Herr Steinhöfel, Sie haben Ihr erstes Kinderbuch aus Wut geschrieben. Was hat Sie so geärgert?
Eine Geschichte, die mein Bruder Dirk damals illustrieren sollte. Sie war als Abenteuer- geschichte verkleidet, aber eigentlich ging es um ein Mädchen, das Skifahren lernen sollte. Ich mag keine Geschichten, die eigentlich nur Wissen vermitteln wollen oder dem lesenden Kind via Story etwas Pädagogisches unterschieben. Aus Ärger über den Missbrauch des Mediums Buch, aber auch den Missbrauch kindlichen Vertrauens, habe ich dann meine erste „Dirk und ich“-Geschichte geschrieben. Pädagogisch gar nicht wertvoll.
Entstanden Rico und Oskar aus Ärger?
Ja, kann man so sagen. Es macht mich wütend, wie manche Eltern heute mit ihren Kindern umgehen. Aus Angst, dass ihnen etwas passieren könnte, impfen sie ihnen eine Höllenangst vor dem Leben ein. Rico und Oskar sind erst mal Berliner Gören, Großstadtkinder, die viel alleine sind. Aber sie sind eben auch ganz anders als andere Gören. Zuerst wollte ich ein hochbegabtes Kind in den Mittelpunkt stellen, eins mit Macken. Oskar trägt den ganzen Tag einen Sturzhelm, auch wenn er gar nicht Fahrrad fährt, auch drinnen. Im Gegensatz zu Rico, der für alles offen ist, hat er eine Wahnsinnsangst vor der Welt. Sein Sturzhelm ist symbolisch.
Und wie kam Rico dann ins Spiel?
Rico war der klassische Counterpart. Tiefbegabt, wie er von sich selbst sagt. Der kleine Doofe, der für die Gags zuständig war. Man hat über ihn gelacht und nicht mit ihm. Da habe ich mich gefragt, wie sich wohl ein Kind fühlt, über das ständig gelacht wird, weil es die Welt einfach anders versteht als andere Leute. Und dann war der Tiefbegabte plötzlich interessanter als der Hochbegabte. Der Gegensatz zwischen Rico und Oskar hatte immer noch viel Potenzial für Komik, aber ich konnte zeigen, dass da ein Mensch mit Herz hinter der Tiefbegabung steht.
Worin besteht Ricos Tiefbegabung?
Rico glaubt, mit dem Denken hinterher zu sein, aber das stimmt nicht. Weil er nicht in das staatliche Schulsystem passt, muss er in ein Förderzentrum gehen. Da wird er auch aufgefangen, aber er ist ja nicht dumm, nicht behindert. Er kann nur rechts und links nicht unterscheiden und wenn er unter Stress gerät, geht es in seinem Kopf durcheinander – wie die Kugeln in einer Bingotrommel, so beschreibt er es.
Warum kommt der Begriff ADS in diesem Zusammenhang nicht vor?
Rico hat ganz klar ADS-Momente. Aber wenn das Wort fällt, hat man gleich diesen Stempel. Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ist eine Krankheitsklassifizierung – das ist so, als wenn man mich übers Schwulsein definieren würde. Ich bin zwar schwul, und im Katalog der Welt- gesundheitsorganisation war das bis vor kurzem noch als Krankheit definiert – aber das ist mir zu wenig. Krank bin ich natürlich gar nicht und auch nicht nur schwul. Und Rico hat eben auch nicht nur ADS. Er hat eine hohe emotionale Intelligenz, eine große Wärme, die ihn auszeichnet.
Gibt es ein reales Vorbild für Rico?
Er hat einige Züge von meinem damaligen Partner Gianni Vitiello, der leider nicht mehr lebt. Der war ADS-Erwachsener. Aber Rico ist kein Abbild von Gianni. Literatur verdichtet das Leben.
An einigen Stellen klingen Ricos Sätze allerdings ganz schön erwachsen.
Ja, vielleicht, und es ist auch grenzwertig, dass ein tiefbegabtes Kind ein Ferientagebuch schreibt, wie Rico es als Ich-Erzähler tut. Aber darauf kommt es nicht an. Es kommt auf den Wahrheitsgehalt einer Figur an, auf ihren emotionalen Gehalt. Und der ist bei Rico absolut stimmig.
Worauf kommt es am meisten an, wenn man mit einem Handicap leben muss?
Pauschal kann man das nicht beantworten. Ein Mensch mit rein körperlicher Behinderung erhält hoffentlich durchs Elternhaus eine gute Portion Selbstvertrauen. Geistig Behinderte brauchen – je nach Schwere der Beeinträchtigung – vor allem uns als Gesellschaft, die schützend und vorbehaltlos die Hand über sie hält. In Ricos Fall lässt die Mutter nichts zwischen sich und die Liebe zu ihrem Sohn kommen. Auch im Mikrokosmos der Nachbarn nehmen die meisten Rico genau so, wie er nun mal ist.
