Demonstrant mit libyscher Flagge
Abdullah Doma/AFP/Getty Images
Kampf auf verlorenem Posten?
Der libysche Journalist Salah Zater erklärt den Bürgerkrieg in seinem Heimatland
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
27.07.2015

Seit einem Jahr tobt in Libyen ein Bürgerkrieg. Die Muslimbrüder hatten bei der Wahl zur Abgeordnetenversammlung im Sommer 2014 eine schwere Niederlage erlitten. Doch sie gaben die Macht im Parlament nicht ab. Sie stürmten das Hohe Haus, die gewählte Regierung floh in den Osten des Landes nach Tobruk. Beide bekämpfen sich seither erbittert, die Armee steht aufseiten der gewählten Regierung.

Seit der Revolution 2011 sind viele Waffen im Land. Teils wurden sie aus westlichen Ländern geliefert, um die Rebellen im Kampf gegen den damaligen Diktator Muammar al-Gaddafi zu unterstützen, teils stammen sie aus Gaddafis Arsenalen. Davon profitieren heute Milizen von Muslimbrüdern, von Banditen und von Extremisten – und auch Kampfverbände des sogenannten „Islamischen Staats“. Libyens Grenzen sind nicht mehr gesichert. Migranten gelangen fast ungehindert an die Küste, um von dort nach Europa überzusetzen.

chrismon: Mitte Juni kam Ihr jüngerer Bruder Ali ums Leben. Er half als Freiwilliger im Krankenhaus aus. Warum?

Salah Zater

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Salah Zater, 29, ist libyscher Journalist. Er arbeitet seit der Revolution als Fernsehjournalist in Tripolis. 2014 floh er nach Tunis, wo er als Aktivist für Pressefreiheit und Menschenrechte wirkte. Seit Anfang 2015 ist er als Stipendiat der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte für ein Jahr in Deutschland. Zater erläutert die Situation in seinem Land als ein engagierter Beobachter, der auf der Seite der international anerkannten Regierung steht.

Salah Zater: Er sagte mir: Ich tue es für Allah. Er hatte sich schon 2011 während der Revolution als Freiwilliger im Krankenhaus von Adschdabija gemeldet. Die ausländischen und die libyschen Ärzte waren geflohen, und er wollte für die Kämpfer an der Front Erste Hilfe leisten. Er bekam viel Erfahrung darin, Kugeln aus den Wunden zu entfernen.

Seine Mörder bekennen sich zum „Islamischen Staat“ (IS), der ganze Viertel in Ihrer Heimatstadt Adschdabija besetzt hielt.

Ja, jahrelang hatten die Stämme in der Stadt beiden Lagern, dem IS und der Armee, Viertel zugeteilt. Die Leute kennen sich. Adschdabija ist nicht so anonym wie Benghazi. Da tut man jemandem aus einer anderen Familie oder dessen Freunden und Cousins nichts an. Alle halten still.

Viele IS-Terroristen kommen aus Tunesien nach Libyen

Wie kam es dann trotzdem zum Konflikt?

Eine Woche vor seinem Tod hatten die Amerikaner einen Ort außerhalb von Adschdabija bombardiert, um den Al-Kaida-Terroristen Mokhtar Belmokhtar zu töten. Mokhtar hat sich vermutlich mit Leuten vom IS aus Adschdabija getroffen. Jedenfalls töteten die Amerikaner mindestens 20 von ihnen. Daraufhin brachten die IS-Leute Verwundete zum Krankenhaus. Weil sie Waffen trugen, wurde ihnen der Eintritt verwehrt. Sie drangen aber trotzdem bewaffnet ein und töteten drei Soldaten der Armee, die gerade eingeliefert wurden. Leute rannten zum Notausgang, es fielen noch mehr Schüsse. So begann der Kampf um die Kontrolle über das Krankenhaus. Daraufhin beschloss die Armee, den IS ganz aus der Stadt zu verdrängen.

War Ihr Bruder in die Kämpfe verwickelt?

Nach zwei Nächten mit Schießereien kam er kurz nach Hause und sagte, er müsse wieder los. Wohin, das wusste aus unserer Familie niemand. Später erfuhren wir, dass er ein Hochhaus stürmte, in dem sich Scharfschützen verschanzt hatten. Kein anderer Kämpfer hatte sich getraut. Da nahm er eine Kalaschnikow und rannte hoch, die anderen hinterher. Er stand den IS-Leuten
gegenüber und wurde erschossen. So erzählten es die Leute, die dabei waren, meiner Familie. Sie sagten: Weint nicht, seid stolz auf ihn. Das sind wir auch. Aber für uns ist sein Tod schwer zu ertragen.

