Hannes Jung / www.hannesjung.com/Hannes Jung
"Hören Sie die Schreie nicht?"
Ein alter Mann in Südkorea kämpft für die Menschen­rechte im Norden, sammelt ­Zeugnisse, kümmert sich um die Flüchtlinge. Viele Mit­streiter hat er nicht. Seine Landsleute halten ihn für verrückt. Wibke Becker hat den Mann, der sich CK nennt, in Seoul besucht
25.04.2014

Er wartet im Gewimmel der Seouler U-Bahn-Station. Klein, schmal, wach. Die Wangen glatt, die Haare weiß, die Augen freundlich. Aus dem rot karierten Hemd guckt ein Kugelschreiber. Sein Büro ist nicht weit von hier. Hinter einer Tür mit Sicherheitscode öffnet sich das Hauptquartier des „Database Center for North Korean Human Rights“ (NKDB), sehr schlicht, zehn Arbeitsplätze. CK, mit bürgerlichem Namen Kim Sang-hun, ist Idee und Herz dieses kleinen südkoreanischen Vereins.

chrismon: In Südkorea interessiert sich kaum jemand für die Menschenrechte in Nordkorea. Warum Sie, CK?
Kim Sang-hun: Da muss ich von früher erzählen. In den 70er Jahren wurde Südkorea von einem Militärregime regiert. Damals gingen viele, die an die Demokratie glaubten, durch eine sehr schwierige Zeit. Niemand durfte etwas sagen. Die protes­tantischen Kirchen blieben stumm, die Leute auf der Straße ­wurden stumm. Die Studenten, Professoren und Journalisten, die offen Opposition bezogen, wurden verhaftet. Ich war einer der Gründer von Amnesty International Südkorea und wusste, dass ich deshalb unter besonderer Beobachtung stand. Ich inte­ressierte mich für Menschenrechte. Für das Militär hieß das, dass ich Kommunist war. Und als Kommunist war ich der Feind.

Damals ging es um Ihre Rechte.
Wenn ich damals das Haus verließ, hatte meine Frau ständig Angst, dass sie mich nicht mehr wiedersehen würde. Irgendwann war die Angst so groß, dass sie mich überredete, eine Stelle im Ausland anzunehmen. So waren wir sicher.

Seit wann interessieren Sie sich für die Rechte der Nordko­reaner?
Als ich 1994 in Rente ging und nach Südkorea, das demokratisch geworden war, zurückkehrte, hörte ich zum ersten Mal von der katastrophalen Situation im Norden. Ich hielt das erst für gelogen oder übertrieben. Ich ging zu einem Vortrag eines japanischen Professors, und während ich dort saß und zuhörte, dachte ich: Das kann nicht wahr sein, es kann nicht so schlimm sein! Ich las Bücher von Flüchtlingen, ich traf die Autoren. So begann ich langsam zu verstehen. 1997 verbrachte ich sehr viel Zeit in China und traf nordkoreanische Flüchtlinge, die sich dort versteckten. Sie kannten einander nicht. Sie hatten ganz verschiedene Hinter­gründe. Aber ihre Geschichten waren immer dieselben! Ich war sehr besorgt. Viele Leute denken, dass ich ein „Underground Railroad“-Mann bin, weil ich vielen Nordkoreanern geholfen habe, heimlich von China weiter über Vietnam, Laos nach Thailand und schließlich nach Südkorea in die Sicherheit zu fliehen. Aber tatsächlich bin ich das nicht. Das sah ich nie als meine Hauptaufgabe. Meine Aufgabe war es, Zeugnisse zu sammeln.

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Warum das?
Ich glaube fest daran, dass eines Tages die Leute, die für den Tod von Tausenden von Nordkoreanern verantwortlich sind, vor einem internationalen Gericht stehen werden. Aber wenn das ­passiert, dann reichen keine einzelnen Geschichten von einzelnen Opfern. Dann brauchen Sie konkrete Informationen. Jemanden, der alle Daten und Informationen gesammelt und zusammengebracht hat. Deshalb gründete ich im Jahr 2003 das Database Center for North Korean Human Rights. Bisher haben wir über 10 000 nordkoreanische Zeugenaussagen gesammelt.

