Maie B., Kunstschätzerin, Nicola Iversen, 23, Soziologiestudentin
chrismon: Ihre Oma hat die Kunst in Ihr Leben gebracht. Wie hat Sie das gemacht?
Nicola Iversen: Zwischen den Schulhalbjahren gibt es einen freien Tag. Da haben wir jedes Jahr eine Reise unternommen. Als ich neun Jahre alt war, sind wir zusammen nach Dresden gefahren und haben uns die Stadt und die Museen angesehen. Kunst gibt es auch in ihrer Wohnung, etwa die Bilder, die mein Onkel Axel gemalt hat, und die viele Kunstliteratur.
Maie B.: Nach der Wende fuhren wir nach Warnemünde, die Stadt hat Gebäude aus drei Epochen, im Bauhausstil, aus der Kaiserzeit und aus dem 18. Jahrhundert. Die haben wir den Kindern gezeigt und erklärt.
Iversen: Wir haben einfach etwas zusammen unternommen.
B.: Einmal sind wir bei Eiseskälte mit Nachtwächtern durch Würzburg gelaufen. Da durfte eine Enkelin die Laterne nehmen, die andere die Hellebarde. Weißt du’s noch?
Iversen: Das erinnere ich nicht mehr. In Heidelberg gab es auch einen Nachtwächter. Das vermischt sich.
B.: Wir wollten unseren Enkeln etwas zeigen. Aber es muss mit Spaß verbunden sein. Wir machen noch viel zusammen. Neulich waren wir in der Kunsthalle bei den Surrealisten.
Iversen: Die Bilder waren nicht wirklich meins. Ich finde sie nicht besonders schön. Aber ich gehe da gerne mit dir hin, weil du darüber viel weißt. Das ist dann ein anderer Zugang.
B.: Einige habe ich dir erklärt, und du hast sie dann schon verstanden.
Gibt es etwas, worum Sie Ihre Oma beneiden?
Iversen: Wenn sie von ihrem Architekturstudium erzählt. Oma, dass ihr abends noch mit den Professoren zusammengesessen und bis in die Nacht mit denen gefachsimpelt habt! Da hast du unglaublich viel gelernt, hast Kontakte für später geknüpft. Du bist in deinem Studium ganz aufgegangen. Ich mache mein Studium auch gern. Aber daneben gibt es in meinem Leben viele andere Sachen.
B.: Da hast du recht. Von Straßburg bin ich nach Karlsruhe, wir waren zuerst nur drei Mädels unter vielen Männern. Manches Seminar fing um 17 Uhr an und ging bis in die Puppen. Dann wurden Wein und Zigaretten
herumgereicht und man hat mit heißen Köpfen diskutiert.
Iversen: Du hast dich bei deinem Professor noch persönlich beworben. Beneidenswert. Heute tippt man bei der Uni ein paar Angaben über sich in ein Formular ein.
Ihre Enkelin beteiligte sich an einem Projekt der KZ-Gedenkstätte Neuengamme über Familiengeschichte. Später haben Sie sie dort besucht. Wie war das?
B.: Ich war beeindruckt. Die Gedenkstätte ist streng gestaltet. Keine Trauer im üblichen Sinn. Die Grundrisse für die ehemaligen Häftlingsbaracken mit Steinen abgedeckt. So an die Sache heranzugehen, finde ich richtig: streng strukturiert, trotzdem bewegend. Ich kann verstehen, dass das jetzt in ihr herumgeistert.
Hatten Sie unterschiedliche Sichtweisen?
Iversen: Insofern nicht, als ich das, was du mir über die Zeit erzählt hast, von dir als Erinnerung angenommen und nicht angezweifelt habe. Wir haben auch über Opa gesprochen. Du hast erzählt, dass er nicht über den Krieg gesprochen hat, und du hast das akzeptiert. Ich habe zugehört und nachgefragt. Wenn ich an die NS-Zeit denke, bin ich auf die Verbrechen fokussiert. Aber ich urteile nicht mehr so schnell wie früher über die Menschen, die damals lebten. In der Realität hat ein Mensch immer mit tausend Dingen zu tun. Auch jetzt passieren Dinge, die ich nicht gut finde, zum Beispiel gibt es unfaire Arbeits- und Produktionsbedingungen, die man als Konsument einfach akzeptiert. Man ist beschäftigt mit seinem normalen Leben.
