Michael Ondruch
„Alles ist erlaubt“
Sind Christen intolerant? Keinesfalls, denn gerade die Tugend der Toleranz gehört zum Kern des Christentums.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
02.01.2013

Als er im Sterben lag, zählte Philipp Melanchthon die Vorteile des Todes auf: „Du wirst von der Tollwut der Theo­logen befreit“, notierte er unter anderem. Allzu oft hatte der Diplomat der Reformation erlebt, wie Theologen mit gnadenloser Rechthaberei einen Streit unnötig verschärften. Und das, obwohl in Europa längst Religionskriege tobten und Menschen zu Tausenden ihr Leben ließen.

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Hören Sie auch Henning Kiene vom Kirchenamt der EKD zu dieser Frage. Sein Credo lautet: Toleranz an sich ist ein religiöser Begriff

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Tolerant ist, wer andere mit ihren Besonderheiten duldet – auch wenn es ihm schwerfällt. „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Haltung sein, sie muss zur Anerkennung führen“, sagte Johann Wolfgang von Goethe. „Dulden heißt beleidigen.“ Es reicht eben nicht, Katholiken, Homosexuelle, Spießer und Tätowierte bloß zu tolerieren.

Liebt Eure Feinde, hat Jesus gesagt

Die Menschen in Antike und Mittelalter kannten keine Toleranz in diesem Sinn. Vielleicht litten sie weniger als wir unter gesellschaftlichem Konformitätsdruck. Von „tolerantia“ sprachen sie nur, wenn es galt, Schicksalsschläge zu erdulden. Aber dass Menschen mit anderen Gewohnheiten, Bräuchen und Umgangsformen eine Last seien, die man bestmöglich ertragen müsse, darauf kam damals niemand.

„Liebt eure Feinde“, hat Jesus gesagt (Matthäus 5,44). Dennoch haben Christen von Anfang an sogenannte Ketzer ausgegrenzt, ab dem 11. Jahrhundert sogar grausam verfolgt. Mit der Reformation brach die ganze Christenheit auseinander – und mit ihr die politische Einheit Mitteleuropas. Der Kampf um die Rechtgläubigkeit wurde so unerbittlich geführt wie nie zuvor. Mit dem liebenden und vergebenden Christus der Bibel hatte schon bald keine der Streitparteien mehr etwas gemein.

„Toleranz ist das Wesensmerkmal der wahren Kirche“, schrieb der Philosoph John Locke 1689 aus Protest gegen solche Verirrungen. „Jede Kirche ist in ihren eigenen Augen rechtgläubig, in denen der anderen ketzerisch. Die Entscheidung dieser Frage steht nur dem obersten Richter über alle Menschen zu.“ Juristen forderten, dass der Staat sich mehr um den inneren Frieden sorgen müsse als um Fragen der Religion. Mit der Aufklärung kam die Erkenntnis: Menschen können Gott gar nicht beleidigen. Blasphemie, Götzendienst und Atheismus zu bestrafen, ist absurd. Kirchenfürsten zeigten sich trotzdem lange Zeit weiter uneinsichtig.

Der deutsche Staat hält sich heute aus religiösem Streit heraus und verlangt von seinen Bürgern Zurückhaltung in religiösen Streitfragen. Und die Kirchen bejahen die unparteiische staatliche Ordnungsmacht – wie damals in den Anfängen der Kirchengeschichte, als Christen im Schatten des römischen Kaiserreichs lebten, zuweilen sogar in Opposition zu ihm.

Das Toleranzgebot ist kein Freibrief, andere zu verspotten

Inzwischen hat sich auch herumgesprochen: Das Toleranzgebot ist kein Freibrief, andere zu verspotten. Natürlich darf sich jeder über Religionen mit Satiren lustig machen. Karikaturen über den Propheten Mohammed müssen erlaubt sein. Doch ist es unredlich, von anderen Toleranz einzufordern, denen man selbst seinen Respekt verweigert.

