chrismon: Frau Rutschky, Herr Pastewka, Sie beobachten aus beruflichen Gründen Ihre Mitmenschen sehr genau. Können Sie uns erklären, was ein Spießer ist?
Bastian Pastewka: Spießig sind für mich meistens Schützenfeste, speziell in kleinen Vororten von Bonn. Die habe ich selbst erlebt, das war immer sehr grausam und ich habe versucht, mich dem, so gut es ging, zu entziehen. Wenn man aber mal Spießigkeit als allgemeine Form eines Aufrechterhaltens bestimmter Traditionen auffasst, dann muss ich vorsichtig sein, denn von diesen Traditionen pflege ich dann doch viel zu viele. Ich glaube, dass viele Leute meiner Generation bei dem Versuch, die Spießigkeit ihrer Eltern abzulegen, sich selber in eine solche begeben haben. Bei mir ist das ja auch so. Also dass ich zum Beispiel Mirácoli-Packungen immer ganz genau stapeln muss oder ’ne Pflanze auf den Fernseher stelle. Und dann denke ich: Mensch bist du denn eigentlich bescheuert!
Katharina Rutschky: Das hat für mich nun gar nichts mit Spießigkeit zu tun. Selbst das Schützenfest ist meiner Ansicht nach nicht spießig. Das ist die Kultur anderer Leute. Da muss ich doch nicht hin. Es ist im Grunde sogar eher spießig, dauernd zu denken: Die anderen sind doof und ich bin’s nicht.
Pastewka: Zugegeben: Ich nutze das auch als Comedian. Ich gehe auf die Bühne und sag den Leuten, was furchtbar ist an ihnen. Ich muss dabei die Figuren, die ich spiele, natürlich auch ein bisschen diffamieren. Ich muss dem Zuschauer sofort klar machen, dass ich zum Beispiel einen spießigen Bürokraten spiele. Das kann man natürlich reaktionär nennen. Aber ich brauche als Comedian eine Basis, irgendeine Randgruppe, die ich vorführen kann. Ich muss dabei manchmal oberflächlich herangehen und sagen: Diese Menschen sind alle sehr, sehr furchtbar.
Rutschky: Das ist ja auch okay. Im Grunde sind ja solche satirischen Beiträge auch ein Training in Selbstironie für die Zuschauer, denn jede Gruppe wird mal getroffen. Wenn es aber Comedians gibt, die noch mit dem ganz klassischen Klischee vom Spießer arbeiten, die sind dann bestimmt schlecht...
Pastewka: Au!
Frau Rutschky, Schützenfeste sind also nicht spießig. Was dann?
Rutschky: Wenn man das Wort benutzt, hat man ja ein gewisses Ressentiment gegen jemanden. Und ich habe eher ein Ressentiment gegen Überheblichkeit oder Dünkel. Vor allem gegen Menschen, die glauben, sie hätten feines Benehmen oder kämen aus feinem Haus. Ich erinnere mich an eine Szene, da war ich in einen Salon eingeladen und trug einen karierten Rock und eine Batist-Bluse. Das war, zugegeben, schon etwas problematisch, was ich da anhatte. Aber dann schaute mich eine der Gastgeberinnen an und sagte: „Also Katharina, so geht’s aber nicht.“ Und da war ich schon dreißig. Wir waren uns gar nicht so nah. Wenn eine Freundin das sagt oder mein Mann, dann ist das was anderes. Aber in einem Salon, wo ich Gast bin, da fühle ich mich dann als Kind aus dem Kohlenkasten. Das finde ich spießig, das ist das kleinlich Herzlose, Leute, die sich nicht vorstellen können, dass es andere gibt, die nicht mit dem goldenen Löffel geboren sind. Da krieg ich Hassgefühle.
Pastewka: Aber war dieses Verhalten nicht einfach nur fies?
Rutschky: Nein, es deutet auf eine gewisse Phantasielosigkeit hin. Spießigkeit ist die Unfähigkeit, über die eigene Position selbstkritisch und selbstironisch nachzudenken, vor allem auch im Umgang mit anderen. Natürlich gibt es unterschiedliche Geschmäcker, vor allem auch in Kleidungsfragen. Ich könnte Ihnen aus dem Stand eine stundenlange Rede halten, wie scheiße die jungen Leute heute rumrennen. Die sehen alle ekelhaft aus...
Pastewka: Das würde ich Ihnen blind unterschreiben.
Rutschky: ...aber ich kann das nur machen, indem ich was mitteile über mich und dadurch mein Urteil relativiere. Oder indem ich versuche eine Erklärung zu finden, warum die rumlaufen, als ob sie ihre Kleider aus dem Rot-Kreuz-Sack geholt hätten.