B.: Ich kann mich erinnern, dass meine Eltern zwei Mal jüdische Frauen versteckt hatten. Dass man uns Kindern eingeschärft hat: Wenn es klingelt, schaut erst mal runter. Fremden macht nicht auf. So etwas hat man mitgekriegt. Aber das Ausmaß wussten wenige.
Iversen: Nein, da haben wir unterschiedliche Ansichten.
Wie kommt es, dass Sie an dem Thema weiterarbeiten wollen?
Iversen: Bestimmte Strukturen oder Denkweisen, die für die damalige Entwicklung entscheidend waren – wie Ausgrenzung und soziale Ungleichheit – , spielen noch immer eine Rolle. Ich möchte dazu beitragen, dass das nicht wieder passiert. Es hat für mich einen aktuellen Bezug.
B.: Ich habe sie neulich auch gefragt, was sie da hinzieht. Es interessiert mich nämlich auch. Das ist eine Erklärung, die ich akzeptiere. Weil es darum geht, was man daraus für die heutige Zeit und für die Zukunft lernen kann.
Christina Ningelgen, 65, Rentnerin
Als ich elf Jahre alt war, starb meine Oma. Mit ihrem Tod ging ein Ruck durch unsere Familie. Oma war nicht immer lieb. Sie war eine kleine drahtige Frau, deren Gesicht eine Härte ausdrückte, die einem Angst machen konnte. Ich habe sie nie auf einem Bild lächeln sehen. Sie war die moralische Instanz in unserem Leben, was Großmutter sagte, wurde gemacht. Sie hat ihren Mann um 34 Jahre überlebt. Auch wenn unsere Mutter nicht gerade ein glückliches Leben unter ihrer Herrschaft in unserem Elternhaus hatte, war Oma doch für alle der Fels in der Brandung.
Ihre Kammer lag direkt neben der Küche. Sie hatte ein großes Bett mit gedrechseltem Kopf- und Fußteil und einen passenden Nachttisch. Darauf standen eine altmodische Lampe und ein Schnapsgläschen. Aus diesem trank sie entweder Baldriantropfen oder einen Wermut zum Einschlafen. Jeden Abend las sie in der Bibel. Sie hat uns an Gott glauben gelehrt. Sie hat uns auch Angst gemacht. Die Oma sagte, wenn wir etwas Böses tun, sieht er uns und bestraft uns dafür. Der liebe Gott war immer präsent. Ich habe als Kind oft nach oben geschaut und überlegt, wie ich das anstellen kann, dass er mich nicht sieht.
Wenn es der liebe Gott nicht gesehen hat, hat es meistens die Oma gesehen, sie war ja allgegenwärtig. Ein Blick von ihr genügte, um sich über die Tragweite des Fehlers klar zu werden. Trotzdem war uns unklar, welche Konsequenzen Gott aus dem Fehler ziehen würde. Würde er uns verstoßen? Wir haben jeden Abend um die Vergebung unserer Sünden gebetet, in der Gewissheit, dass er uns verzeiht. Auch das hatte Oma uns gelehrt. Jedes von uns Kindern war glücklich, wenn es abends in ihrem breiten Bett, das wir auf pfälzisch „Rieweloch“ nannten, schlafen durfte. So wie es hieß, roch es auch. Denn so oft wie heute wurde die Bettwäsche früher nicht gewaschen. Der Geruch nach benutztem Bettzeug, nach Alter, Schweiß, Erde und Kernseife, Oma in ihrem Leinennachthemd, all das gab mir eine Geborgenheit, die ich nach ihrem Tod nie mehr erfahren habe.
Weihnachten 1961 legte sie sich hin und stand nicht mehr auf. Die starke Frau sagte jetzt jeden Morgen zu meiner Mutter: „Erna, es tut mir leid, aber heut kann ich nicht aufstehen, ich bin zu müde, um dir zu helfen.“ Schlafen durften wir nicht mehr bei ihr, das wollte unsere Mutter ihr nicht zumuten. Oma, geboren 1869, ist in der ersten Juniwoche 1962 gestorben. Mit ihr ging meine Kindheit. Als sie beerdigt war, haben wir die Kammer umgeräumt. Diesen Raum habe ich später oft in meinen Träumen gesehen, Oma stand darin neben der Nähmaschine. Und sie hat uns nie einen Vorwurf daraus gemacht, dass ihr Bett nicht mehr da war.
