Benedicte Kurzen/NOOR
"Die Armut erklärt nicht alles"
Boko Haram heißt die islamistische Bewegung, die in Nordnigeria ein Kalifat ausgerufen, Hunderte Schulmädchen entführt und Bomben auf belebten Plätzen gezündet hat. Was bringt Menschen dazu, bei so etwas mitzumachen? Fragen an den britisch-nigerianischen Landeskenner Jeremy Weate
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
09.04.2015

Weltweites Aufsehen erregte die Terrorgruppe, als sie im April vor einem Jahr in Chibok über hundert Schulmädchen entführte. Die meisten von ihnen sind bis heute nicht ­wieder aufgetaucht.

„Boko Haram“, der Name steht für das Programm: Westliche Bildung ist verboten. „Boko“ ist vom englischen Wort „book“ abgeleitet: Buch. „Haram“ bezeichnet im Arabischen und generell im Islam alles, was verboten ist. 

Nigeria und seine Nachbarstaaten
Immer wieder gelingt es Boko Haram, Städte im Nordosten Nigerias zu erobern: im August 2014 Gwoza – wo der Anführer Abubakar Shekau bald darauf das Kalifat „Islamischer Staat“ ausrief. Im Juli nahmen sie Damboa ein, im September Bama. Millionen Menschen sollen in die nahe Hauptstadt des Bundesstaates Borno geflohen sein, nach Maiduguri. Inzwischen bekämpft nicht nur die nigerianische Armee die Terrorgruppe. Auch der Tschad, Niger und Kamerun greifen in ihren Grenzgebieten durch.

Die Gegenwehr kommt spät. Schon seit 2009 hat Boko Haram Zehntausende von Menschen getötet: bei Bombenanschlägen auf Busbahn­höfen, bei Selbstmordattentaten vor Kirchen und auf Marktplätzen und bei nächtlichen Überfällen von Motorrädern aus. Doch bis Mitte 2014 hat Nigeria dem Terror wenig entgegengesetzt. Boko Haram ist es sogar gelungen, den Wahltermin Mitte Februar zu verhindern. Nun  wählen die Bürger am 28. März einen neuen Präsidenten. Nigeria ist wegen seiner Ölindustrie ­eigentlich ein wohlhabendes Land. Aber nur wenige profitieren von dem immensen Reichtum. 70 Prozent der Nigerianer müssen mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen.

chrismon: Was ist Boko Haram – eine be­sonders brutale Räuberbande, eine Sekte oder eine politische Organisation?

Jeremy Weate

###drp|CsO2JGQwzCDSEDDBMrHcaNcI00094970|i-43||###Jeremy Weate, 45, lebt seit 2003 in Nigeria. Dort gründete er 2006 mit seiner Frau Bibi Bakare-Yusuf den Buchverlag "Cassava Republic Press" für afrikanische Literatur. Seit Jahren informiert Weate in Büchern und Interneblogs sein überwiegend englischsprachiges Publikum über Nigeria - und über Boko Haram.

Jeremy Weate: Boko Haram hat viele Gesichter. Im Kern ist es eine ideologische und eine ethnische Bewegung. Ihre Mitglieder stammen aus dem Volk der Kanuri im Nordosten Nigerias, im Gebiet des Tschadsees. Die Menschen dort sind schon seit gut 1000 Jahren Muslime. In anderen Landesteilen ist der Islam vergleichsweise jung. Anders als das übrige Nigeria hat der Nordosten alte Handelsverbindungen bis in den Nahen ­Osten. Boko Haram macht vieles den dortigen islamistischen Bewegungen nach. Zunächst den Taliban in Afghanistan – das erste Ausbildungslager von Boko Haram im Jahr 2002 ­ hieß „Afghanistan“. Und nun dem „Islamischen Staat“ im Irak und Syrien.

Was sind das für Leute, die Schülerinnen entführen und wie Sklaven verkaufen?

Das kann man psychologisch erklären. Sie unterscheiden zwischen „wir“ und „die“. Wer nicht zur eigenen Gruppe gehört, ist weniger wert. Er wird entmenschlicht. Ich glaube, so ein Ver­halten trifft man überall auf der Welt an, nicht nur bei Boko Haram. 

Aber Religion ist für sie die treibende Kraft?

Ja, absolut. Die Kerntruppe von Boko Haram spricht Arabisch, liest den Koran auf Arabisch, sie waren häufig im Mittleren Osten. Und in Saudi Arabien können sie während der Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, mit anderen islamistischen Terroristen Kontakte knüpfen.

In den Videos, die Boko Haram übers Internet verbreitet, wirkt der jetzige Anführer Abubakar Shekau mehr wie ein Freibeuter, und nicht so sehr wie eine religiöse Führungsgestalt.

