Eine Stunde vor Beginn ist der Kirchvorplatz noch leer. Kein Bistrotisch, auch kein Bierzelt. Dabei soll gleich um halb acht das Weinfest beginnen. Über hundert Leute werden heute Abend erwartet. Es soll Weinproben geben, Lieder, Pfarrersworte. Aber noch ist hier nichts los. Eine Amsel trällert irgendwo in der Krone der Schillereiche, gepflanzt 1859 zum Hundertsten des großen Dichters, doch kein Mensch weit und breit.
18.47 Uhr
Hinten in der Gemeindehausküche packt Renate Borchardt, 65, ihre Körbe aus. Neun Walnussbaguettes, 13 Gläser Holunderblütengelee, 144 Käsemuffins. Es soll ja zum Wein passen, also etwas Herzhaftes. Sie wickelt Messer in Servietten ein. Auf jeden Teller kommen zwölf Muffins, dann schneidet sie das Brot.
Früher hat Renate Borchardt als Großhandelskauffrau gearbeitet. Und sie gab Kochkurse für Migrantinnen in Göttingen. Bei einem Großeinkauf für den Kurs sprach der Pfarrer sie an, ob sie nicht auch für die Kirchengemeinde kochen wolle. Das war 2008. Zunächst kochte sie biblische Gerichte für 40 Personen, man speiste an einem sonnigen Juniabend unter der Rotbuche im Garten des Superintendenten. Es gab Linsensalat, Fladenbrot, Hummus, Joghurt mit Zitronenmelisse. Und Barsch, es musste der teure Barsch sein, hatte der Pfarrer gesagt, der Fisch aus dem See Genezareth.
2010 gab es gleich zwei Essfeiern: Das eine Mal bereitete Renate Borchardt biblische Kräutergerichte zu, eine Fachbuchautorin informierte über Gartenanbau. Das andere Mal kochte sie für eine Geburtstagsfeier zu Ehren der örtlichen Reformatorin Elisabeth von Calenberg – zusammen mit der Northeimer Stadttouristik. Im Jahr darauf kochte sie für einen Krimiabend. Es ging um einen Kirchraub von 1703, zu essen gab es Gerichte von damals: Forelle, Rote-Beete-Salat, Meerrettich, Brot, Käse, Grießspeise mit heißen Kirschen – und die Biersuppe. Ja, eine Biersuppe musste dabei sein, sagte der Pfarrer, so was aß man halt vor 300 Jahren. Dabei hatte Renate Borchardt vorher ausdrücklich gewarnt, dass auch Grieben die Biersuppe nicht schmackhafter machen. Es wurde trotzdem ein schöner Abend.
Heute hat Renate Borchardt wieder etwas vorbereitet. Von halb zehn bis drei Uhr nachmittags, 16-mal Bleche reinschieben, alles in einem Ofen. Jetzt räumt sie Besteck aus der Spülmaschine, poliert es nach, gleich wird draußen eingedeckt. Durch das Küchenfenster sieht man ihren Mann Lutz Borchardt, 71, zusammen mit Jochen Hartung, 52, Bänke schleppen.
Kurz darauf stehen acht Biertischgarnituren, fünf Stehtische auf dem Kirchvorplatz, sogar das Bierzelt mit Tresen und Kühltruhe. Hartung ist Patentanwalt. Eigentlich hätte er heute noch im Büro zu tun. Aber da er selbstständig ist, kann Hartung die Arbeit auch später erledigen, heute Nacht.
18.55 Uhr
Wo ist Pastor Burfien? Der trifft sich noch mit Jugendlichen, oben in der Kirche, in der früheren Büßerkammer, die mit einem Hörloch mit dem Kirchenschiff verbunden ist. Jugendliche haben den Mittelalterraum in Eigenarbeit zu einem Garten-Eden-Zimmer umgebaut: mit Matratzenlager, orangefarbenen Vorhängen und Scherbenmosaiken an der Wand.