Nyima Metzger, 18, Schüler
Als Kind war ich am Wochenende oft bei Großvater und Großmutter. Großvater ist mit mir in den Tiergarten gegangen oder in die Sternwarte. Die Besuche waren eine Konstante in meinem Leben, ich habe dort auch familiäre Wärme gespürt. Mein Vater lebt im Ausland. Der Großvater war ein bisschen wie ein Vater, ich habe zu ihm aufgeschaut. Wir haben immer zusammen gegessen, davor wurde gebetet, außer bei der Kaffeezeit. Zum Frühstück las er immer die Losung: ein Spruch aus dem Alten Testament, ein Spruch aus dem Neuen Testament und ein moderner Text. In letzter Zeit liest er den Spruch in der Originalsprache, also auf Hebräisch oder Griechisch, er übersetzt dann selbst und guckt gleichzeitig in den Text, ob seine Übersetzung stimmt. Ganz schön sportlich! Ich bin immer wieder überrascht von diesen Versen. Ab und zu denke ich: Was da gesagt wird, kann man schon in sein Denken und Handeln integrieren.
Meine Mutter ist Buddhistin, sie ist der Ansicht, dass ein Mensch mehrere Religionen haben kann. Mein Großvater toleriert das – er ist christlich verwurzelt und trotzdem weltoffen. Mit Religion habe ich jetzt wenig Berührung. Ich gehe auch nicht mehr in die Kirche. Ich setze mich damit eher sachlich auseinander, zum Beispiel frage ich mich, ob der Islam zu Deutschland gehört. Aber in erster Linie sehe ich Religion als Privatsache. Großvaters Generation ist ganz anders geprägt als meine – er hat den Zweiten Weltkrieg erlebt. Und Hunger. Er mag es gar nicht, wenn man Lebensmittel wegschmeißt! Großvater betet für den Frieden oder dass Notlagen bald aufhören, zum Beispiel betet er für die Geflüchteten. Das gefällt mir.
Er hat mir auch ganz praktische Dinge beigebracht. Letztens erklärte er mir, wie man das Jahr bestimmen kann, von dem in einer geschichtlichen Überlieferung die Rede ist: Man kann sich zum Beispiel an einer Sonnenoder Mondfinsternis, die dort erwähnt wird, orientieren. Ich interessiere mich für Geschichte. Wie mein Großvater. Es macht bestimmt Freude, Sachen zu studieren, die einmal passiert sind. Ich sollte öfter zu ihm hinfahren. Irgendwann wird er nicht mehr da sein.
Martin Metzger, 89, biblischer Archäologe und Alttestamentler
Einmal, als Nyima noch klein war, besuchte ich ihn und seine Mutter in Hamburg. Er saß am Fenster und hat auf mich gewartet. Ich ging die Treppe hinauf, und da stürzte er sich in meine Arme. Er war ein sehr aufgewecktes Kind. Ich las ihm oft Märchen vor, einige wollte er immer wieder hören, bis er sie auswendig konnte. Nyima und seine Mutter waren oft bei uns. Wir haben zusammen alle Tierparks der Umgebung besucht. In einem gibt es eine Weitsprunggrube mit Markierungen, die zeigen, wie weit verschiedene Tiere springen können, er hat gleich getestet, wie weit er springen kann. Wir sind auch in Museen gegangen. Vor einigen Jahren wurde in Hamburg eine Tutanchamun-Ausstellung gezeigt, fast alles aus dem Grabschatz war in Replik zu sehen, die Goldmaske von Tutanchamun, drei ineinandergeschachtelte Särge, kostbares Mobiliar. Wir waren mit der ganzen Großfamilie dort, das hat ihn begeistert. Später ging er noch zweimal alleine hin.
Er war drei oder vier Jahre alt, als er zum ersten Mal ein Kruzifix in der Kirche gesehen hat. Er rief mich an und fragte: Großvater, warum wurde Jesus denn „gekreuzt“? Ich sagte: Jesus hat sehr viel Gutes getan. Dann haben sich die Leute, die damals die Obersten waren, geärgert, dass die Menschen zu ihm kamen und nicht zu ihnen. Sie haben ihm vorgeworfen, er habe Gott gelästert – da wurde mir klar, dass die Kreuzigungsgeschichte für die Kinder sehr schwer verständlich ist.
