Ein Skiunfall, im Knie war das Kreuzband gerissen. Die Tage nach der OP fühlte ich mich, als sei ich von 180 auf Tempo 20 heruntergebremst worden. Auf das Tempo alter Frauen mit Gehhilfen, das Tempo von kleinen Kindern mit Träumerpausen. Nein, ich war noch langsamer, denn ich musste zusehen, wie mich alte Frauen mit Gehhilfen und Kinder mit Träumerpausen überholten.
Ich bin jemand, der mit einem gesunden Körper im Leben steht, der das Tempo immer hochhält. Auch mit Krücken dachte ich noch in diesem Tempo. Der Impuls, die Bahn zu erwischen oder mit durch eine Drehtüre zu gehen, zuckte noch durch mein Hirn. Es war natürlich aussichtslos.
In einem Dönerladen neben meiner Wohnung fragte mich der Eigentümer, als ich zwei Meter von der Theke entfernt mit hochgelegtem Bein auf einem Plastikstuhl saß: „Schaffst du abholen?“ Nein, ich schaffte es nicht.
Es war ein Erfolg, dass ich es am dritten Tag nach der Operation bis zum Arzt vorn an der Hauptstraße schaffte. Das ganze Bein pochte. Im Ärztehaus kam der Aufzug nicht, ich schlug mit der Krücke ans Aufzugblech. Mit mir fuhren dann zwei sehr alte Frauen, eine mit einem Rollator, die andere mit Krücken wie ich; sie warfen mir Blicke zu, die sagten: „Willkommen im Club.“
Plötzlich abhängig - vom Schmerzmittel, den Krücken, den Mitmenschen
Das Gefühl, von etwas abhängig zu sein, kenne ich nicht. Aber nun fühlte ich mich abhängig: von meinem Schmerzmittel Diclofenac, von meinen Krücken, von meinen Mitmenschen. Die Frage „Kannst du mir bitte etwas zu trinken bringen?“ zu stellen, nervte mich, aber es half nichts. Versuchen Sie mal, mit einer vollen Tasse Kaffee von der Küche ins Wohnzimmer zu hüpfen.
Die Welt machte mir plötzlich ein bisschen Angst, ich verhielt mich defensiv, sah mich oft schon als Kollisionsopfer unachtsam laufender Passanten. Den verängstigten Blick, den man gelegentlich bei alten Menschen sieht, wusste ich plötzlich neu einzuschätzen: Es ist die Angst der Gebrechlichen vor noch mehr Verletzung. Mir wurde klar: Ich mache gerade eine Zeitreise, denn vermutlich werde ich in 40 Jahren so ähnlich durch die Welt gehen wie jetzt – nur ohne Aussicht auf Genesung.
Am sechsten Tag nach der OP setzte ich mich auf dem Rückweg vom Ärztehaus auf halber Strecke in ein Café, weil das Bein mal wieder voll Blut gelaufen und angeschwollen war. Das Bein legte ich auf einen zweiten Stuhl. Ich schaute meinen Oberschenkel hypnotisierend an und versuchte kraft meiner Gedanken, ihn zur Kontraktion zu bewegen. Nichts. Ich murmelte: „Beweg dich. Bewe-he-g dich!“ Und dann, tatsächlich, ein kurzes Zucken, das Comeback meines Oberschenkels! Ich belohnte mich mit einer Schmerztablette.
Mir fiel auf, dass ich schon sehr lange nicht mehr allein in einem Café gesessen und den Menschen beim Menschsein zugesehen hatte, einfach so. Frauen mit zu großen Sonnenbrillen schwebten auf Gazelle-Rädern vorbei; herrenlose Hunde streunten wie in einem Drittweltland umher; eine Reisegruppe schlenderte durch mein Blickfeld und redete in einer Sprache, die ich keinem Land zuordnen konnte.
"Mama, was hat der Mann?"
Ein paar Meter vom Café entfernt stehen zwei Münztelefone. Ich hatte mich oft gefragt, wieso es diese Münztelefone überhaupt noch gibt. Nun erfuhr ich warum: Im Fünfminutentakt kamen entweder alte Frauen oder ausländische Männer und telefonierten, aber immer nur ganz kurz. Sie hatten kleine Zettelchen mit Telefonnummern dabei, die sie wählten. Sie sagten kurz etwas, legten wieder auf und gingen weiter. Eine jener überspannten Großstadtmütter lächelte mich zu meiner Verwunderung an. Eher aus Mitleid als aus Sympathie, wie ich dann merkte. Ihr Kind fragte: „Mama, was hat der Mann?“
Am zehnten postoperativen Tag nahm ich die letzte in der Packung verbliebene Schmerztablette und kam auf zwei für mich eher ungewöhnliche Ideen: Ich wollte mal wieder Doris Day hören und Goethes „Faust“ lesen. Natürlich fragte ich mich, ob das mit dem Diclofenac zusammenhängt, konnte aber in der wirklich langen Liste der Nebenwirkungen – die fängt bei Magengeschwüren an, führt zu Gedächtnisstörungen und hört bei Alpträumen auf – nichts finden. Ich habe extra noch mal nachgesehen.