Das Weinfest ist für Burfien noch weit weg. Jetzt plant er erst mal mit den Jugendlichen ein Foto, sie sollen frei nach dem berühmten Abendmahlsbild von Leonardo da Vinci posieren. Und so soll das Bild aussehen: sechs Jugendliche auf der einen Seite des Tisches, sechs Obdachlose aus der Oase, dem kirchlichen Tagesaufenthalt, auf der anderen. Ein Christus sitzt in der Mitte. „Wie wär’s, wenn wir uns auch unterhalten, dass wir die kennenlernen?“, fragt die 15-jährige Zoë. „Wir könnten an einem runden Tisch sitzen, dass wir uns alle sehen“, schlägt Sabrina, 17, vor. „Ich würde sie fragen, was sie an ihrem Leben ändern würden, wenn sie könnten“, sagt Elisabeth, 20.
Mathis Burfien notiert die Vorschläge säuberlich in einem Notizbuch. Dann liest er aus Briefen von früheren Konfirmanden vor. Sie hatten Heidi Klum, Anne Will und andere Prominente gefragt, was für sie der Sinn des Lebens sei – und nur enttäuschende Antworten bekommen. Eine Konfirmandin schrieb damals: Der Sinn bestehe vielleicht darin, nach dem Sinn zu suchen. „Toll, nicht?“, sagt Mathis Burfien und blickt dabei so glücküberströmt in die Runde, als sei ihm gerade die Geburt seines ersten Kindes mitgeteilt worden. „Und wer über 16 ist, kann jetzt mit zum Weinfest kommen.“
19.08 Uhr
Der Weinhändler Bernd Hahne ist eingetroffen. Kirchenmitglied ist er nicht. Wegen der Sonntagsöffnung im Advent hat er sich vor ein paar Jahren heftig mit dem Superintendenten gestritten. Hahne und sein Lebenspartner, der gleich nebenan ein Haushaltswarengeschäft hat, betreiben zusammen ein Kultcafé zwischen ihren Geschäften, sie kämpfen für Kurzhaltparkplätze für Kunden, sie gehören überhaupt zu den besonders umtriebigen Geschäftsleuten in der Kleinstadt. Dann kam Pastor Burfien in die Vinothek und fragte Hahne, ob man nicht mal zusammen ein Weinfest feiern könne. Draußen, auf dem Kirchplatz. Das war 2009. Von selbst wäre Hahne nicht auf die Idee gekommen, mit der Kirche hatte er ja nichts am Hut.
Jetzt richten Burfien und Hahne das Fest schon zum vierten Mal aus. Jedes Mal kamen mehr Leute, und sie wurden auch immer jünger. „Ich erkenne im Laden Gesichter wieder, die vorher keine Kunden waren“, sagt Hahne. Und: „Das sind immer schöne Abende da unter der Eiche.“ Heute wird er den Abend mit einem Sekt mit Holunderblütensirup eröffnen – einem Hugo: „Der ist ganz hip, der Nachfolger vom Prosecco mit Aperol.“ Es folgt ein Wein aus Südafrika, ein Chenin Blanc von 2012, im Frühjahr auf der Südhalbkugel geerntet, in seinem Laden steht der Weißwein vorne auf der Aktionsfläche. Dann dreimal Cuvée-Weine: Trollinger mit Lemberger – einmal weiß, dann als Rosé und als Rotwein.
19.14 Uhr
Einundzwanzig erste Gäste haben sich Plätze auf den Bierbänken gesichert. Noch einmal so viele stehen. „Chor bitte ins Gemeindehaus“, ruft Regina Bauer, 57. Sie ist stellvertretende Pflegedienstleiterin in der Schwesternstation gleich hinter der Kirche. Vor dreißig Jahren hatte die St. Sixti nur ein paar Gemeindeschwestern. Heute betreuen 80 Pflegerinnen und Pfleger über 300 Northeimer zu Hause, die Station ist unter das Dach der Diakonie geschlüpft, Gesellschafterin ist aber immer noch die Kirchengemeinde. Fünf Kirchenvorstandsmitglieder bilden die Gesellschafterversammlung.