In der Geschichte von Boko Haram gibt es zwei Phasen. Die erste endete 2009, als ihr Gründer Mohammed Yusuf, ein sehr charismatischer Redner, von der Polizei umgebracht wurde. Er war eine Vaterfigur für Jugendliche, die im ­Leben nichts zu verlieren hatten. Ganz anders verhält es sich mit Abubakar Shekau, der nach Yusufs Tod die Organisation übernahm. Die Leute haben Angst vor ihm. Boko Haram entführt mindestens ebenso viele Jungen wie ­Mädchen, die dann zum Kampf gezwungen werden.

Worüber hat der Gründer Mohammed Yusuf gepredigt?

Er deutete den Koran und vermischte das mit Kritik an der Erniedrigung der Muslime durch die westliche Kultur. Er hielt den Nationalstaat für illegitim und die westliche Demokratie für das Gegenteil des islamischen Kalifat-Ideals. Aber nicht nur als Prediger war Yusuf unter den Leuten beliebt. Er sorgte für sie, gab ihnen Arbeit und zahlte ihnen Gehälter. Er führte eher eine Kampagne als eine Terrorgruppe. Er hatte ein großes Gelände in Maiduguri, wo Tausende Menschen lebten. Shekau hat nichts davon. Er wirkt auch überhaupt nicht charismatisch.

Mohammed Yusuf wurde in Polizeigewahrsam getötet. Warum?

Es hieß, er sei auf der Flucht erschossen worden. Aber ich denke, der Gouverneur wollte ihn loswerden. Yusuf war ihm zu mächtig geworden,
er wurde zur Bedrohung.

Sind die Leute Mohammed Yusuf auch aus Armut gefolgt?

Sicher wandten sich viele Leute in ihrer Not an ihn, und er bot ihnen Schutz. Aber er überzeugte sie eben auch von seiner Deutung des Islam. Hinzu kommt, dass das Volk der Kanuri – aus diesem Volk stammen Yusufs Gefolgsleute – schon seit Ende des 19. Jahrhunderts in Nigeria sehr an den Rand gedrängt wurde.

Hat da die Provinzregierung versagt?

Nicht nur. Der Nordosten ist weit weg von ­Nigerias größter Stadt Lagos und selbst von der Hauptstadt Abuja. Es gibt keine Eisenbahn­verbindung, es ist überhaupt schwer, in den Nordosten zu gelangen. Die Kanuri waren von Anfang an von der Macht in Nigeria ausgeschlossen.

Je weiter weg von Lagos, desto schlechter die Verkehrswege?

Nicht notwendigerweise. Im Allgemeinen sind die Straßen im Norden sogar besser als im ­Süden, wo sie von starken Regenfällen unterspült werden. Aber gerade im äußersten Nordosten ist die Infrastruktur sehr schlecht, ganz besonders auf dem Land außerhalb von Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno.

Stimmt es, dass das nigerianische Militär Boko Haram am Leben erhält, um mehr Geld vom Staat zu bekommen?

So etwas lässt sich kaum nachweisen. Fakt ist aber, dass einerseits der Militärhaushalt in den vergangenen Jahren dramatisch angestiegen ist – wegen Boko Haram. Andererseits fehlt es an Material und Sold für die Soldaten. Irgendwo muss das Geld ja geblieben sein. Wir wissen auch, dass nigerianische Militärs sehr korrupt sein können – seit Boko Haram sogar noch mehr als früher. Aber niemand hat bislang nachweisen können, wann und wo Geld unterschlagen wurde.

Kann es sein, dass auch Nigerias Präsident Goodluck Ebele Jonathan [Anm. d. Red.: Zum Zeitpunkt des Interviews war Goodluck Jonathan noch Präsident Nigerias; er wurde am 28./29. März 2015 abgewählt] Boko Haram heimlich unterstützt, um von seinen eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken?

Ganz bestimmt nicht. Natürlich wird darüber spekuliert, wer alles dazu beiträgt, dass Boko Haram so ungestört sein Unwesen treiben kann. Aber anders als frühere Präsidenten kommt ­Jonathan nicht aus dem Militär, ihm fehlen die nötigen Verbindungen. Ich nehme eher an, dass die Militärs ihre eigenen Geschäfte betreiben und ihn darüber im Unklaren lassen.

Bénédicte Kurzen

###drp|ZT5tN_XwO9lUaaYgb6tzpkSB00094967|i-43||###Bénédicte Kurzen, 35, erschrak über die Leere und die Verwüstung in Städten, aus denen die Armee Boko Haram gerade vertrieben hatte. Die Fotografin bekam freien Zugang.

In den vergangenen 50 Jahren ist der Tschadsee fast vollständig ausgetrocknet. Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem Verlust von bebaubarem Land an die Wüste und dem Terror von Boko Haram?

