Portrait Nora Imlau. EUROPA, DEUTSCHLAND, SACHSEN, Leipzig am 05.05.2015:
Als junge Mutter von zwei kleinen Kindern hatte Nora Imlau vor fünf Jahren eine Haushaltshilfe. Diese wurde in einer Eifersuchtstat ermordet. Seit dem geht Nora Imlau die Frage durch den Kopf, ob sie durch ihre Ratschläge eine Mitschuld an der Tat hat.
Charlotte Sattler
Das Beste sollte noch kommen
Ihre Putzfrau, Tina, wollte ein anderes Leben anfangen. Doch dann wurde sie umgebracht
02.07.2015

Nora Imlau, 32:

„Junge Frau, 22, tot aufgefunden!“ Ich war auf dem Weg zu einer Konferenz, Rollkoffer in der Hand, meine kleine Tochter im Tragetuch, als mir die Schlagzeile in der Bahnhofsbuchhandlung ins Auge fiel. Die Tote war in ihrer Wohnung erwürgt und am Sonntagnachmittag von ihrem Vater entdeckt worden. Schrecklich, dachte ich, und wollte schon weitergehen, als mir plötzlich ein irrer Verdacht durch den Kopf schoss. 22 Jahre alt, allein lebend, frisch getrennt. Tina! „Am Sonntag besucht mich mein Papa“, hatte sie gesagt. Ich tippte ihre Nummer ins Handy. Eine Männer­stimme meldete sich: Mordkommission.  

Tina und ich hätten uns nie kennengelernt, hätte ich mich nach der Geburt meiner zweiten Tochter nicht so leer gefühlt. „Immer arbeitest du so lange“, lag ich meinem Mann in den Ohren. „Der ganze Haushalt bleibt an mir hängen. Die Kinder. Ich hab doch auch einen Job.“ – „Dann suchen wir uns eben eine Haushaltshilfe“, antwortete er, ohne zu hören, was ich eigentlich sagte: Ich bin so allein.  

In ihrer Bewerbung punktete Tina mit entwaffnender Offen­heit: „Durch meine vier jüngeren Geschwister habe ich mit ­Kindern und Chaos viel Erfahrung“, schrieb sie. Das passt, dachte ich, und von da an verbrachten wir viele Vormittage zusammen. Putzte Tina das Bad, stand ich im Türrahmen, und sie erzählte mir davon, wie ihre beiden jüngsten Geschwister neulich ihr Bett kaputt gehüpft hatten. Bezog ich die Betten, hielt sie mein Baby im Arm und fragte mich über mein neues Buchprojekt aus.

Auch hier ist nicht alles rosarot, versuchte ich ihr zu erklären. Aber Tinas Wunsch stand fest

„So will ich auch mal leben.“ Diese Worte platzten aus Tina heraus, als ich gerade meine Tochter wickelte. Eigentlich hatte ihr Plan schon lange festgestanden – und ganz anders ausge­sehen: an der Supermarktkasse arbeiten, früh heiraten, viele Kinder ­kriegen. Dann kamen die Panikattacken. Sie kosteten sie erst ­ihren Job und dann ihre Beziehung: Ihr Verlobter verließ sie an dem Tag, an dem sie in die Psychiatrie kam. Bei uns zu arbeiten, erzählte mir Tina, das sei für sie nun ein Neuanfang, eine Idee ­ihrer Psychologin: Raus aus dem Supermarkt, rein ins pralle ­Leben einer Familie solle sie gehen. Und dort die Augen offenhalten für das, was im Leben alles möglich ist.

Das tat Tina. Und sah: unsere Wohnung, unsere Urlaubsfotos an der Wand; meine Kinder, meinen Job; meine finanzielle Unabhängigkeit, sowohl von meinem Mann als auch vom Amt. „Wie im Film“, staunte sie. Auch hier ist nicht alles rosarot, versuchte ich ihr zu erklären. Auch ich fühle mich oft einsam. Und erschöpft. Und überfordert. Aber Tinas Wunsch stand fest: Sie wollte auch so einen Mann, der einen morgens zum Abschied auf die Wange küsst. Und zwei süße Kinder und einen erfüllenden Job, von dem man leben kann, als Haushälterin vielleicht. Ob ich glaube, dass das für sie drin sei? Na klar, sagte ich, ehrlich überzeugt.

Eines Morgens war sie blasser als sonst, verschlossener. „Stress mit meinem neuen Freund“, erklärte sie knapp. Grob sei er und launisch und nicht besonders helle. Warum sie dann ein Paar seien? Sie zuckte hilflos mit den Schultern. Ich erinnerte sie an ­ihren Traum von einem neuen, anderen Leben: „Passt dieser Mann dazu?“ Wenige Tage später machte sie mit ihm Schluss. „Jetzt fängt mein neues Leben an!“, jubelte sie. Schritt eins: endlich ein schönes neues Bett für ihre kleine Wohnung – das alte hatten ihre Geschwister ja kaputt gehopst. „Am Sonntag besucht mich mein Papa“, erzählte sie fröhlich, „dann bauen wir es zusammen auf.“

Was danach geschah, weiß ich aus dem Prozess: Der gekränkte Exfreund verschaffte sich Zutritt zu Tinas Wohnung und erwürgte sie. Als der Richter ihn verurteilt, hält Tinas Mutter ein Foto ihrer Tochter umklammert. Tina lächelt darauf das Lächeln einer jungen Frau, die überzeugt ist, dass ihr das Beste noch bevorsteht. Darin habe ich sie bestärkt. Und nun ist sie tot.

Natürlich stellte ich mir die Schuldfrage: Wenn Tina nicht bei uns den Geschmack eines anderen Lebens gekostet hätte, wenn ich ihr nicht zur Trennung geraten hätte – wäre sie dann heute noch am Leben? Es hat Jahre gedauert, bis ich die Verantwortung für ihren Tod da lassen konnte, wo sie hingehört: bei dem Mann, der sie getötet hat. Wir waren einfach nur zwei junge Frauen, die fest daran glaubten, dass ein anderes Leben möglich ist.

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Liebe Chrismon-Macher/Innen,

ich danke Euch für Eure tolle Zeitschrift. Sie liegt bei uns im Krankenhaus und ich kann sie so für mich kostenlos lesen (leider habe ich zurzeit kein Geld für Abonnements) und ich genieße jedes neue Exemplar. Ihr habt tolle Themen und beleuchtet diese auch immer von mehreren Seiten.

Zum oben genannten Text finde ich den Schlusssatz genau richtig. Verantwortlich ist immer der Täter! Es ist für viele Täter nur so viel bequemer, dem Opfer die Schuld zu geben (zu laut, zu sexy angezogen, zu frech, lebt nicht nach meinen Vorstellungen, tut nicht was ich sage usw.). Dann muss der Täter (meistens der) nicht darüber nachdenken, was er (oder sie) ändern müsste. Davon leben so viele Gewalttaten, von nicht ich muss mich ändern, die anderen haben sich zu ändern.

Ich bin überzeugt davon, dass Gott jeden einzelnen Menschen auf diesem Planeten so gemacht hat, wie er sein soll. Unsere Talente müssen wir dann selbst entdecken und erarbeiten und auch dabei hilft er auf unnachahmliche Art und Weise - jedenfalls mir. Und so müssen wir auch in uns das Böse täglich bekämpfen.

Mit freundlichen Grüßen
Irmgard Przerwa, Krefeld