Und auch viele Schwestern fühlen sich der Gemeinde verbunden. Regina Bauer zum Beispiel singt im Kirchenchor, die Altstimme. Der Chorleiter hat jetzt auch schon gerufen. Jetzt aber schnell ins Gemeindehaus. Einsingen: Glissando abwärts, Tonleitern aufwärts, zwei, drei gemächliche Koloraturen, gleich geht’s los.
19.29 Uhr
Die Lokalzeitung ist da. Ein Gruppenfoto bitte! Links der Weinhändler, dann zwei Kirchenälteste, Pastor Burfien im Kapuzensweatshirt und mit schwarzer Schürze in die Mitte, ganz rechts Kantor Dippel. Der Reporter von der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen balanciert auf einem Stuhl, „Jetzt lächeln – ja – schön. Noch eins. – Und jetzt noch mal – in die Mitte.“ Mathis Burfien zeigt wieder sein gewinnendes Lächeln. Er hat Zeit, es ist ja noch nicht halb acht. Und der Reporter ist auch schon fast fertig. Klick, Blitz.
Nun wendet sich Pastor Burfien der Gemeinde zu. „Manche Witze sind einfach böse, aber ich erzähle ihn trotzdem“, beginnt er. Deutlich über hundert Menschen tuscheln noch. Man hat noch sechs weitere Biertischgarnituren dazustellen müssen, damit alle Platz haben. Auch die Parkbänke am Rande des Kirchvorplatzes sind voll.
„Eine Bischöfin bei einer Verkehrskontrolle“, beginnt Burfien. Auf einmal ist Stille, nur die Amsel trällert noch im Wipfel der Eiche. „Was haben Sie getrunken?, fragt der Polizist.“ Verhaltenes Gelächter. „Wasser, sagt die Bischöfin. Und die offene Weinflasche neben Ihnen?, fragt der Polizist. O, sagt sie, er hat’s schon wieder gemacht.“ Auf einmal ist die Stimmung gelöst. „Frau Käßmann hat über diesen Witz selber laut gelacht“, sagt Mathis Burfien, und schon ist er bei der Hochzeit zu Kana, dem ersten Wunder Jesu laut Johannesevangelium.
„Herr, verwandle du Wasser in Wein“, betet er. „Aus meinen Zweifeln, lass mir zarte Hoffnung wachsen. Aus meinem Zögern lass mich feste Gewissheit gewinnen. Aus meiner Ängstlichkeit lass mir neuen Mut erstehen.“
Auf einer der hinteren Bänke sitzen Gäste aus dem Nachbarort Stöckheim. Ein Herr stößt seine Nachbarin an: „Übrigens, auf der B3 nach Einbeck kontrollieren sie heute Abend.“
19.44 Uhr
„Lachend, lachend, lachend, lachend kommt der Sommer über das Feld“, singen die Leute, ein Drittel der Gäste gehört zur Kantorei. „Und jetzt im Kanon“, sagt Benjamin Dippel. Er läuft mitten durch die Bankreihen und sticht mit beiden Zeigefingern abrupt in die Luft: der Einsatz für die erste Gruppe. Hinten an der Straße bleibt ein junges Paar stehen und lauscht dem vielstimmigen Gesang unter der Schillereiche.
Für ihre Kirchenmusik ist St. Sixti in Northeim und Umgebung schon lange bekannt. Aber seit einem Jahr baut Dippel die musikalische Früherziehung weiter aus. Im Kindergarten singt und klatscht er mit den Kindern, die Kleinen probieren Pauken, Schellen, Trommeln, Rasseln und Becken aus. Mit der Singschule in der ers-ten und zweiten Klasse will er nächstes Jahr ein Musical aufführen – ein Stück über die Orgel, für deren Renovierung bald Geld gesammelt wird. Größere Grundschulkinder kommen in die Chorschule, ab der 5. Klasse dann in die Kurrende. Dann tragen sie bereits die weinroten Chorgewänder, mit denen auch die Jugendkantorei auftritt. Wer nicht wegzieht und wer nach Northeim zurückkehrt, singt in der Kantorei.