Pastewka: Warum hauen Sie nicht mal einfach nur drauf? Sie können doch einfach sagen, was sie davon halten.
Rutschky: Nee, das entspricht nicht meinem Stil. Ich will nicht diesen beliebten Gratis-Mut haben, rummaulen und stänkern, wenn es nichts kostet, aber sonst kuschen. Das gilt auch, wenn es um Politik geht. Da wird dann gemosert und gemault. Dann sag ich: „Dann geht doch, verdammt, in eine Partei! Und wenn euch der Dreck hier stört, dann geht ins Haus und holt den Besen und tut mal was.“ Der Spießer hat Gratis-Mut. Der schimpft auf Leute, der weiß alles besser, er rührt sich selber nicht, er ist nie in einer Partei gewesen, hat sich nie engagiert, aber er hat ’ne große Klappe. Ich will nicht kritisieren, wenn es nicht mit einem gewissen Risiko behaftet ist. Sonst wird auch Satire spießig.
Pastewka: Na ja, faktisch gehe ich zwar kein Risiko ein, aber auch nur, weil ich immer fiktional arbeite. Doch solche von mir dargestellten Figuren wie Brisko Schneider habe ich immer auch als Kritik am eigenen Medium, am Fernsehen, verstanden. Das glaubt keiner, der die Sendungen jemals gesehen hat. Ich hatte das aber im Hinterkopf. Damals starteten zum Beispiel gerade auf RTL 2 so Reportagen mit Titeln wie „Bumsen, Busen, Ballermann“. Das war alles grauselig. Das wurde gemacht, um voyeuristisch zu sein, und es wurde so getan, als müsste man kritisch über den Straßenstrich in Sankt Petersburg berichten, dabei aber die ganze Zeit jede einzelne Dame zeigen. Das ist widerlich. Das haben wir versucht, mit Brisko Schneider aufzugreifen.
Wann haben Sie das letzte Mal gedacht: „Das war jetzt aber spießig!“?
Rutschky: Das ist gar nicht lange her. Das war bei der Diskussion um die Rechtschreibreform. Die ganzen Leserbriefkaskaden und öffentlichen Statements gegen die Reform, die waren für mich spießig.
Katharina Rutschky: „Ist das deutsche Komma
wirklich mein Leben wert?“
Was genau war daran spießig?
Rutschky: Das Kleinliche, Pedantische, Ängstliche. Und hinter dieser Ängstlichkeit spürt man eine ziemliche Aggressivität. Und das Ganze ist auch immer irgendwie restriktiv. Mit manchen konnte man über die Rechtschreibreform gar nicht mehr reden. Die Gegnerschaft ist eine Weltanschauung geworden. Dabei: Welcher normale Mensch beschäftigt sich eigentlich mit so einem Unsinn? Der Herr Denk (Gründer der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform“, Anmerkung der Red.) zum Beispiel beschäftigt sich seit zehn Jahren mit der Rechtschreibreform! Der hat sich leider nie gefragt: Ist das deutsche Komma wirklich mein Leben wert? Über so was bin ich erschüttert. Dazu gehört Größenwahn und Sendungsbewusstsein.
Pastewka: Ich glaube auch, dass das Ganze nur deshalb so hochkocht, damit sich viele, viele Spießer profilieren können. Das schau ich mir dann, ehrlich gesagt, auch wieder ganz gern an. Da bin ich gern Voyeur.
Rutschky: Und was sehen Sie? Alte Männer, die sich wichtig tun und denen es auch offenbar an jeglicher Selbstironie fehlt. Reich-Ranicki, Walser oder Herr Muschg zum Beispiel, dem würde ich sagen: „Herr Muschg, Sie sind 71, halten Sie endlich die Klappe! Sie hocken nicht in der Schule und haben seit Jahren die neue Rechtschreibung gelernt!“ Das Spießertum hat einen autoritären Charakter, das wird bei der Rechtschreibdebatte sehr deutlich: Was ich gelernt habe, das will ich nicht entwertet sehen durch eine vereinfachte Rechtschreibung, die die Kinder – die ja sowieso nichts taugen – jetzt lernen.
Pastewka: Ich hab die Rechtschreibreform immer nur unter dem Gesichtspunkt der komödiantischen Verwertbarkeit eingeordnet. Aber inzwischen tut es mir fast Leid, dass wir die Kritik an der Rechtschreibreform lange Zeit als Comedians weitertransportiert haben. Da muss ich mich fast dafür entschuldigen. Als ich merkte, dass die Welle gegen die Rechtschreibreform so hochschwappte, hab ich gesagt: Lasst uns sofort aufhören, keine Gags mehr über neue Wortschreibungen – wir machen es nur noch schlimmer. So wichtig ist Rechtschreibung nicht.
