So schnell konnte ich gar nicht reagieren, wie meine Handtasche weg war. Als ich mich umdrehte, sah ich nur noch eine junge, männliche Gestalt wegrennen. Das war ein großer Schreck. Mein Schlüssel, der Ausweis, das Geld, alles weg! Und die Karten für die Oper. Auf der Polizeiwache stellte sich heraus: Ich war Opfer Nummer sechs. Ich fragte mich: Warum macht ein junger Mann so etwas, wofür braucht er das Geld? Ich bat die Polizei, mir Bescheid zu sagen, sobald sie ihn erwischen, ich wollte ihn treffen. Als sie ihn hatten, besuchte ich ihn in der Untersuchungshaft. 18 Jahre alt, sehr schüchtern. In schwierigen Verhältnissen aufgewachsen.
Er bekam eine unerwartet hohe Strafe: fast fünf Jahre Haft. Eine Erklärung für die Überfälle gab er mir nicht. Aber eine Entschuldigung, immerhin. Ich besuchte ihn im Gefängnis, es gingen ein paar Briefe hin und her. Ich dachte, ich könnte ihm eine Art Oma sein. Aber dann geriet er in eine Clique, die ihm nicht guttat. Wir haben keinen Kontakt mehr mit ihm, leider.
Dafür mit anderen Gefangenen. Denn mein Mann und ich begleiten seitdem vier, fünf Mal im Jahr eine Gefängnispfarrerin in die JVA Waldheim bei Chemnitz. Zu Ostern, Erntedank, im Advent oder zwischendurch. Zusammen mit anderen Ehrenamtlichen bereiten wir den Gottesdienst im Gefängnis vor, und wir musizieren – mein Mann spielt Bratsche, ich Geige. Danach gibt’s Kaffee und Kuchen, ich bringe Selbstgebackenes mit.
Einmal hatte ich Mohnkuchen dabei. „Warum grinsen einige Häftlinge so?“, wunderte ich mich. Ein Vollzugsbeamter klärte mich auf: Mohn kann die Blutwerte bei Drogentests verändern. Oder dass die Häftlinge bei „Leise rieselt der Schnee“ an Kokain denken – solche Verbindungen hatte ich bis dahin nicht im Kopf.
Meinen ersten Besuch im Gefängnis fand ich beklemmend. Die Türen fielen hinter mir zu, ich war eingeschlossen. Und um mich herum nur Männer. Betrüger, Mörder, Sexualstraftäter. Da hatte ich wirklich Angst und habe sehr auf Abstand zu den Gefangenen geachtet. „Was, wenn dich jetzt einer als Geisel nimmt?“, fing ich an zu spinnen. Heute ist das nicht mehr so, jetzt fühlt es sich eher an, als würden mein Mann und ich zu alten Freunden fahren. Nur das Eingeschlossen-Werden, das finde ich immer noch unangenehm.
Die Gefangenen, die an unseren Treffen teilnehmen, sind sehr dankbar, denn für sie sind wir eine Brücke zwischen drinnen und draußen. Wir sprechen viel mit ihnen: Welchen Beruf sie gelernt haben, wo sie gewohnt haben, ob sie Familie haben und wie sie sich ihr Leben nach der Haft vorstellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Christen sind oder nicht – neulich zum Beispiel habe ich mich lange mit einem Muslim aus dem Iran unterhalten.
Wir sind keine misstrauischen Leute, aber wir mussten lernen, dass wir den Gefangenen nicht alles glauben können. Viele erzählen, sie seien zu Unrecht inhaftiert; oder sie erfinden abenteuerliche Geschichten über ihr Leben. Inzwischen treffen wir Ehrenamtlichen uns regelmäßig mit der Gefängnispfarrerin und einer Sozialarbeiterin, um über solche Situationen zu sprechen. Auch wenn nicht alle Gefangenen es mit der Wahrheit so genau nehmen, versuchen wir, die Häftlinge ernst zu nehmen, wenn sie uns von ihren Sorgen erzählen. Deshalb besuchen wir sie ja: um ein offenes Ohr zu bieten. Aber wir müssen die Distanz wahren, wir dürfen nicht alles glauben.
Zu einigen Gefangenen entwickeln sich richtige Beziehungen, viele treffen wir ja über einen langen Zeitraum. Einer hat uns dann nach seiner Entlassung zu Hause besucht. So kam es, dass wir schon einen Mörder in unserem Garten hatten. „Wie könnt ihr euch nur mit denen abgeben?“ Das hören mein Mann und ich häufig von Bekannten oder Nachbarn. Aber man muss den Menschen von seiner Tat trennen, das ist wichtig. Denn für die Tat wird er bestraft. Ich möchte möglichst gar nicht erfahren, was die Gefangenen getan haben. Ich weiß, dass ich bei Vergewaltigern und Kinderschändern Probleme hätte, weiterhin offen mit ihnen umzugehen. Den Weg übrigens, auf dem ich überfallen wurde, nehme ich jetzt nicht mehr.
Mich beeindrucken Menschen wie Frau und Herr Riedel.