„Es gibt insgesamt so einen Hype in dieser Gemeinde“, sagt Dippel. „Man muss ja schon im Gottesdienst gewesen sein, um am nächsten Tag in Northeim mitreden zu können.“
Der Pastor ist beim Weinfest beim Jesuswort angekommen: „Niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche.“ Er spricht über neue Wege, die Christen wagen müssen. Dippel stimmt ein weiteres Lied an: „Es tönen die Lieder.“ Zwei jüngere Sopranistinnen stecken die Köpfe zusammen, schauen ganz gebannt auf einen Liedzettel, reißen ihren Unterkiefer auf und formen mit ihren Lippen zwei senkrechte Ovale.
20.17 Uhr
Marie-Christin Strecker, 22, hält sich mit ihrer Kamera etwas abseits. Von den Stufen zum Gemeindehaus aus filmt sie, wie der Weinhändler den Rosé hochhält und von der Maische erzählt, die den Wein rötlich färbt. Mit der Kamera folgt sie ihm durch die Reihen, wo er Wein ausschenkt. Zwei ältere Damen halten ihm glucksend die Gläser hin. Der Weinhändler kommt an Marie-Christin Streckers Stehtisch, sie klappt die Kamera zu. „Auch noch ein Glas?“ Die Studentin winkt ab, sie hat noch Weißwein.
Hier in St. Sixti wurde sie konfirmiert, interessierte sich aber erst gar nicht für die Kirche, begann Erziehungswissenschaften in Hildesheim zu studieren. Dann kam Pastor Burfin. „Ein Menschenfischer“, sagt sie, „faszinierend, wie authentisch und begeistert der seinen Glauben lebt.“ Sie kam immer häufiger in ihre Heimatstadt.
Inzwischen hat sie ihren Zweitwohnsitz in Hildesheim aufgegeben und pendelt von Northeim aus. Sie hat sich in den Kirchenvorstand wählen lassen. Und sie verpflichtet sich, regelmäßig die Tür zur schönen gotischen St.-Sixti-Kirche zu öffnen. Dort setzt sie sich dann in eine Bankreihe und lernt für ihren Bachelor. Oder zeigt Touristen den schönen Marienaltar, macht sie auf den segnenden Christus überm Treppengang zur Büßerkammer aufmerksam und weist auf das Pentagramm, den fünfzackigen Stern, ganz oben überm Chorraum.
Jetzt, beim Weinfest, will sie unbedingt noch den Rotwein probieren, der nach dem Rosé kommt. Aber runterkippen will sie den weißen Trollinger mit Lemberger auch nicht. Sie nippt verlegen am Glas.
20.47 Uhr
„Gleich ist es neun. Wir beenden das Weinfest mit dem Segen“, sagt Pastor Burfien. Einen Witz möchte er vorher noch loswerden. „Fragt jemand den Pfarrer: Komme ich in den Himmel, wenn ich 25 000 Euro spende? Sagt der Pfarrer: Ich weiß es nicht, aber Sie können es ja mal probieren.“ Gelächter. Neben ihm auf einem Stehtischchen glänzt ein kleines weiß-rot lackiertes Holzmodell der St.-Sixti-Kirche – die Spendenbüchse für das Fest. Ein bisschen Geld bekommt der Weinhändler für seine Auslagen, ein bisschen Renate Borchardt für das Essen, das sie zubereitet hat. Und dann bleibt noch was für die Arbeit in der Kirchengemeinde.
„Abendstille überall“, singen die Menschen unter der Schillereiche. Der Pastor spricht den Segen. Schon um Viertel nach neun ist alles abgebaut. Aber viele bleiben auf dem Platz stehen, reden weiter. Der Kantor strahlt, bei ihm haben sich heute Abend wieder vier Neubewerber für die Kantorei gemeldet. Frau Borchardt strahlt: Ein Mann will sie künftig mit Nüssen von seinem Walnussbaum für das leckere Wallnussbaguette versorgen. Und auch die stellvertretende Leiterin der Schwesternstation freut sich – aber sie muss nun wirklich los: „War ein schöner Tag!“, ruft sie über den Platz und winkt.