Jetzt sind es doch aber gerade die Literaten oder Publizisten wie der Chefredakteur des „Spiegel“ oder ein Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die gegen die Reform sind. Sind das alles nur Kleingeister?
Pastewka: Nein. Das sind eben Leute, die sich gern mal öffentlich zu Wort melden.
Rutschky: Der Spießer-Impuls tritt auch immer dann auf, wenn ein gewisser Bedeutungsverlust befürchtet wird. Das ist bei den Literaten vielleicht der Fall. Ich kann’s auch anders sagen: Jemand wie Grass, dem können Sie noch einen Nobelpreis geben, der wird sich trotzdem überall aufplustern. Und das ist spießig. Dass jemand nicht seine Grenzen sehen will und nicht sagen kann: Jetzt machen wir mal halblang, ich blase mich nicht mehr auf. Bei den Schriftstellern gibt es sehr viele, die zu dieser Art moralischer Eitelkeit neigen. Und bei den Medienleuten – da ist das weniger spießig als vielmehr ein Putschversuch. Diese Medienleute sind besoffen von ihrer so genannten Macht. Die wissen nicht mehr genau, was sie können und was nicht. Und dabei entdecken sie plötzlich die so genannte „Mehrheit der Bevölkerung“, das ist auch so ein Käse, plötzlich also „vox populi“. Irre! Die wollen doch nur Krach machen und dazu noch vornehm sein.
Historisch war der Spießbürger ja der Bürger, der die Stadt noch mit Spießen verteidigt hat, als es längst Feuerwaffen gab. Haben Spießbürger grundsätzlich eine Abneigung gegen Reformen?
Rutschky: Kann man sagen. Die Mentalität mancher Montagsdemonstranten in den vergangenen Monaten ist zum Beispiel schon sehr spießig. Der Osten ist überhaupt recht spießig, die haben gedacht, sie haben die absolute Sicherheit der DDR plus Mallorca plus West-Auto, und weiter wird sich nichts ändern.
Pastewka: Ich glaube, da erheben wir uns über die Not der Menschen. Über Menschen, die auf die Straße gehen, weil sie sich nur so Gehör verschaffen zu können glauben. Das ist nicht in Ordnung, diese Menschen als Spießer zu bezeichnen. Und falls sie falsche Erwartungen hatten in der Vergangenheit, hat das doch nichts mit Spießigkeit zu tun, sondern mit Ahnungslosigkeit.
Rutschky: Also dafür ist man schon auch selbst verantwortlich. Diese ängstliche Erwartung an Versorgung, Sicherheit, und dann wollen sie auch noch wählen – das finde ich schon spießig. Ich finde, da hätten sich manche Leute schon etwas besser informieren sollen. Und nicht nur den Fehler bei den anderen suchen. Über Hartz IV zum Beispiel muss man sich nicht beschweren. Wenn man nichts zu tun hat, macht’s doch auch nichts aus, wenn man mal einen Fragebogen von 16 Seiten ausfüllt, verdammt noch mal! Das ist doch nicht zu viel verlangt! Es soll ja auch gerecht zugehen. Wenn wir woanders leben würden, dann wäre der Fragebogen vielleicht nur fünf Seiten lang, aber da die Deutschen alles ganz genau nehmen und aufpassen, dass der Nachbar nicht zu viel kriegt, mussten es eben 16 Seiten werden.
Bastian Pastewka: „Ich kann die Politikverdrossenheit gut verstehen“
Pastewka: Ich kann die Politikverdrossenheit gut verstehen. So, wie sich unsere Politiker darstellen, wie Politik rüberkommt...
Rutschky: Also diese einfache Art der Politikerschelte zu betreiben ist ziemlich doof. Unbeschreiblich spießig find ich seit Jahren auch die Kritik an Schröder. Ich gebe es zu: Ich liebe meinen Kanzler. Ich sag das immer ganz laut, damit sich die Leute richtig ärgern. Ich wähle den auch wieder und ich liebe und verehre ihn.
Pastewka: Auch privat?
Rutschky: In jeder Beziehung! Die Leute ärgern sich, dass er der Medienkanzler ist. Man nimmt ihm übel, dass er immer gut gelaunt ist. Dass er Brioni-Anzüge trägt. Dass er sich – mein Gott! – vielleicht sogar die Haare färbt! Diese Kritiker finde ich so was von spießig. Man hat ihm verübelt, dass er es nach oben geschafft hat und dass es ihm sogar Spaß macht. Und dass er auch im Ausland ein anständiger Anblick ist!
Pastewka: Sie sind verliebt!
Rutschky: Das muss auch mal sein! Nein, ich bin nicht verliebt in den Kanzler.