Wer genau steht hinter dem IS in Libyen?

Ausländer – aus dem Jemen, aus Saudi-Arabien, von überall, vor allem aber aus Tunesien. Als im Juni ein Tunesier 38 Touristen in einem tunesischen Badeort tötete, sagte die Regierung dort: Die Situation in Libyen ist für uns ein großes Problem, weil die Terroristen dort ausgebildet werden. Tatsächlich aber ist es andersherum: Tunesien ist für Libyen ein großes Problem, weil viele IS-Terroristen aus Tunesien zu uns kommen. Die Probleme mit IS-Milizen begannen in einer Stadt nahe der tunesischen Grenze, in Sabratha. Sie griffen dort gezielt Leute an, die ihnen nicht genehm waren. Von dort aus breitete sich der Terror nach Osten aus. Nach Tripolis, wo überhaupt viele Milizen agieren. Dann nach Misrata. Es waren Misrata-Milizen, die Mitte November 2013 in Tripolis in eine demonstrierende Menge schossen und 30 Menschen töteten. Inzwischen kontrollieren Milizenführer den Großteil von Misrata. Von dort werden jetzt Waffen weiter Richtung Osten nach Benghazi geliefert. Der IS kontrolliert inzwischen auch Sirte vollständig. Von dort senden sie ihre Botschaften übers Radio. Vor der Stadt findet man Menschen mit durchgeschnittenen Kehlen. – Sehr viele IS-Terroristen kommen aus Tunesien. Sie zerstören unser Land, töten unsere Leute und bringen sich dann selbst um. Noch nie hat man von einem libyschen Terroristen gehört, der sich in Tunis in die Luft sprengt.

"Die Armee tötet oft wahllos"

Tunesien gilt als einziges arabisches Land, in dem die Revolution erfolgreich endete.

Das sehe ich anders. Auch dort wird die Situation immer ­schlimmer. Hundertausende Menschen in Tunis leiden, haben kaum etwas zu essen. Ihr Leben hat sich gar nicht verbessert, im Gegenteil.

Vor einem Jahr riss das islamistische Bündnis „Morgenröte“ die Macht im Parlament von Tripolis an sich. In welchem Verhältnis steht die islamistische Gegenregierung zum IS?

Jetzt bekämpfen sie sich, aber es waren die Muslimbrüder, die dem IS ermöglichten, sich in Libyen auszubreiten. Bis vor einem Jahr bekämpften beide gemeinsam die libysche Armee. Damals fragte ich immer wieder Politiker der Muslimbrüder: Wer sind diese Leute in Derna, die sich offen im Fernsehen und auf ­Internetvideos zu Ansar al-Scharia bekennen? – So nannte sich der IS damals. Und sie antworteten: So etwas gibt es in Libyen nicht. Erst als der IS vor einem Jahr begann, die Milizen der Muslimbrüder zu töten, sagten auch sie: Wir müssen den IS bekämpfen.

Sie haben in Libyen über die Verbrechen von Milizen und Regierung berichtet. Hält sich irgendeine Partei an die Menschenrechte?

Nein. Zwar setzen sich durchaus einige Menschen für die Menschenrechte ein. Aber viele in den Milizen wissen noch nicht einmal davon. Selbst die Armee tötet oft wahllos. Derzeit bombardiert sie Benghazi, aber nicht gezielt. Sie bombardiert einfach alles. Viele Kinder sterben.

Auch die Armee hält sich nicht an Menschenrechte?

Schon gar nicht, wenn sie jemanden vom IS erwischen. Die Verbrechen des IS sind ja auch fürchterlich, insofern ist das eine verständliche Reaktion: Die IS-Leute foltern Menschen, töten, stehlen Geld, zerstören Wohnungen. Sie verwüsten das ganze Land. Das sind Leute, die weder an Demokratie noch an Menschenrechte noch an Meinungsfreiheit glauben. Was soll man mit solchen Leuten machen, wenn man sie fängt?

Irgendwann müssen die Libyer auch mit diesen Menschen wieder zusammen­leben.

Mit dem IS ist das unmöglich. Die Armee muss erst den IS vollständig besiegen, dann können wir das Land wieder kontrollieren.

"Der Westen unterstützt den IS, indem er nichts gegen ihn unternimmt"

Zweimal hielten Leute ein Gewehr an Ihre Schläfe und drohten Ihnen, weil Sie Journalist sind. Was war da los?

So etwas ist inzwischen normal in Libyen. Ich habe über Libyens Schattenseiten berichtet. Manche Leute wollen so etwas nicht.

Ein befreundeter Journalist wurde entführt und getötet.