Nyima hat natürlich mitbekommen, wie wir vor dem Essen gebetet haben, wie das für uns einfach ein Stück Leben ist. Einer der Enkel kam mal aus der Schule und fragte: Opa, hast du schon mal was von Abraham gehört? Ich sagte: Ja, ich habe sogar ein Buch geschrieben, in dem Abraham vorkommt. Vielleicht hätte ich ihnen mehr darüber vermitteln sollen. Andererseits mochte ich keinen Zwang ausüben. Mein Vater war sehr streng gewesen, es durfte bei ihm kein Widerwort geben. So wollte ich zu meinen Kindern und Enkeln nie sein. Bis heute verbringen wir als Familie die Feiertage zusammen. An Ostern gehört das Eiersuchen dazu. Ich verstecke die Eier, die anderen suchen. Zuletzt war es einmal umgekehrt, da hat Nyima im Haus die Eier für die anderen versteckt.
Der Brief einer Freundin, sie hat ein Enkelkind: „Als ich einmal das Glück hatte, mit Paul ein paar Stunden allein zu sein“, schreibt sie, „waren das wirkliche Sternstunden. Ich durfte mit ihm auf seiner riesigen Matratze Mittagsschlaf halten. Ich tat, als ob ich schlief. Mit seinem Betttuchzipfel spielte er in meinem Gesicht, zarter als zart, es kitzelte. Dann spürte ich plötzlich ein feuchtes kühles Küsschen auf meinem Mund. Da bleib mal ruhig!“ Wenn dies keine Liebesgeschichte ist! Jeder Großvater, jede Großmutter kennt die Lust, Geschichten von den Enkeln zu erzählen. Großeltern sind Angeber und Übertreiber, und das ist das beste Zeichen ihrer Liebe. Bei meiner Frau und mir gab es eine Art Wettstreit der Liebe. Wenn sie eine Geschichte erzählte, sagte ich manchmal: das ist meine Geschichte, und ich habe das mit den Kindern erlebt! Und ihr ging es genauso.
Als ich über das Verhältnis von Großeltern und Enkeln nachzudenken begann, hatte ich angenommen, dass die Zeit der Großeltern vorbei sei; dass der Bruch der Traditionen auch den Bruch in der Generationenkette zur Folge hätte. Ich hatte angenommen, dass in der Welt der Klein- und Zweigenerationenfamilie die Großeltern unsichtbar würden. Dann schaute ich ins Internet, und es war atemberaubend, was mir an Großeltern-Enkel-Themen und Angeboten entgegenpurzelte: Ratgeberbücher, Handbücher für Großeltern, Tagungen für Großeltern, Ferienangebote für Großeltern und ihre Enkel, Diskussionen über die Rechte der Großeltern. Hat die Zeit der Großeltern erst angefangen? Warum werden sie plötzlich entdeckt? Und was war früher anders?
Meine Großeltern, geboren 1845 und 1864, hatten 59 Enkelkinder. 59! Mit Matratze, Mittagsschlaf und Küsschen war da nicht viel. Außerdem kam dazu, dass die Leute damals unendlich viel gearbeitet haben. Weder für ihre Kinder noch für die Enkel blieb viel Zeit. Geborgen war man in der Wärme des Rudels, dazu gehörten die Geschwister fast mehr als die Eltern und Großeltern. Im Gegensatz zu früher erleben viele Großeltern von heute ihre Enkel 20 oder gar 30 Jahre – also fast ein Drittel ihrer eigenen Lebenszeit sind sie Großeltern. Enkelkinder machen ihre Großeltern jünger, alberner und verliebter. Als ich vielleicht 55 Jahre alt war, sagte eine Schaffnerin im Zug zu mir: „Opa, sie haben sicher eine Seniorenkarte.“ Es gab mir einen Stoß. Am nächsten Tag ging ich mit meinem dreijährigen Enkel spazieren, und wir alberten herum. Eine Dame fragte: „Wie alt ist ihr Sohn eigentlich?“ Mein Gleichgewicht war wieder hergestellt.
