeile aus der Thora vorlesen. Dies war keine sterbende Gemeinde. Die Isfahaner Juden, es waren etwa eintausendsechshundert, hatten genug Kinder, um sich zu erhalten.
Nach dem Ende des Gottesdienstes trat ich auf die Straße. Immer noch strömten Menschen zum Imam-Platz. Vor der Synagoge wurden mir Nasri in die Hand gedrückt, die schiitischen Wohltätigkeitssnacks, Safranreis mit Zimt.
Ich empfand die friedvolle Parallelität zweier religiöser Ereignisse als kostbaren Moment.