Er hieß Khaled Abdel Hamid. Der IS stoppte ihn an einem Checkpoint zwischen Tobruk und Adschdabija, entführte ihn zu­sammen mit anderen Journalisten und forderte Lösegeld. Das Geld wurde nie bezahlt. Nach neun Monaten spürte die Armee einen der Entführer auf. Er sagte: Wir haben sie gleich getötet, als das Lösegeld nicht kam. Und dann führte er die Soldaten zu den Leichen. – Dieses Ausmaß an Gewalt kannten wir früher so nicht. Wenn wir früher hörten, dass jemand auf der Straße getötet wurde, dann war das ein Riesenthema. Heute ist das Alltag.

Woher kommt diese Gewalt?

Eigentlich sind die IS-Milizen relativ kleine Gruppen. Aber sie sind mächtig, weil ihnen jemand viel Geld gibt. Nach der ­Revolution bekamen die Milizen Unterstützung aus dem Ausland – aus ­Ländern, die ein Interesse daran haben, Libyen zu ­schwächen, vielleicht weil sie es auf unser Öl und unser Gas abgesehen haben. Länder wie Katar, die Türkei, Frankreich, Großbritannien und die USA. 

Warum nehmen Sie an, dass diese Länder die Islamisten unter­stützen?

Die Türkei unterstützt die Muslimbrüder und ihre Regierung in Tripolis offen. Sie nimmt Verwundete in ihre Krankenhäuser auf, selbst IS-Verwundete. Katar betreibt den Sender Al Jazeera, der in seinen arabischen Kanälen Terroristen schon dadurch hilft, dass er sie konsequent „Rebellen“ nennt. Und der Westen unterstützt den IS, indem er nichts gegen ihn unternimmt. Er könnte den IS leicht besiegen, auch in Syrien und im Irak. Aber er tut es nicht. 

Was ist mit den anderen arabischen Ländern?

Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate unter­stützen die Regierung in Tobruk und die Armee. Aber ich bin mir sicher: Niemand tut etwas kostenlos für Libyen. Wenn der Krieg vorüber ist, dann werden die Gegenleistungen aus den Verträgen eingefordert, die jetzt unter der Hand geschlossen werden.

Hat Libyen noch eine Chance?

Wegen des Bürgerkriegs ist für afrikanische Flüchtlinge der Weg durch Libyen nach Europa frei.

Libyen ist wie eine Brücke. Dafür sorgen die Menschenhändler. Sie wirken vor allem von Zuwara aus, einer Stadt in der Nähe von Tripolis. Sie verdienen Millionen damit, die Menschen aufs offene Meer zu schicken. Und sie stehen in Kontakt mit Menschenhändlern in Griechenland, Italien und Serbien. Es ist ein Riesengeschäft. Ich habe für viele Reportagen über die illegale Einwanderung aus Afrika nach Libyen recherchiert und auch mit Leuten gesprochen, die über Zuwara nach Europa kamen.

Was kann die Europäische Union dagegen tun?

Sie muss helfen, den libyschen Bürgerkrieg zu beenden. Wenn in Libyen wieder stabile Verhältnisse herrschen, hört die illegale ­­Migration auch wieder auf. Und sie muss die Ursachen der ­Migration bekämpfen, die Not in den afrikanischen Ländern.

Was halten Sie von dem Plan der EU, die Schiffe der Menschenhändler zu zerstören?

Wie soll das gehen? Man weiß doch erst, dass ein Boot für den Menschenhandel bestimmt ist, wenn es mit Flüchtlingen übers Meer fährt. Und dann kann man es doch nicht versenken!

Hat Libyen als Staat überhaupt noch eine Chance?

Ja, dafür kämpfen wir – für ein Libyen mit einer Regierung für das ganze Land. Jetzt terrorisieren uns noch viele Milizen, viele Kriminelle, übrigens auch im Süden, wohin niemand schaut. Man spricht über das, was in Tripolis und Benghazi passiert. Aber auch im Süden sind die Probleme groß.

Wenn Sie in einem halben Jahr zurückkehren, was werden Sie dann tun?

Meine Arbeit in Tripolis als Journalist fortsetzen. Aber in einem halben Jahr kann ich noch nicht zurück. Ich würde dann nur noch größere Probleme haben.

Warum?

Weil die Leute alles verfolgen, was ich hier in Deutschland von mir gebe, Freunde und Feinde. Ich hatte tausend Follower auf ­Facebook. Jetzt schreibe ich dort nichts mehr. Aber die Leute senden mir Links zu Dingen, die sie im Internet von mir finden. Manche haben nichts anderes zu tun. Sie beobachten mich die ganze Zeit.

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