CK holt ein Buch aus einem Regal. „White Paper on North ­Korean Human Rights“, 550 Seiten voller Statistiken. Zuerst über die nordkoreanischen Zeugen: Geschlecht, Herkunft, Parteimitgliedschaft, Bildung und Beruf. Dann Statistiken über bezeugte Menschenrechts- verletzungen: Verletzung des Rechts auf Leben. Verletzung des Rechts auf Freiheit. Verletzung des Rechts auf Gesundheit. Verletzung des Rechts auf Bildung. Verletzung des Rechts auf Fortpflanzung. Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit. Verletzung des Rechts auf Besitz. Das sind die ersten. Aber es kommen immer mehr bunte Balken. Unermessliches Leid, verpackt in Zahlen, Daten, Fakten.

Am Ende jedes Kapitels Einzelberichte: E11-I-12650, 000, Female, Provinz nördliches Hamgyong. „Der schlimmste von allen Geheimpolizisten war ein Herr Kang, ein Oberleutnant. Eines Tages wurde eine neue Gefangene, eine hochschwangere Frau von Gilju in unser Polizeilager gebracht. Sie brachte ihr Baby noch am selben Tag auf die Welt. Herr Kang legte das Baby auf den Bauch und tötete es. Die Frau brach zusammen. Später, um fünf Uhr nachmittags, sollte jeder der Gefangenen zur Abzählung nach draußen kommen. Einer von uns sagte, dass die Frau von Gilju nicht da sei, da sie wegen der Geburt zu schwach sei. Herr Kang akzeptierte diese Entschuldigung nicht und befahl zwei anderen Gefangenen, die Frau zu holen. Sie wurde nackt nach draußen geschleift. Sie blutete, als sie lief. Herr Kang fing an, sie zu schlagen und schrie, sie hätte ein Kind von einem Chinesen bekommen. Sie starb zwei Tage ­später. Da war sie 31 Jahre alt.“ CK blättert durch die Zahlen und Daten und verzieht keine Miene.

Sie und Ihre Mitarbeiter fahren schon seit Jahren zum Hanawon, der Aufnahmestation für nordkoreanische Flüchtlinge in Süd­korea, und hören immer wieder diese Geschichten.
Aber wir kommen kaum voran. Jeder sagt: Warum soll ich mich darum kümmern? Die Botschaft ist nicht bei den Bürgern angekommen, nicht bei den Arbeitern, nicht auf der Straße, nicht beim Volk. Aber genau das Volk ist es, das über die Wahrheit Bescheid wissen muss! Wissen Sie, die Leute lesen heutzutage nicht mehr so gerne. Also habe ich versucht, die gewöhnlichen Menschen auf eine andere Weise zu erreichen. Das hier ist der erste Band.

"Ein Prozess dauert nur zehn Minuten, maximal eine halbe Stunde"

Wieder geht CK ans Regal und holt ein Buch hervor: „Eye­witness: A Litany of North Korean Crimes against Humanity. Volume 1“. Fast 9000 Zeugenberichte aus dem Arbeitslager Chonko-ri. Nicht in Zahlen und Grafiken. Sondern gezeichnet. Dieses Buch brennt in der Hand. Es durchzusehen, als Deutsche, ist fast unmöglich. Auf jeder Seite: Menschen, nur noch Haut und Knochen, mit kahlrasierten Schädeln, blutigen Knien und Händen, in zerrissener Kleidung. Sie werden von den Wärtern mit Knüppeln geschlagen, hocken nackt am Boden, fressen Insekten und Tier­exkremente. Werden als Leichen in Massengräber geworfen. Solche Gefängnisse drohen Flüchtlingen, die in China gefasst und nach Nordkorea zurückgebracht werden.

Es verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, Menschen in ein Land auszuweisen, wo sie derartigen Strafen ausgesetzt sind. Warum weist China die Flüchtlinge dennoch zurück?
Die Chinesen argumentieren, die Nordkoreaner seien Wirtschaftsflüchtlinge. Das ist falsch.

Was passiert mit den Flüchtlingen?
Sie werden zunächst als politische Flüchtlinge behandelt. Die nordkoreanischen Geheim- polizisten sagen: Ich weiß, dass du in China gewesen bist, ich weiß, dass du in chinesischen Kirchen gewesen bist, ich weiß, dass du Geld von Südkorea bekommst. ­Gib es zu. Dann schlagen sie die Flüchtlinge sehr brutal. Ein bis drei Monate werden sie befragt. Ist sichergestellt, dass keine politische Straftat vorliegt, landen die Flüchtlinge vor einem Gericht.