„Alles ist erlaubt“, schrieb bereits der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther (10,23), „aber nicht alles dient zum Guten.“ Bei allem, was man tut, solle man nie das Wohl des anderen aus dem Blick verlieren.
Das Toleranzgebot hat sich infolge der Religionskriege durchgesetzt – gegen den Protest kirchlicher Würdenträger. Und doch entspricht es dem, wofür das Chris­tentum schon immer stand: „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi“, singen Christen seit zwei Jahrtausenden in jeder Messe. Im Deutschen geht die Doppelbedeutung des alten lateinischen Messgesangs ver­loren: „Christe, du Lamm Gottes, der du nimmst hinweg die Sünd der Welt.“ Man könnte auch übersetzen: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst, erduldest die Sünde der Welt.“

Der Mann am Kreuz lässt seine Spötter und Verächter gewähren. Er wehrt sich nicht und verflucht niemanden. Stattdessen bittet er um Vergebung für seine Peiniger, „denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34). Für eine christlich geprägte Toleranz sollte dieser Christus das Vorbild sein.

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Am nächsten Sonntag ist laut Perikopenreihe der Text 2. Mose 20, 1 - 17 als Predigttext vorgeschlagen. Wer sich ein wenig in der Bibel auskennt, weiß sofort: da stehen die 10 Gebote. Was haben die aber mit Toleranz zu tun? Sind es nicht gerade die religiösen Vorschriften, die immer wieder zu Konflikten und Auseinandersetzungen führen?
Das für mich wichtigste Wort in diesem Text kommt in ALLEN 10 Geboten vor: DU! Daran ist mir wichtig, dass dieses Gebot, wenn ich es lese und befolgen will, zuerst und ausschließlich MIR gilt. Ich kann und soll meinem Nächsten davon erzählen, dass diese Gebote gute Wegweiser auf der Lebensreise sind. Ich kann von meinem Vertrauen berichten, dass ich nicht zuschanden werde, wenn ich die Gebote halte, so wie es die Psalmisten ausdrücken. Aber ob mein Nachbar dann diese Gebote einhält - das geht nur ihn und Gott etwas an.
Wenn ich auf das DU in den Geboten höre, wird Religion tolerant. Aber viel zu viele lesen hier ein "Ihr" oder gar ein "Dein Nächster". Das steht da aber nicht!

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Wenn ich das Alte Testament lese, dann kann ich keine Aufforderung und Wertschätzung der Toleranz erkennen, im Gegenteil. Und war Jesus tolerant? Sie kennen zum ­Beispiel die Stelle bei Lukas 10,10f: Sollten die Jünger in eine Stadt kommen, die ihre Lehre nicht annimmt, so will er dieser Stadt Untergang und Vernichtung bescheren. Sie wissen sicher auch, dass Jesus sogar den Feigenbaum verflucht, der keine Früchte trägt, was selbst zur damaligen Zeit maßlos war. Jesus für die Toleranzidee in Anspruch zu nehmen, wie soll das gehen?
Ich habe noch als Kind erlebt, wie gepredigt wurde, dass man Protestanten (umgekehrt den Katholiken im evangelischen Nach­bardorf) keine Wohnung vermieten solle, geschweige denn jemand dieser Andersgläubigen heiraten darf. Dabei berief sich der jeweilige Pfarrer auf den Gott der Bibel.

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Toleranz ist zwar ein Grundbegriff unserer Zeit und erfreut sich höchsten Ansehens. ­O-Ton Angela Merkel: „Europa . . . hat sich zu einem Kontinent der Toleranz entwickelt.“  Toleranz ist aber kein eindeutiges Ideal wie eine Tugend und ambivalent. Thomas Mann sagt treffend: Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Der Zauberberg). Beispiele: null Toleranz für Kinderpornografie, Antisemitismus, Menschenopfer, Sklaverei, Feigheit und so weiter. Intoleranz wird in diesen Fällen zu Recht befürwortet.  Jan Philipp Reemtsma hat einen bemerkenswerten Artikel mit dem Titel „Die Tugend schwacher Wesen“ geschrieben. Zitat: „Ich plädiere nicht dafür, den Begriff (Toleranz) aufzugeben, aber doch dafür, sorgfältig auf seine Verwendung achtzugeben.“ Dem kann ich mich nur anschließen.

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Was die Toleranz in der Antike und im Mittelalter betrifft, möchte ich auf die Stoa und zum Beispiel auf Seneca verweisen. Dort heißt es etwa, dass alles vom Pneuma, vom göttlichen Hauch, Atem, durchwaltet wird, an dem der Mensch durch sein Leben Anteil hat, und zwar jeder Mensch, ob Sklave oder Freier, ob Grieche oder Barbar, ob Mann oder Frau, ob Knecht oder Herr. Hier ist eine großartige philosophische und religiöse Grund­lage für die Gleichheit aller ­Menschen und die Toleranz, die gerade durch monotheistische Religionen gefährdet war.