Als säkularer Humanist würde ich in vergleichbarer Situation so oder ähnlich auch handeln. Nicht unbedingt aus Sympathie für einen Straftäter, der Schlimmes getan hat, sondern aus Mitgefühl für einen Menschen, der Hilfe braucht, sich dereinst im normalen Leben wieder zurechtzufinden. Ich vertrete – wie viele naturalistisch-humanistisch orientierte Menschen – die Auffassung, dass es keine Willensfreiheit gibt, folglich auch keine Schuld im herkömmlichen Sinne für begangene Taten. Verantwortung für das, was man getan hat aber sehr wohl, und die Pflicht, sein Verhalten zukünftig zu ändern auch! (Schopenhauer vertrat diese Meinung, auch Nietzsche, fast alle heutigen Hirnforscher, auch z.B. Michel Friedmann, Rechtsanwalt, bekannter aber als TV-Journalist und Moderator. Sehr ausführlich habe ich die Thematik behandelt in meinem Buch: Warum ich kein Christ sein will, 2012, 5. Auflage, hier Kapitel IV)
Das Ehepaar Riedel handelt auch deswegen richtig, weil es durch sein Verhalten zeigt, dass Unrecht und Schlimmeres nicht durch ein ähnliches Verhalten beantwortet werden sollte. Ob man das nun als Christ oder Humanist tut, ist ebenso zweitrangig. Dass man es tut, ist wichtig. Es kommt aber etwas Entscheidendes hinzu. Die »Bestrafung« sollte das Ziel der Resozialisierung haben. Der Täter soll erkennen, dass er mit seinem Verhalten die Spielregeln der Gesellschaft verletzt hat. Es gilt daher, Einsichten und Motive zu entwickeln, die in vergleichbarer Situation ein gesellschaftskonformes Verhalten auslösen. Die meisten Täter sind in diesem Sinne positiv beeinflussbar. Zugegeben in unterschiedlichem Maße, bis hin zur Nichttherapierbarkeit z.B. von triebgesteuerten Sexualtätern, die dann lebenslang von der übrigen Bevölkerung isoliert werden müssen.
Ich habe meine Überzeugung, dass es keine Willensfreiheit gibt und wir uns daher Tätern anders widmen müssen, in o.g. Schrift so zusammengefasst: »In einem Punkt erheben wir uns vielleicht über die Natur: Wir sind im Begriff, ihrer Erbarmungslosigkeit (aufgrund erblicher Vorgaben und gesellschaftlicher Umstände) entgegenzutreten, indem wir ihre Gesetze erkennen und so zu Mitgestaltern im Sinne von mehr Menschlichkeit werden können. Die heimliche Sorge vor den Fortschritten der Hirnforschung, die so manchen Vertreter der Willensfreiheit umtreibt, stellt sich mir dar als Hoffnung auf mehr einfühlendes und helfendes Verstehen im mitmenschlichen Umgang.«
Ich weiß, dass der Komplex »Willensfreiheit« ein ganzes »heißes« Thema ist, das man in ein paar Zeilen nicht abhandeln kann. Deshalb dazu hier keine weiteren Ausführungen; siehe bei Lust und Laune obige Literaturangabe.
Vielleicht doch noch eine Bemerkung. Ich kommentiere auf evangelisch.de seit Jahren und viele werden mich als erklärten Gegner der christlichen wie überhaupt jeder Religion kennen. Das schließt aber keinesfalls aus, dass es trotz allem Gemeinsamkeiten über diese weltanschaulichen Differenzen hinweg gibt. Diese liegen im Verhalten gegenüber dem Mitmenschen. Es ist für den in Not befindlichen Menschen egal, ob wir aus »christlicher« oder z.B. »säkular-humanistischer« Einstellung heraus helfen. Entscheidend ist, dass wir es tun!
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Gemeinsam sind wir stark. Leider!
Univ.-Prof. Dr.-Ing Uwe Lehnert schrieb am 19. Februar 2014 um 13:21: "Das schließt aber keinesfalls aus, dass es trotz allem Gemeinsamkeiten über diese weltanschaulichen Differenzen hinweg gibt." Das ist ebenso wahr wie bedauerlich. Bedauerlich deshalb, weil die Gläubigen und Ungläubigen denselben Irrtümern anhängen. Schön zu sehen im vorliegenden Beispiel. Es wird von beiden Seiten heftig Reklame dafür gemacht, wie das Knastwesen im Detail zu gestalten sei. Gottesdienst, Mohnkuchen und Bratsche stehen auf der Liste. Ganz eindeutig nicht auf der Liste steht die Überlegung, was von gesellschaftlichen Zuständen zu halten ist, wo mancher Zeitgenosse offenbar Gründe zum Handtaschenraub hat. Ebenso ist es offenbar keine Frage, dass parallel zu dieser privaten Gewalt die überlegene Gewalt des Staates mit Gericht und Gefängnis zu bestehen hat. In welchem Verhältnis diese beiden Formen von Gewalt zueinander stehen, wäre nicht uninteressant zu ergründen. Das kriegt man allerdings weder heraus durch Überlegungen zur Willensfreiheit noch durch den radikalen Entschluss, die Frage überhaupt nicht zu stellen, sondern "ganz konkret dem einzelnen Menschen zu helfen", wie die hier gängige Augenauswischerfloskel lautet. Solche Floskeln finden sowohl bei Gläubigen wie auch Ungläubigen reißenden Absatz.
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