Sie bekommen einen richtigen Prozess?
Ja, aber der Prozess dauert meist nur zehn Minuten, maximal eine halbe Stunde. Es gibt einen Richter, einen Staatsanwalt, sogar einen Rechtsanwalt, aber der sagt eigentlich nichts. Meist läuft es so, dass der Richter nur das Urteil vorliest. Das war’s. Das ­Gefängnis Chonko-ri ist ein gewöhnliches staatliches Gefängnis in Nordkorea. Kein Arbeitslager. Die gibt es natürlich auch. Dahin kommen die politischen Gefangenen.

Im Gefängnis Chonko-ri sieht es furchtbar aus!
Und doch sind die Misshandlungen sehr viel weniger schlimm als noch vor zehn Jahren. Ich glaube, dass der internationale Druck die Menschenrechtssituation in Nordkorea beeinflusst. Ein Beispiel: Wenn Nordkoreaner aus dem Gefängnis entlassen werden, müssen sie auf einem Formular unterschreiben, dass sie so etwas nie wieder tun und so weiter. Seit drei oder vier Jahren haben die Beamten einen Satz hinzugefügt: Ich bestätige, dass zu keiner Zeit meine Menschenrechte verletzt wurden. Das ist natürlich Unsinn. Aber es zeigt trotzdem: Nordkorea erkennt an, dass es etwas wie die Menschenrechte gibt.

Die meisten Menschenrechtsorganisationen in Südkorea benutzen Nordkorea, um für ihre Arbeit zu werben. Sie malen ein Bild von der Juche-Diktatur, das jeden Tag schwärzer wird. CK tut das nicht. Er sagt: „Es wird besser in Nordkorea, schauen Sie sich die Zahlen an, die Menschen- rechtsverletzungen ­nehmen ab.“ In solchen Momenten strahlen seine Augen, und es scheint, als sei alles möglich. Aber dann, manchmal nur Minuten danach, versinkt er plötzlich in seinem Stuhl, klagt er über die Dummheit der Menschen. Weil sie sich für das Vernünftige nicht begeistern, das Unvernünftige aber gedankenlos konsumieren und übernehmen.

Der alte Mann erzählt von seiner Kindheit. Sein Vater, ein presbyterianischer Pastor, war streng. Er schlug die Kinder und verbot ihnen zu spielen. CK, ein Junge von sechs oder sieben Jahren, konnte sich aber nichts Schöneres vorstellen, als im Freien zu toben. Er sagte dem Vater, er wolle draußen auf die Toilette gehen – und rannte davon. Spielte den ganzen Tag mit den Jungs aus der Nachbarschaft, bis es dunkel wurde und die Eltern ihre Kinder nach Hause holten, eins nach dem anderen. Irgendwann war CK alleine. Er traute sich nicht heim, versteckte sich unter einem Verschlag. Jetzt war es stockfinster. Er hörte, wie Leute immer und immer wieder seinen Namen riefen. Aber er rief nicht zurück. Irgendwann fand ihn sein Vater. CK weiß es nicht mehr, aber er glaubt, dass er an diesem Abend nicht bestraft wurde.

Die jungen Südkoreaner beschäftigen sich mit Technologie und Wirtschaft, klagt CK

Sind Sie einsam?
Ja, sehr. Meine Freunde verstehen nicht, warum ich das hier ­mache. Kapierst du nicht, sagen sie, dass du alt geworden bist? Dass die jungen Leute sich nicht für deine Sachen interessieren? Warum lässt du die jungen Leute nicht das machen, was sie ­wollen? Ich wünschte, ich könnte es. Denn es ist alles so schwierig, und ich bin fast pleite. Aber ich kann nicht. Wissen Sie, ich kann das Schreien der Menschen im Norden hören. Ich verstehe die anderen Leute nicht: Hören sie das Schreien nicht? Haben sie kein Interesse an ihre eigenen Brüdern und Schwestern? Wie können sie sich so raushalten, ich verstehe das nicht. Besonders die Christen sind so gleichgültig. Die Leute in meiner Gemeinde sagen zu mir: Warum sprichst du mit dem Feind?

Weshalb sind die Südkoreaner so gleichgültig?
In der Vergangenheit haben unsere Politiker sehr viele Dinge über Nordkorea gesagt, die nicht stimmten – antikommunistische Propaganda. Viele Südkoreaner vertrauen daher auch den neuen Informationen nicht mehr. Außerdem sind viele Politiker des ­Militärregimes, das bis 1987 in Südkorea herrschte, auch heute noch in hohen Positionen. Leute, die ges­tern noch die Folter unter­stützten, sind heute für die Menschenrechte.