Ich befragte auch meine damals fünfjährige Enkelin: „Charlotte, was meinst du, wozu braucht man überhaupt Großeltern?“ „Um sie lieb zu haben!“, antwortete sie. Ich: „Wie sollen Großeltern eigentlich sein?“ Sie sagte: „So wie du! Und jetzt lass die albernen Fragen und spiel mit mir Mensch-ärger-dich-nicht!“ Was ich getan habe! Sie behandelte mich wie ihresgleichen, und ich ließ mich so behandeln. Es ist einerseits schön, dass die Rollen so durchbrochen sind. Andererseits: Bin ich nicht manchmal meinen Enkeln mein Alter schuldig? Vor einigen Jahren traute ich eine Freundin unserer Familie, und während des Gottesdienstes sah ich, dass unser Enkel Miguel, im Teenageralter, in einem Buch las. Ich fragte ihn später, was er da gelesen habe. „Einen Krimi!“, sagte er. Ich lächelte gequält, liberal und ergeben, und ich schwieg. Später fragte ich mich: Was tue ich eigentlich dem jungen Mann an, wenn ich ihm meine Meinung vorenthalte? Ich sprach mit ihm: „Migu, ich finde es feige und respektlos, wenn du während des Gottesdienstes einen Krimi liest. Respektlos: Du respektierst nicht, was anderen wichtig ist. Feige: du wagst es nicht wegzubleiben, wenn dir dieser Gottesdienst nichts bedeutet.“ Er sagte, er habe ja nicht während meiner Predigt gelesen. Ein geringer Trost. Irgendwann sagte er: „Opa, ich muss mit dir reden. Du hast mich feige und respektlos genannt. Es hat mich sehr getroffen, und du hast recht.“ Dieses Gespräch hat uns einander sehr nahe gebracht. Was hätte ich ihm vorenthalten, wenn ich geschwiegen hätte! Es genügt nicht, dass wir in schwächlichem Harmoniebedürfnis jeden Konflikt ersticken. Vielleicht steckt ein Stück Todesangst darin, dass wir immer und unter allen Umständen von den Enkeln geliebt werden wollen.
Wir lehren unsere Enkelkinder, was Vergänglichkeit ist. Sie sehen, wie unser Gehör und unsere Augen schlechter werden; wie wir dieses und jenes nicht mehr essen dürfen; dass wir vergesslich werden (diese große Unverschämtheit, die uns angetan wird!); dass wir unseren ersten Schlaganfall haben und schließlich, dass wir sterben. Welche illusorische Welt wäre es, wenn unsere Enkel nur die Welt der Jungen, Starken, Berufstätigen, Lebenstüchtigen und Schönen erlebten. Unsere Hinfälligkeit ist die letzte Lehre, die wir den Enkeln geben. Es ist keine leichte Lehre, wie den Tod zu lernen, keine leichte Lehre ist.
Katharina Hellwig, 32, Stewardess, zwei Kinder
Meine Erinnerung fängt im Haus meiner Großeltern an, oben, wo ich mit meiner Mutter gewohnt habe. Ich bin nicht sicher, ob ich mich selbst erinnere oder von Fotos her weiß, wie der Opa Hammer und Nagel rausholt und eine Küche für uns baut.
Oma und ich waren ein Team, weil sie den Tag mit mir verbracht hat, nach Kindergarten und Schule. Sie war ihrer Zeit voraus, entspannter, als ich das bei Leuten ihrer Generation sonst kenne. Hier war die Kindheit so, dass man es hat laufen lassen. Das hieß: Geh Fahrrad fahren, um sechs gibt’s Abendessen. Wenn die Oma Kuchen backt, darfst du helfen, darfst du gucken und hinterher die Schüssel auslecken.
Bei meiner Mutter waren die Regeln enger gesetzt. Sie hat versucht, durch den Supermarkt zu kommen, ohne für mich was zu kaufen. Die Oma hat mich schon beim Einkaufszettelschreiben gefragt, was ich haben möchte. Kämpfe habe ich eher mit der Mutter ausgefochten. Meine Pubertät war heftig, zeitweise habe ich jeden Tag die Haare anders gefärbt, schwarz, blond. Die Mutter sagte: Nur die eigenen Erfahrungen machen schlauer. Man hat mich gehen lassen, und ich bin gegangen und wieder zurückgekommen. Ich wusste: Hier im Haus darfst du mehr als üblich, musst aber auch selbst auf dich aufpassen, du übernimmst Verantwortung.