Pastewka: Ich seh’s doch!
Sind denn eigentlich vor allem Männer gefährdet, spießig zu sein?
Rutschky: Nein, gar nicht. Alice Schwarzer ist für mich das klassische Beispiel einer Spießerin. Sie hat dafür gesorgt, dass der Feminismus verblödet ist. Ich hab mal erlebt, wie sie einen jungen Mann fertig gemacht hat, „handkastriert“ nenne ich so was. Der hat keinen Piep mehr gesagt. Wenn die auf einen trifft, der ihr widerspricht, wird sie ganz huschig, das versteht sie gar nicht, weil sie doch immer auf der richtigen Seite steht. Frau Schwarzer ist deshalb eine Spießerin, weil sie niemand neben sich haben kann, vor allem keine Frau. Bei Männern ist sie gnädiger, wenn sie nicht gerade auf der Bühne ist und eine Show abzieht, in der sie dann den Mann erst mal vorführen muss, damit irgendwelche alte Tanten im Publikum vor Freude quietschen können.
Haben Sie manchmal Angst, vielleicht selbst spießig zu sein?
Pastewka: Natürlich. Das ist der Komplex von Leuten wie mir, die liberal und fröhlich erzogen worden sind. Und die trotzdem oder gerade deshalb immer das Gefühl haben, nicht ganz passend zu sein.
Und wie gehen Sie damit um?
Pastewka: Meistens muss ich dann irgendwann lachen. Zum Beispiel, wenn es besonders feierlich wird. Ich bin ja mit 14 Jahren erst kurz vor der Konfirmation getauft worden, weil meine Eltern dachten, sie tun mir weiß Gott was Gutes, wenn Sie mir die Entscheidung überlassen. Ich sollte selbst entscheiden, ob ich evangelisch werden möchte. Aber: In einer Bonner Kirche zu stehen – zu stehen und nicht mehr gehalten zu werden! – und dann kommt einer und schüttet einem Wasser über den Kopf, da musste ich einfach sehr, sehr laut lachen. Das war natürlich wieder sehr, sehr peinlich und das machte alles kaputt. Aber es ging einfach nicht anders. Das ist heute auch noch nicht anders. Ich habe diesen Komplex, sobald ich in große Räume komme und es andächtig wird. Oder bei Beerdigungen: Hören Sie sich rheinländische Pfarrer an! Die sagen: „Mensch, jetzt sin’ wir heute hier zusammenjekommen. Der Horst is dod.“ Hab ich gehört, da musste ich mich schon wegwerfen. Da konnte ich auch nicht mehr hören, was danach noch war.
Frau Rutschky, keine Angst vorm Spießigsein?
Rutschky: Nein. Ich wohne ja selbst in einer sehr gemischten bürgerlich-kleinbürgerlichen Straße, doch im Grunde fällt es mir schwer, irgendjemand als Spießer zu bezeichnen, mich eingeschlossen. Selbst wenn jemand Stoffblumen aufstellt oder einen Pinocchio oder einen weinenden Clown ins Fenster stellt. Das ist alles für mich nicht spießig. Ich hab selbst ’ne große Nippsachen-Sammlung, geschmackvoll natürlich.
Pastewka: Also Nippes zu sammeln ist okay, ihn aber in einen Setzkasten zu tun ist gefährlich.
Rutschky: Ach...
Haben Sie vielleicht einen Setzkasten, Frau Rutschky?
Rutschky: Nö.
Pastewka: Auf lange Sicht kann man wahrscheinlich sowieso dem Unausweichlichen nicht entkommen. Dann hilft nur zu sagen: Und jetzt gründe ich aber auch eine Familie, und jetzt gibt es auch ein Kind, und jetzt gibt es auch einen Hund und ein Einfamilienhaus. Und jeden Samstag gehen wir in den Baumarkt und holen uns ’ne 18er-Schraube.
Rutschky: Also eine Familie zu gründen finde ich nicht spießig. Dass man Leute mit Nierentisch oder weil sie heiraten und Kinder kriegen oder ’ne Laube haben oder einen Schrebergarten als spießig bezeichnet, finde ich nicht richtig.
Was kann man denn vielleicht abschließend zur Ehrenrettung des Spießers sagen?
Pastewka: Wir haben so viele Spießer, dass ich gar nicht mehr weiß, welchen der vielen ich ehrenretten soll.
Rutschky: Zu seinem Vorteil kann ich sagen: Ich glaube der Spießer stirbt aus. Da haben auch Comedians und 50 Jahre Bundesrepublik geholfen. Er stirbt aus und wird irgendwann mal ausgestellt.
Pastewka: Dann bin ich arbeitslos.