"So ist das Hungertuch zerrissen"
Und zwar in einer russischen Sauna. Im Mittelalter hing das wertvolle Stück während der Passionszeit vor dem Altar. Über die Odyssee des Zittauer Fastentuches, eines der letzten, die noch erhalten sind
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
05.03.2014

Aus vielen Gründen dürfte es das Zittauer Fastentuch längst nicht mehr geben. Der erste: Martin Luther wollte es nicht. Bunte Tücher, die in der vor­österlichen Fas­tenzeit Altäre und Reliquien verhängen, waren für den Reformator „Gaukelwerk“. Zittau führte Luthers Reformation ein, ein halbes Jahrhundert, nachdem der Gewürzhändler Jacob Gürtler 1472 seiner Heimatstadt das 56 Quadratmeter große Tuch gestiftet hatte. Den Brauch, es jedes Jahr aufzuhängen, behielt man dennoch bei.

Im 17. Jahrhundert ver­blasste das Interesse an mittelalterlichen Dingen. Ostern 1672 sollte das Tuch endgültig in der Motten­kiste verschwinden. Der Zittauer Gymnasialleiter und Frühaufklärer Christian Weise schickte ihm Spottverse hinterher: „So ist das Hunger Tuch zerrissen / Und hat die Zeit, so alles frist, / Auch dieses Leimbt (Leinentuch) entzwey gebissen“. Weise irrte. Dem Fastentuch ging es gut. Erst mal.

Nur drei große Fastentücher haben die Jahrhunderte überdauert

Beim großen Stadtbrand von 1757 hätte es eigentlich in Asche zerfallen müssen. Jedenfalls war das Tuch fast ein Jahrhundert lang verschollen. Erst 1840 fand der städtische Ratsbibliothekar es beim Aufräumen aufgerollt und unversehrt hinter einem Bücherregal. Mittelalterliche Kunst war ­wieder en vogue, der sächsische König präsentierte das Prachtexemplar in Dresden. 1876 kehrte es heim nach Zittau, wo es die Bürger in einzelnen Ausstellungen zu sehen bekamen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lagerten russische Soldaten in Oybin, acht Kilometer südwestlich von Zittau. Im Wald bauten sie sich eine Sauna und brauchten Stoff zum Abdichten. Auf der Burg ­Oybin wurden sie fündig, dort hatte man das ­Zittauer Fastentuch zum Schutz vor Bombenan­griffen gelagert. Nach ein paar Wochen zogen die Russen wieder ab. Ein alter Mann erkannte vier durchnässte Stoffreste auf dem Waldboden und brachte sie mit dem Handwagen wieder nach Zittau.

Das Tuch kam zurück ins Stadtmuseum, wo man es nach der Wende im Depot fand, noch immer verdreckt und in Zeitungspapier gewickelt. Der alte Museumsdirektor wurde entlassen. Zum Nachfolger bestellte man ausgerechnet den früheren Marxismusprofessor der Technischen Hochschule. Museumsmitarbeiter waren entsetzt.

Doch Volker Dudeck erwies sich als Glücksgriff. Er ­gelang ihm, den Zittauer Schatz publik zu machen, die Schweizer Abegg-Stiftung für die Restaurierung des Tuches zu gewinnen und die Kirche zum Heiligen Kreuz als Ausstellungsort herzurichten. Dort ist das Zittauer Fastentuch seit fünf Jahren zu sehen, ein kleineres hängt im städtischen Museum aus. Nur zwei weitere große Fastentücher haben in Mitteleuropa die Jahrhunderte überdauert.

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