Was sagt die Regierung heute über Nordkorea?
Unsere Präsidentin Park Geun-hye, die Tochter des Diktators unter der Militärdiktatur, gibt den Leuten hier das Gefühl, dass Nordkorea sehr stark und mächtig sei – wie ihr Vater es getan hatte. Wenn es ein Problem mit den Banken in Korea gibt, sagt sie, es sei Nordkoreas Schuld. Alles, wofür unsere Regierung nicht verantwortlich sein will, schiebt sie dem Norden in die Schuhe. Und die Menschen glauben es. Nordkorea ist eigentlich überhaupt keine Gefahr für uns.

Nordkoreanische Flüchtlinge erhalten 20 000 bis 30 000 US-Dollar

CK kämpft an zwei Fronten. Gegen die Verhältnisse in Nordkorea. Und gegen die in Südkorea. In guten Momenten erwartet er alles von beiden Seiten. In schlechten traut er keiner.

CK, wie geht es den nordkoreanischen Flüchtlingen in Süd­korea, wenn sie es bis hierher geschafft haben?
Die Menschen in Nordkorea sind normalerweise so beeinflusst von der kommunistischen Propaganda, dass ihnen bestimmte Fähigkeiten fehlen. Die offensichtlichste ist das Planen. Sie denken nicht vorausschauend. Das ist meiner Meinung nach auch der Grund dafür, dass nordkoreanische Frauen von Schleppern so leicht an chinesische Männer verkauft werden. Sie hören Gerüchte, dass es für eine Frau in China leichter ist zu überleben als für einen Mann. Aber sie fragen nicht: Was heißt es für mich, einem Schlepper zu vertrauen, was kann in China passieren, wohin werde ich in China gehen, und wie werde ich Geld verdienen?

Und wenn sie es trotzdem nach Südkorea schaffen?
Dann haben sie hier große Probleme. Sie erhalten sehr viel Geld von uns. 20 000 bis 30 000 US-Dollar, früher bekamen sie es auf einen Schlag. Das ist für viele Südkoreaner sehr viel Geld. Aber die Nordkoreaner hatten schon nach einigen Wochen nichts mehr davon. Sie lagen auf dem nackten Boden und hatten alles Geld für einen Haufen Blödsinn ausgegeben. Heute bekommen sie das Geld in Raten. Trotzdem, es ist eine hoffnungslose Situation. Wenn ich frage: Warum suchst du dir keinen Job? Dann sagen sie: Warum gibst du uns keinen? Ich sage: Hier ist es deine ­eigene Aufgabe, dir einen Job zu suchen. Und sie sagen: Was für ein Land ist das hier? Die Regierung kümmert sich nicht um uns, und hilft uns nicht, einen Job zu finden! Es ist eine sehr verwirrende Situation für sie. Sie sind verwirrte Menschen.

Ihre Art zu denken passt nicht nach Südkorea?
Ja. Ein anderes Beispiel. Wir haben ja einen Bericht über Gefängnisse in Nordkorea verfasst. Eines Tages dachte ich: Wie sind ­eigentlich die Verhältnisse in Südkorea? Ich schnappte mir einen Kollegen, und wir fragten noch zwei nordkoreanische Flüchtlinge, ob sie uns begleiten wollten. Was wir im Gefängnis sahen, macht mich sehr, sehr glücklich. Das Gebäude sah wie ein gewöhnliches Haus aus, kein Stacheldraht, niedrige Mauern, Bäume. Alles war sehr sauber. Das Essen war sehr gut. Ich dachte: Endlich haben wir den internationalen Standard erreicht. Dann fragte ich die beiden Nordkoreaner nach ihrem Eindruck. Und ob Sie es glauben oder nicht: Sie waren ungeheuer erbost. Sie sagten – beide: Warum behandelt ihr diese Kriminellen, diese Sünder, so gut? ­Da ist es doch kein Wunder, dass ihr so viel Kriminalität in Südkorea habt, wenn ihr so gut mit den Verbrechern umgeht. – ­Das ist die nordkoreanische Mentalität.

Wie lange hatten diese Nordkoreaner schon im Süden gelebt?
Sechs oder sieben Jahre. Aber ihr Denken hat sich nicht verändert! Das wird ein sehr ernstes Problem, wenn eines Tages die beiden Teile Koreas wieder vereinigt werden. Und das kommt: Niemand weiß, wann, aber früher oder später wird es passieren. Das ist kein großes Thema. Das große Thema wird danach kommen. Wir 50 Millionen Südkoreaner müssen dann auf 25 Millionen Nordkoreaner aufpassen, die aus unserer Sicht geistig zurückgeblieben sind.