Mit Rebellion konnte die Oma nichts anfangen, sie ist eine super Unterstützerin, keine Kritikerin. Ich hätte sie nicht vorher gefragt, was sie von dem einen oder anderen Typen hält, aber hinterher, wenns schiefgegangen war. Dann gab es bei der Oma eine warme Mahlzeit, ein Stück Kuchen und ein bisschen Übern-Kopf-streicheln. In schweren Zeiten, als erst meine Mutter, dann der Opa gestorben ist, sind die Oma, meine drei Tanten und ich näher zusammengerückt. In solchen Zeiten stockst du, auch die Oma. Dann geht jemand anders einkaufen und schmeißt etwas in die Pfanne. Ein gemeinsames Essen gibt Halt. Jeder in der Familie traut sich, einfach loszuflennen und zu sagen, mir ist gerade alles zu viel. Ein Familienmitglied zu verlieren, das ist ja nicht nach einem Jahr gut. Da fällt einem ein: Ach, das haben wir immer zusammen gemacht, da fehlt jetzt einer. In der Zeit nach dem Trauerfall deckst du für einen zu viel oder hast einen vergessen. Es kommt auch vor, dass wir Mädels uns über den Tisch weg anbrüllen. Leerformeln – War’s gut heute? Ja, es war gut heute – gibts bei uns nicht.
Ich möchte gern so geduldig sein wie die Oma. Auch mit ihr. Ihr den neuen Fernseher mit Receiver und zwei Fernbedienungen in Ruhe mehrmals zu erklären und es noch mal aufzuschreiben. An bestimmten Dingen merke ich, dass die Oma zu einer anderen Generation gehört. Abhängig zu sein von einem Mann, ist mir fremd. Ich kann mir nicht vorstellen, heiraten zu müssen, weil ich schwanger bin, und wegen der Kinder aufhören zu arbeiten. Ich will auch meinen Beruf haben. Bald ist die Elternzeit vorbei. Ich kann endlich wieder mein Fernweh stillen. Wenn du auf einem anderen Kontinent bist als dein Kind, schluckst du erst mal. Ich werde nicht zu einhundert Prozent zu Hause sein, obwohl das für uns damals sehr schön war. Aber ich bin furchtbar gerne der Gastgeber. Es ist das, was ich zu Hause bei der Oma genossen habe und nach draußen mitnehme.
Loni Mony, 79, Hausfrau, Verwaltungsangestellte
Die Katharina ist mein einziges Enkelkind von vier Töchtern. Ab dem ersten Lebensjahr war sie wie meine fünfte Tochter, da haben ihre Eltern sich getrennt. Ich habe zu der Zeit in einer Fabrik gearbeitet, vor allem, um die nötigen Beitragsjahre für meine Rente zu erreichen. Meine Tochter Petra fing wieder an zu arbeiten, Katharina kam zu einer Tagesmutter. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: „Wer weiß, ob wir noch ein Enkelchen bekommen, das lass ich nicht bei einer Tagesmutter.“ Mein Mann hat die Wohnung oben im Haus ausgebaut. Ich fand es anfangs schade, dass es keine heile Familie war. Petra sagte: „Ach Mutter, an der Patchworkfamilie ist nicht alles schlecht. Dann hat sie halt mit euch Großeltern zusammen zwei Väter oder zwei Mütter. Das ist in unserer Generation vielleicht anders als früher.“
Ich habe Katharina mit dem Fahrrad in den Kindergarten gefahren, ich habe mit ihr eingekauft, die Schafe gefüttert, Wäsche gewaschen, wir haben alles zusammen gemacht. Nachmittags kam Petra von der Arbeit. Meine Enkelin ist ohne Geschwister, ohne Cousins und Cousinen aufgewachsen. Aber wir hatten ein offenes Haus. Bei der amerikanischen Familie gegenüber war Katharina wie daheim, deren Kinder kamen auch oft zu uns. Und Petra nahm öfter Leute auf, die Hilfe brauchten. Über vieles, was mir bei meinen Töchtern wichtig gewesen war, habe ich mich bei Katharina nicht mehr aufgeregt. Wenn ich gekocht hatte und sie sich auf dem Heimweg ein Brötchen kaufte, habe ich gesagt: „Okay, ihr habt eine Mikrowelle. Hier ist das Essen.“
Nur um die Schule wollte ich mich nicht mehr kümmern, da war meine Tochter dran. Petra und ich haben uns gut verstanden. Wenn ich etwas verboten habe, stellte sie es nicht infrage. In der Pubertät gabs auch mal Ärger. Ich hab’s nicht so verfolgt, weil ich wusste, es geht vorbei. Aber die Tanten hatten ab und zu das Gefühl, sie müssten einschreiten. Wenn Katharina auf der Fahrt in den Urlaub ihre Musik laut aufdrehte, obwohl sie wusste, dass sie alle gegen sich hat. Sie hat ausgetestet, wie weit sie gehen kann. Einmal hatte sie Jungs zu Besuch, ich hörte von unten, wie sie schrie: „Ich will euch hier nicht mehr sehen. Raus!“ Sie gingen. Sie wusste sich Respekt zu verschaffen.
