Carmen Marquis, 48 Jahre, mit Tochter und Enkelin.
Foto: Rebecca Sampson
Immer heftiger stritt sie mit ihrer Adoptivtochter, als die in der Pubertät war
Dann war ein Jahr Funkstille. Jetzt haben sie sich versöhnt.
18.07.2012

Toni war ein empfindliches Kind. Wenn ich sie mal kritisiert habe, hat sie sich gleich als ganzer Mensch abgelehnt gefühlt. Sie hatte eine Riesenangst, verlassen zu werden. Wenn ich zu spät nach Hause kam, war sie völlig aufgelöst. Es hat lange gedauert, bis sie mir vertraut hat. Dabei wusste ich vom ersten Moment an, als ich sie im Kinderheim sah: Das ist mein Kind.

Ich konnte keine Kinder bekommen, aber mein Mann und ich haben uns sehnlichst eins gewünscht. Nach langem Warten hieß es, da ist ein kleines Mädchen, drei Jahre alt, das steht zur Adoption frei. Das Jugendamt hatte uns darauf vorbereitet, dass es schwierig werden würde. Die meisten Adoptivkinder seien traumatisiert. Ich dachte: So ein Quatsch! Es reicht schon, dass ich mein Kind liebe, und alles wird gut. So einfach war es aber nicht.

Als sie zehn war, haben wir ihre leibliche Mutter besucht

Ich bin immer offen damit umgegangen, dass sie ein Adoptivkind ist. Auf dem Spielplatz wurde sie gehänselt: Bätsch, bist aus dem Heim, da musst du bald wieder zurück. Da bin ich dann hin und habe gesagt: Die bleibt, das ist jetzt mein Kind, und ich bin ihre Mutter. Oder später, im Kindergarten, sagten zwei Mädchen: Das ist gar nicht deine richtige Mutti. Ich wieder hin. Warum bin ich denn nicht richtig, Mädels, mache ich was anders als eure Muttis?

Von Anfang an durfte sie mich auch fragen: Wie war denn meine Mutti? Warum wollte die mich nicht haben? Viele Kinder trauen sich das nicht, weil sie glauben, ihre Adoptiveltern damit zu verletzen. Aber die leibliche Familie sitzt sowieso immer mit am Esstisch. Die Kinder sind in Gedanken ständig bei ihnen, das weiß ich auch von meinen drei Pflegekindern, die ich nach Toni aufgenommen habe.

Mit zehn wollte Toni ihre leibliche Mutter wiedersehen. Wir sind gemeinsam hin. Für mich war das schwer, aber ich wollte nicht, dass sie sich womöglich ganz schlimme Sachen ausmalt. Richtig gelitten habe ich jedoch erst, als sie mit 16 allein zu ihr gefahren ist. Bei ihr durfte sie rauchen, bekam Geschenke. Einmal kam sie mit einem T-Shirt zurück, auf dem stand: Ich bin eine Bitch. Das musste sie sofort wieder ausziehen. Da war ich natürlich die Böse. Damals fing es an, dass wir immer heftiger stritten.

Sie schrieb: "Du bist doof, du bist nicht meine richtige Mutter"

Ich habe lange nicht verstanden, was in der Pubertät mit Toni passierte. Natürlich, Kinder müssen sich lösen, aber doch nicht auf so eine heftige Art. Sie forderte nur, war kurz angebunden. Als sie in der Schule schlechter wurde, verordnete ich Nachhilfe. Ich musste alles mit Druck machen in dieser Zeit. Einmal hat sie nach einem Streit auf einen Zettel geschrieben: Du bist doof, du bist nicht meine richtige Mutter. Doch da habe ich das noch nicht ernst genommen. Ich dachte, sie will nur meine Liebe testen.

Mit 17 machte sie ihre Ausbildung und kam nur noch am Wochenende. Da wurde es richtig schwierig. Sie lag mit ihrem Freund sonntags bis mittags im Bett. Dann schlurfte sie zum Kühlschrank, nahm sich ein belegtes Brötchen heraus, obwohl ich gerade für alle Mittag kochte. Da muss es mir rausgerutscht sein, dass sie blöd ist. Das hat sie mir sehr übelgenommen. Sie schrieb nur noch SMS, oft verletzende. Ich zitterte vor jedem Handysummen. ­Irgendwann, da war sie schon volljährig, warf ich sie raus.

Ein Jahr war Funkstille zwischen uns

Ich hatte schwere Zweifel. An Toni. Und an mir, ob ich mit dem Rauswurf nicht das wiederhole, was sie schon so früh erfahren hat, Ablehnung, Verlassensein. Manche der anderen Adoptiv­eltern in meiner Gruppe sahen das so. Nur eine Freundin meinte: Deine Tochter braucht die Distanz, um sich von dir lösen zu ­können. Sie selbst muss auf dich zukommen.

Ein Jahr war Funkstille zwischen uns. Dann kam eine SMS: Ich bin schwanger. Mehr nicht. Ich ebenso knapp: Herzlichen Glückwunsch! Sie: Mutti, du wirst doch nicht wirklich wollen, dass dein Enkelkind ohne Oma aufwächst? Danach konnte ich sie anrufen. Keine Vorwürfe. Wir haben beide geheult. Später hat sie mir ein Riesengeschenk gemacht: Ich durfte bei der Geburt ihrer Tochter dabei sein – weil ich so was doch noch nie erlebt hatte.

Protokoll: Ariane Heimbach

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.