Natürlich hat die Armut dort vor allem mit dem Austrocknen des Sees zu tun. Die örtliche Wirtschaft hat früher vor allem von der Fischerei gelebt. Heute ist vom See nicht mehr viel übrig – wobei man sagen muss, dass der extrem niedrige Pegelstand wohl nichts mit der globalen Er­wärmung zu tun hat. Vermutlich sinkt und steigt der See über die Jahrhunderte immer wieder.

Woher bezieht Boko Haram seine Waffen?

Früher kam viel vom Gaddafi-Regime in Libyen. Sicher ist auch, dass Waffen aus dem Sudan geliefert wurden. Man hat spekuliert, ob Boko Haram darüber hinaus Verbindungen zu an­deren Militanten im Nigerdelta hat, im Äußersten Süden Nigerias. Und nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes wurden die libyschen Waffen­arsenale geplündert, auch diese Waffen können über den Tschad bis nach Nigeria gekommen sein. Es wird ein recht unüberschaubares Netzwerk von Lieferanten geben. Jedenfalls hat Boko Haram mit Banküberfällen und Entführungen viel Geld für seine Waffenkäufe eingetrieben.

Wenn die Armut in Nigeria erfolgreich bekämpft würde, könnte das den Terrorismus stoppen?

Das würde gewiss das Terrornetzwerk aushungern. Aber die Armut erklärt nicht alles. Islamistische Kämpfer aus reichen Golfstaaten schließen sich ja auch ohne materielle Not dem kämpferischen Dschihad an. Wohlstand könnte wohl auch Boko Haram nicht vollständig verdrängen. Man muss ihre Ideologie mit moderateren Formen des Islam konfrontieren. Und genau das tut die nigerianische Regierung: entradikalisieren. Einfach ist das nicht, denn überall können radikale Prediger unbemerkt in ­muslimische Gemeinden eindringen. Es ist schwer, sie zu kontrollieren.

Kennen Sie Menschen, die mit Boko Haram sympathisieren?

Nein. Aber Boko Haram muss man auf dem ­Hintergrund einer Gesellschaft sehen, die bereits äußerst gewalttätig ist. Die Polizei ist oft abwesend. Die Leute vertrauen nicht auf die Justiz. Sie nehmen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand. Fast jeden Tag wird jemand in ­Nigeria bei lebendigem Leib verbrannt – Diebe oder andere Verbrecher. Die Regierung unternimmt kaum etwas dagegen. Und wenn die Polizei mal da ist, foltert sie, um Geständnisse zu erzwingen. Gewalt ist überall. Ich glaube, dass diese Gewalt noch aus der Zeit der Sklaverei und des Kolo­nialismus übrig geblieben ist. In Nigeria fehlt die Reflexion darüber, was die Gewalt in den Köpfen der Menschen anrichtet. 

Hassen nigerianische Christen und Muslime einander?

Ganz und gar nicht! Aber so hätte es Boko Haram gerne. Abgesehen von deren Terror hat die Gewalt in Nigeria keinerlei religiöse Ursachen. Manchmal wirkt die Gewalt auf Außenstehende religiös motiviert, wenn zum Beispiel in Jos mus­limische Bevölkerungsgruppen randalieren. Aber dahinter steht eine andere Geschichte. Die britischen Kolonialherren brachten Arbeiter aus dem muslimischen Volk der Hausa aus dem Norden, etwa aus dem Bundesstaat Kano, zu den Zinnminen ins Hochland von Jos. Heute wollen ihre Nachfahren einen Anteil an der Macht, daher die fürchterlichen Zusammenstöße. Diese Leute sind nicht besonders religiös. Ansonsten herrscht in Nigeria erstaunlich viel ethnische und religiöse Toleranz. In Lagos gibt es überhaupt keine religiösen und ethnischen Spannungen. In anderen Landesteilen heiraten Muslime und Christen seit Generationen. Es ist auch nicht so, dass der Norden rein muslimisch und der Süden rein christlich wäre. Viele Muslime leben im Süden, und viele Christen im Norden.

Sie haben mit Ihrer Frau einen Verlag ge­gründet. Warum?

Wir begannen mit nigerianischen Roman­autoren, die in Übersee bekannt wurden, aber nicht in Nigeria. Das wollen wir ändern und so gute afrikanische und besonders nigerianische Literatur fördern.

Fühlen Sie sich in Nigeria sicher?

Ja. Nicht im Nordosten, aber sonst war ich schon überall im Land. Manchmal fühle ich mich dort sicherer als in Großbritannien, zum Beispiel nachts um vier Uhr, wenn in Londoner Nachtbussen alle Leute betrunken sind.

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