Wie könnte Südkorea die nordkoreanischen Flüchtlinge besser integrieren?
Das ist sehr schwierig. Wir dachten, ein wichtiger Punkt wäre, dass sie ihre Arbeit hier fortsetzen könnten, zum Beispiel als ­Mediziner oder Ingenieur. Aber ihr Wissen ist so veraltet! Und der Wettbewerb in Südkorea ist hart. Wenn ein Nordkoreaner nicht außergewöhnlich gut ist, wie soll er hier überleben?

Es muss doch auch Erfolgsfälle geben. Immerhin leben mehr als 26 000 nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea.
Bei den Jüngeren, ja. Bei denen sehe ich Hoffnung. Aber für alle anderen: völlig hoffnungslos! Sie können sich nicht in unsere Gesellschaft einfügen. Nach ein paar Jahren im Süden beschweren sich die meisten von ihnen und sagen, dass sie es bereuen, hierhergekommen zu sein.

Kein Thema für junge Südkoreaner - Überfüllte Gefängnisse, wie auf der Zeichnung aus Chonko-ri.

Mit den Jüngeren meinen Sie die, die nach Südkorea gekommen sind, als sie klein waren?
Ja, Kinder, die hier groß werden. Schon für Jugendliche ist es zu schwierig mitzuhalten. Das Eintrittsexamen für eine koreanische Universität ist sehr schwer. Kein Nordkoreaner hätte auch nur den Hauch einer Chance. Deshalb hat die Regierung ein Gesetz erlassen, dass ein bestimmter Anteil der Plätze an Nordkoreaner vergeben werde muss. Es gibt also sogar an den Topuniversitäten in Seoul nordkoreanische Studenten. Aber lange lag die Abbrecherquote im ersten Jahr bei 90 Prozent. Jetzt ist es zwar ein bisschen besser geworden, aber noch immer bricht die Hälfte der Studen­ten das Studium ab, weil sie nicht mitkommen. Sie schaffen es nicht, sich an die Konkurrenzsituation anzupassen.

"Wir glaubten nie, dass das, was wir machten, Einfluss ­haben könnte - und machten es trotzdem."

Im Sommer 2013 war Seoul im Aufruhr. Die demokratische ­Partei, oppositionelle Zeitungen und Fernsehsender, Studenten riefen zu Demonstrationen auf. Die Leute standen abends mit Kerzen vor dem Rathaus und schrien „Park muss weg“. Ein politischer Skandal in Südkorea, der den Rest der Welt nicht wirklich erreicht hat. Präsidentin Park soll bei der Wahl 2013 den Geheimdienst und das Militär für den Wahlsieg missbraucht haben. Watergate-Affäre nennen das die Demonstranten. Die Präsidentin äußerte sich nicht. Auch die großen konservativen Zeitungen verschwiegen die Demonstrationen mitten in der Hauptstadt.

CK war dabei. Stundenlang saß er im Schneidersitz auf dem Gras vor dem Rathaus. In der Hand eine Kerze, das Licht re­flektierte sein beherrschtes und doch so lebendiges Gesicht. Vorne auf der Bühne wurden Reden gehalten, das Publikum brüllte im Chor. CK brüllte mit. Niemand hier war so alt wie dieser 81 Jahre alte Mann. Niemand so jung.

CK mit seiner Frau in der eigenen Wohnung

Soll ich Ihnen mal was sagen? Die Veränderungen kommen! Wann fängt der Sommer an, am 21. Juni? Nein, das ist nicht der Tag. Der Sommer kommt plötzlich. Eines Tages denkst du: Jetzt ist er da! Genau so kommen die Veränderungen in der Welt. Du fühlst sie nicht, du siehst sie nicht – aber sie kommen.

Das glauben Sie wirklich?
Früher, in den 60er Jahren, gab es mehr als einhundert Diktaturen auf der Welt. Als ich mich für die Menschenrechte zum ersten Mal engagierte, da lachten die Leute über mich. Sie sagten: Du bist naiv! Wir haben so viel gearbeitet bei Amnesty International. Aber wir glaubten nicht an das, was wir taten. Wir glaubten nie, dass das, was wir machten, jemals einen wirklichen Einfluss ­haben könnte. Wir machten es trotzdem, einfach deshalb, weil es besser war, als nichts zu machen. Und heute? Heute sind mehr als 95 Prozent der Diktaturen zusammengebrochen. Sehen Sie die Kraft? Diese Kraft kommt nicht von den Regierungen. Sie kommt von den Bürgern dieser Welt.

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