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Zitat aus dem Artikel: "Und trotzdem gehört diese Tugend zum Kern des Christentums." Das dürfte zutreffen. Ob das ein Grund zur Freude ist oder eher alle Alarmglocken schrillen lassen sollte, hängt davon ab, was man von Tugenden weiß. Wer sich klar macht, dass durchgesetzte Tugendhaftigkeit zu den Voraussetzungen für die meisten der größeren Sauereien der bisherigen Menschheitsgeschichte gehört, wird von der Begeisterung Abstand nehmen. Das Wort tugendhaft ist übrigens in der modernen Alltagsprache durch den Begriff anständig ersetzt worden. Der anständige Mensch ist tolerant. Was heißt das? _________________________________ Zitat: "Tolerant ist, wer andere mit ihren Besonderheiten duldet - auch wenn es ihm schwerfällt." Diese sehr gängige Vorstellung sieht in gefährlicher Weise von der Wirklichkeit ab. Dulden kann nur der, der auch verbieten kann. Der Normalmensch hat diese Möglichkeit nicht. Der Staat setzt fest, was dem Mieter, Arbeitnehmer, Supermarktkäufer und Wähler verboten und was erlaubt ist. Der Untertan hat sich daran zu halten. Wenn der Staat (Kaiserreich, Weimarer Republik, Faschismus und BRD gleichermaßen) per § 175 StGB Homosexualität unter Strafe stellt, dann hat der jeweilige Zeitgenosse überhaupt kein Mittel in der Hand, die Homos zu dulden. Umgekehrt, seit der Staat gemerkt hat, dass die Homos genau so brave Mitläufer sind wie die Heteros und er sie duldet, hat der bibelfeste und homoverachtende Mieter keine Möglichkeit mehr, seinen schwulen Wohnungsnachbarn per Anzeige zur Schnecke zu machen. Toleranz ist also ein Ideal von Herrschaft und keine Eigenschaft, die dem Normalmenschen zukommt oder abgeht. Otto Normalverbraucher kann sich zwar als besonders eifriges Ekel oder als umgänglicher Typ erweisen. Dies begrifflich gleichzusetzen mit der Fähigkeit der Herrschaft zu Duldung oder Verbot, ist ein schwerer Fehler. ___________________ Zitat: "Mit dem liebenden und vergebenden Christus der Bibel hatte schon bald keine der Streitparteien mehr etwas gemein." Das ist der äußerst praktische Nutzen des Glaubens für die Herrschaft. Während die Herrschaft aktuell ist, hat der liebende und vergebende Christus der Bibel sehr wohl viel zu tun mit dem, was die Herrschaft tut und lässt, auch und gerade, was die Kriege anbelangt. Wenn die Herrschaft dann lange genug auf dem Müllplatz der Geschichte gelandet ist, kommt mit Sicherheit die Theologenschar daher und erklärt alles für eine bedauerliche Fehlentwicklung und Missbrauch des Glaubens. Schließlich soll der ja als saubere, propere Angelegenheit dargestellt werden. Sonst kann die aktuelle Herrschaft mit ihm nämlich nichts anfangen. _____________________________ Zitat: "Der Mann am Kreuz lässt seine Spötter und Verächter gewähren. Er wehrt sich nicht und verflucht niemanden. Stattdessen bittet er um Vergebung für seine Peiniger, "denn sie wissen nicht, was sie tun"." Diese Sichtweise soll jetzt Begeisterung auslösen und einem nicht den Magen umdrehen. Da nagelt also eine Besatzungsmacht auf Betreiben führender eingeborener religiöser Kreise einen Menschen ans Kreuz. Was hat uns daran zu interessieren? Na klar, ob der Gekreuzigte sich anständig aufführt! Er lässt doch glatt seine Spötter und Verächter gewähren und wehrt sich nicht. Wie bitte wehrt man sich, wenn man qualvoll und rechtsförmig von der Staatsmacht zu Tode gebracht wird? Und diese ganze biblische Oper mal für bare Münze genommen: Was soll an der offensichtlichen Lüge des Gekreuzigten, dass die Staatsmachttäter nicht gewusst hätten, was sie tun, so begeisternd sein? Die Kriegsknechte aller Zeiten, auch wenn sie Justizvollzugsbeamte heißen, wissen sehr wohl, was sie tun: Der Gerechtigkeit gewaltsam zum Durchbruch verhelfen.