Es wurde noch mal problematisch, als mein Mann mit 60 in Rente ging. Er wollte wandern, verreisen. Da hab ich ihn nur angeguckt, er hat bei ihr ja die Vaterstelle vertreten. Aber Katharina war früh selbstständig. Mit neun, zehn hat sie angefangen, selber zu kochen, und ich hab sie gelassen. Wir konnten dann doch verreisen. Ach ja, und dann ging es doch noch um die Schule. Katharina wollte nach der mittleren Reife abgehen. Meine Tochter sagte: „Du musst Abitur machen.“ Das Kind hat Migräneanfälle bekommen, so schlimm, dass es in der Klinik am Tropf hing. Da hab ich meiner Tochter widersprochen: „Lass das. Im Moment ist das nicht der Weg.“
Als Petra an Krebs starb, war Katharina schon erwachsen. Eines Tages kam sie heulend zu mir: „Oma, ich kann hier nicht bleiben. Da ist die Mama in allen Ecken.“ Ich sagte: „Dann musst du ausziehen.“ Sie hat die Wohnung an Freunde vermittelt. Irgendwann mit Ende 20 beschlossen Katharina und ihr Mann: Jetzt wollen wir Kinder. So wie ich, so jung, das hätte sie nicht gewollt. Ich habe meinen Mann mit 16 kennengelernt, mit 17 geheiratet, mit 18 hatte ich ein Kind. Da ging mir ein Stück Jugend verloren. Dass ich noch zwei Urenkel bekam – dafür bin ich unheimlich dankbar. Die können bei mir mit ihren Legosteinen ein Durcheinander anrichten, das ist mir egal. Ich habe schon wieder Sehnsucht nach ihnen, wenn sie die paar Kilometer zurück nach Hause fahren.
"Ein Blättchen Erfahrung zählt mehr als ein ganzer Baum......
Sehr geehrte Damen und Herren !
Menschen werden immer älter. Aber leider sieht man häufig nur die Nachteile des Älterwerdens und bejammert sie.
Daher ist es schön, dass sich „chrismon“ dem Thema „Großeltern“ widmet und dabei vor allem das Positive herausstellt ! Enkel genießen es in der Regel, Oma und Opa zu haben, die Zeit für sie haben, etwas mit ihnen unternehmen, von früher erzählen, Tipps geben, Werte und Wissen vermitteln, Vorbild, nicht selten auch Respektspersonen und Ersatz für Eltern sind.
Großeltern verfügen über etwas ganz Kostbares, das man wohl nur durch viele Lebensjahre erwerben kann, den Erfahrungsschatz. „Ein Blättchen Erfahrung zählt mehr als ein ganzer Baum voller Blätter,“ hat mal ein weiser Mann gesagt.
Andererseits können aber auch die Enkel Schätze im Leben ihrer Großeltern sein. Schon allein durch ihre körperliche Fitness nehmen sie Oma und Opa viel Belastendes ab. Dazu bereichern sie mit ihrer Lebensfreude, ihrer Vitalität und Unbeschwertheit das Leben der Älteren.
Und die Eltern? Ich denke, auch sie schätzen es, so etwas mehr Zeit für einander zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Gotttbrath
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