Müssen Christen Verzicht üben?
Kriche und Christentum stehen im Ruf, unablässig Abkehr vom Genuss zu predigen. Dabei ist die Askese nur eine Strömung in einer Tradition, die auch der Sinnenfreude reichlich Raum gibt
06.08.2013

Wahrscheinlich haben sich die Bosse der größten deutschen Speiseeisfirma vor zwei Jahren begeistert auf die Schenkel geschlagen, als Kirchenvertreter ihnen die Freude machten, sich öffentlich über ihre Eiskreation namens "Sieben Todsünden" aufzuregen. Das brachte Aufmerksamkeit für ihre Eiscreme – allerdings auch eine schlechte Presse für die Kirche. Die stand wieder mal im Verdacht, in den Verzicht verliebt und allem Genuss abgeneigt zu sein.

Zu diesem Image hat sie aufgrund ihrer historischen Entstehung selbst beigetragen, denn die ersten Christen glaubten, dass die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorstehe. Es galt, die verbleibende Zeit zu nutzen, um sich auf die Begegnung mit Gott vorzubereiten und nicht in irdischen Lüsten zu verharren. So mahnte schon der Apostel Paulus: "Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr in Begierden verfallt."

Ende des vierten Jahrhunderts stieß der Kirchenvater Augustin auf diese Verse aus dem Römerbrief (13,13 f.). Da er bisher ein rechter Lebemann gewesen war, sich nun aber im Alter von 32 Jahren zum Christentum bekehrte, trafen ihn die biblischen Worte bis ins Mark. Nach seiner Bekehrung entwickelte Augustin eine folgenschwere Lehre: Das Ziel des menschlichen Lebens liege zwar im Genießen (lateinisch: frui), aber nur und ausschließlich im Genießen Gottes, denn Gott als das Gute an sich sei das Einzige, was um seiner selbst willen erstrebt werden dürfe. Alles andere dürfe dagegen nur für dieses Ziel, nämlich Gott zu genießen, genutzt werden (lateinisch: uti). Genuss Gottes hieß für Augustin allerdings, sich streng an den mönchischen Idealen der Askese und des Gebets zu orientieren.

Diese Lehre Augustins hat die christlichen Kirchen stark geprägt, besonders seine Leibfeindlichkeit und Kritik an der Sexualität als Ursprung aller Sünde. Er entwickelte die verhängnisvolle Lehre von der Erbsünde, nach der alle Menschen von Anfang an sündig seien, da sie alle durch einen stets sündhaften Geschlechtsakt gezeugt seien. Augustins Lehren flossen in der Überlieferung mit jener frühchristlichen Überzeugung zusammen, dass es mit der Erde sowieso bald zu Ende gehe. Martin Luther hingegen, der ansonsten sehr von Augustin geprägt war, stellte die Askese in das freie Ermessen der Gläubigen und warnte davor, asketische "Leistungen" als Verdienst für das ewige Heil anzurechnen.

Jesus war nicht übermäßig asketisch

Es gibt durchaus Passagen in der Bibel, die der Feier, dem Genuss und der Freude aufgeschlossen gegenüberstehen. So wird im Alten Testament geradewegs zum Genuss der Schöpfung aufgerufen: "Freue dich der Frau deiner Jugend. Lass dich von ihrer Anmut allezeit sättigen und ergötze dich allewege an ihrer Liebe" (Sprüche Salomos 5,18 f.). Auch Jesus scheint nicht übermäßig asketisch gewesen zu sein. Er bezeichnete sich selbst ironisch als "Fresser und Weinsäufer" (Lukas 7,34) und stellte sich damit bewusst in Gegensatz zu Johannes dem Täufer, dem Asketen, der wahrscheinlich sein erster Lehrer war.

Diese Traditionen, die den Genuss würdigen, kommen bis heute gegen die Betonung der Askese im Sinne Augustins schwer an, obwohl viele Geistliche durch zeitgemäße Verkündigung, demonstrative Lockerheit und sorgfältig gestaltete Gottesdienste versuchen, die sinnenfreudige Seite des Evangeliums stark zu machen – sicherlich ein sinnvolles Anliegen, denn Augustin und seine Nachahmer haben es mit der Verzichtsfreude übertrieben.

Auf der anderen Seite aber haben die Appelle des Kirchenvaters Augustin aus dem fünften Jahrhundert durchaus auch etwas für sich: Sie helfen, Wichtiges und weniger Wichtiges sowie Fremd- und Eigennutz ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen. Denn wer alles unter der Perspektive des Eigennutzes betrachtet, verliert schnell das Gespür dafür, was andere Menschen brauchen. Das hatte auch Jesus im Blick, als er das biblische Doppelgebot der Liebe zitierte: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben und deinen Nächsten wie dich selbst" (Matthäus 22,37–39).

Wer das beherzigt, der weiß, wann Verzicht sinnvoll ist. Ein Eis mehr oder weniger, wie immer es auch heißt, spielt dabei wohl kaum eine Rolle.

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