Warum ist Ricos Mutter eine Bardame, die nachts arbeitet?
Ich möchte, dass man in die Ecken guckt. Meine Eltern hatten 25 Jahre lang ein Taxigeschäft. Ich kenne massig Bardamen mit Kindern. Da haben die Kinder sogar Karteikästen mit Freiern geführt und das war total normal für sie.
Rico wird wütend, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. So beginnt seine Freundschaft zu Oskar. Warum?
Ungerechtigkeit spielt für Kinder eine große Rolle. Ganz viel von dem, wie wir die Welt als Erwachsene gestalten, hängt davon ab, wie wir als Kind mit Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit konfrontiert werden und wie wir lernen, damit umzugehen. Als sie sich kennenlernen, bemerkt Oskar zweimal, Rico müsse ja wohl ziemlich doof sein, woraufhin Rico ausrastet. Sein intuitiver Gegenvorwurf an Oskar lautet, der sage schlaue Sachen bloß, damit überhaupt irgendwer von ihm Notiz nehme. Oskar ist dagegen komplett rational gesteuert und kann gar nicht anders, als diese Wahrheit zu erkennen. Er bittet um Entschuldigung, die der wiederum komplett emotionale Rico ihm sofort gewährt. Beide haben Ungerechtigkeit in Verständnis verwandelt – solche Dinge sind bei mir immer Thema. Und Mitleid, Mitempfinden für andere. Rico lebt in einem Mietshaus in der Dieffe 93 in Kreuzberg und hat Kontakt zu allen Mitbewohnern. Zum Beispiel zu Frau Dahling, einer etwa 50-jährigen Karstadt-Verkäuferin, die manchmal vom „grauen Gefühl“ – wie Rico sagt – überwältigt wird, seit ihr Mann sie verlassen hat.
"Ein Kind darf Dinge sagen, die uns als Erwachsenen den Atem verschlagen"
Dieses Gefühl kennt auch das Mädchen Sophia, der Rico später im Buch begegnet. Welche Bedeutung hat sie?
Ich mag es nicht, wenn Kinder überbehütet werden, aber natürlich auch nicht, wenn sie vernachlässigt werden. So wie Sophia. Als Rico sie besucht, muss er in ihrem Zimmer durch Berge von Müll waten. Auf ihrem Schreibtisch stehen ein brandneuer Fernseher und ein Computer und dahinter in einem Glas ihr einziger Freund, ein alter Goldfisch. Das ist eine tieftraurige Szene. Rico fährt dann wieder nach Hause, muss im Taxi sogar weinen, weil alles über ihm zusammenbricht, und der Leser erlebt diese Katharsis mit ihm.
Ihr Buch ist ja auch komisch. Was macht seinen speziellen Witz aus?
Ein Kind darf Dinge sagen, die uns als Erwachsenen den Atem verschlagen. In meinem ersten Kinderbuch „Dirk und ich“ fahren die Jungs Schlitten und verunglücken. Und dann schreit der eine den anderen an: „Du bist einfach nur zu doof zum Schlittenfahren!“ Heute, zwanzig Jahre später, würden politisch korrekte Eltern sich bestimmt beschweren: Doof ist diskriminierend und außerdem hat mein Kind eine Dys-Schlittolie.
Ein Wort, das Rico sofort nachschlagen würde. Er schreibt nämlich lexikalische Erklärungen in sein Ferientagebuch. Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?
Welche ist Ihre Lieblingserklärung?
Die zu Depression. Rico schreibt in sein Tagebuch: „Das graue Gefühl. Mama hat es mal so genannt, als wir uns über Frau Dahling unterhielten. Eine Depression ist, wenn all deine Gefühle im Rollstuhl sitzen. Sie haben keine Arme mehr und es ist leider auch gerade niemand zum Schieben da. Womöglich sind auch noch die Reifen platt. Macht sehr müde.“
„Rico und Oskar“ handelt nicht nur von Gefühlen, es ist ein Berliner Kinderkrimi.
Ja, der eigentliche Krimi beginnt erst im zweiten Drittel der Geschichte. Es geht um den sogenannten Mr. 2000, der kleine Kinder entführt und dann 2000 Euro Lösegeld fordert. Er schreibt den Eltern: „Entweder Sie schicken mir 2000 Euro oder Sie kriegen Ihr Kind erst nach und nach zurück.“ Das ist ja eigentlich ultrabrutal, aber ich bin froh, dass mein Verlag mir das hat durchgehen lassen, denn Kinder lachen sich darüber kaputt. Aber dann wird Oskar entführt, der gerade anfängt, Ricos Freund zu werden. Da wird es spannend.
Ist Mr. 2000 auch eine Parodie?
Ja, eine Paraodie auf die Angst der Eltern vorm Schwarzen Mann. Statistisch betrachtet ist es völliger Schwachsinn, heute noch so viel Angst vor Kindesentführung zu haben wie vor vierzig Jahren. Aber die Leute haben sogar noch mehr Angst als damals! Die Kinder werden überallhin gefahren, man sieht sie nicht mehr alleine im Wald spielen, ihr Bewegungsradius ist extrem eingeschränkt. Sie lernen kein Sozialverhalten, sie lernen nicht hinfallen und wieder aufstehen. Das ist traurig.
Gefällt Ihnen die Verfilmung von „Rico und Oskar“?
Ja, es ist ein toller Familienfilm geworden.
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Haben Sie daran mitgearbeitet?
Nein. Ich habe die erste Fassung gelesen und die Filmleute machen lassen. Nichts ist schlimmer als ein hysterischer Buchautor, der sich in die Arbeit mischt.
Was gefällt Ihnen am Ergebnis?
Es muss nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal sein, wenn ein Film sehr viel vom Buch aufgreift, aber hier ist es so. Achtzig Prozent der Filmhandlung sind auch Buchhandlung – bis in die Dialoge. Nicht nur die Schauspieler sind toll, auch die Ausstattung. Der Film verströmt Farben, ohne dass es zu bunt wird. Rico ist total süß und spielt richtig gut. Und seine Gegenüber! Karoline Herfurth, die ich mir zuerst gar nicht als Mutter vorstellen konnte, spielt, als sei sie nie etwas anderes gewesen. Aber nicht nur die Wärme kommt rüber, sondern auch die Kälte. Der alte Fitzke aus dem vierten Stock in der Dieffe 93 ist richtig schön fies in seinem ewigen Schlafanzug und mit seiner unfreundlichen Schnauze.
Haben Sie gar keine Kritik?
Die Szene mit Sophia ist mir zu bunt. Im Buch liegt eine Art Grauschleier darüber. Aber ansonsten gebe ich neun von zehn Punkten. Und das auch nur um meiner Ehre als Autor willen.
Das Buch lebt von Ricos Emotionalität. Ist das filmisch gut umgesetzt?
Ja, ganz toll. Da kommt schon nach zehn Minuten eine Szene, die nicht im Buch steht und die ich noch nicht verraten will. Ich hätte beinahe geheult, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Es geht um die Liebe zwischen Mutter und Sohn. Einen anderen genialen dramaturgischen Trick kann ich aber verraten. Rico schreibt die Bücher ja in Tagebuchform, aber im Film hat er einen alten roten Kinderrekorder, in den er ab und an seine Gedanken spricht. In dem Moment, wo er da reinspricht oder ihn abhört, oder wo man ihn aus dem Off hört, hat man keineswegs das Gefühl von Off, sondern ist in Ricos Kopf. Ein geniales Mittel, um ständig an Ricos Stimmungslage dran zu sein. Er spricht ja nur in seinen Merkrekorder, wenn ihn wirklich was beschäftigt.
Kann ein Film mehr als ein Buch?
Ein Film kann, wenn er gut gemacht ist, binnen kürzester Zeit sehr viel Emotionalität vermitteln und den Zuschauer gefühlsmäßig entsprechend schnell an sich binden. Er kann ihn aber – genauso schnell – auch wieder aus diesem Gefühl herauswerfen, weil die filmische Erzählung immer die Stoppuhr im Nacken hat. Beim Lesen entstehen Gefühle über einen längeren Zeitraum hinweg, die Übergänge zwischen verschiedenen Gefühlszuständen verlaufen – außer wenn ich das aus dramaturgischen Gründen bewusst durchkreuze – viel sanfter. Wenn Film Achterbahn ist, dann ist Buch das Riesenrad. Gut unterhalten sollten aber beide.
Es heißt, Sie wollen eine Stiftung für tiefbegabte Kinder gründen. Stimmt das?
Ja, aber die Betonung liegt wirklich auf „wollen“. Da ist noch gar nichts in trockenen Tüchern. Die Rico-Bücher haben sich 800 000 Mal verkauft – das ist schon der Wahnsinn für ein Kinderbuch. Aber damit Geld genug Zinsen für eine Stiftung abwirft, braucht man sehr viel Kapital. Mal sehen, wie der Film läuft. Eine kleine Stiftung zu gründen, um sogenannte lernbehinderte Kinder zu unterstützen, wäre wirklich sehr schön.