Foto: Universal Pictures
Das Animationskino ist längst durch mit Schneewittchen, Dornröschen und Co. Jetzt hat Hollywood das klassische Märchen für den Realfilm wiederentdeckt. Und alle jungen Stars drängeln in den Zauberwald
27.06.2012

Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.« Schon so mancher Filmproduzent mag beim Lesen dieses Satzes am Ende eines Märchens über sein Schicksal in einem Business nachgedacht haben, in dem es vom traumhaften Erfolg zum Megaflop nur ein kleiner Schritt ist, das von Orakelsprüchen und Einflüsterungen – Du bist der Schönste! – lebt und in dem nichts so richtig kalkulierbar ist. Außer dem hier: Wenn Snow White and the Huntsman durch den Zauberspiegel sprechen, ist das der Kamm einer ganzen Welle von Neuinterpretationen klassischer Märchen und märchenhafter Geschichten made in Hollywood.

Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen

Im Frühling 2012 hat Regisseur Tarsem Singh eine alternative Version des Grimm’schen Märchens ins Rennen geschickt: Spieglein Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen mit Julia Roberts in der Rolle der bösen Stiefmutter. Bereits 2011 durfte Amanda Seyfried als Red Riding Hood ihre Großmutter fragen, warum sie so große Zähne hat. Und im amerikanischen Fernsehen laufen derzeit zusätzlich erfolgreich die märchenhaften Serien »Grimm« und »Once Upon a Time«, die im Herbst auch in Deutschland bei Vox und RTL ausgestrahlt werden sollen. Weitere Filme warten am Horizont. Um die Ursachen des Booms zu ergründen, benötigt man keinen Zauberspiegel – sie sind so eindeutig wie messbar. Die großen Studios setzen in Zeiten der noch immer nicht überwundenen ökonomischen Krise eben gerne auf bewährte und vermeintlich zeitlose Stoffe, zu denen die klassischen Märchensammlungen von Charles Perrault, den Brüdern Grimm und von Joseph Jacobs zweifelsohne gehören. Auch hat die Umsiedelung der klassischen Moralgeschichten in düstere oder humorvolle Kontexte durchaus Tradition – nicht nur im US-Mainstreamkino. Neil Jordans psychoanalytische »Rotkäppchen«-Fabel Zeit der Wölfe von 1984 könnte man zum Beweis ebenso anführen wie die jüngsten »Auf einen Streich«-Neuauflagen im Weihnachtsprogramm der ARD.

Eine Milliarde Dollar

Für den momentanen Schub an Märchenfilmen lassen sich allerdings auch zwei neuere Schuldige klar benennen. Zum einen Tim Burtons Film Alice im Wunderland von 2010, der weltweit – auch dank der erhöhten Preise für eine 3D-Konvertierung von zweifelhafter Qualität – über eine Milliarde Dollar einspielte. Zwar ist Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker kein Märchen im eigentlichen Sinne, doch ein Blick auf viele Filme der aktuellen Welle lässt die visuelle Verwandtschaft deutlich erkennen. Zum anderen ist da die Twilight-Filmserie. Deren gesammelter Kassenerfolg bewegt sich mittlerweile in ähnlichen Dimensionen wie der von Alice, vor allem aber hat die Reihe eine Art von Schauerromantik und Übersinnlichkeit wieder populär gemacht, auf deren Zugkraft beim jungen Publikum sicherlich auch ihre Epigonen hoffen. Nicht zuletzt lässt sich der Bogen leicht über das Personal spannen: Catherine Hardwicke, Regisseurin des Twilight-Eröffnungsakts, zeichnet auch für Red Riding Hood verantwortlich, und Darstellerin Kristen Stewart spielt nach ihrem Erfolg als Bella Cullen, geborene Swan, jetzt in Snow White and the Huntsman die weibliche Titelrolle.

Wie unterschiedlich die neue Interpretation der alten Stoffe trotz allem ausfallen kann, zeigt der direkte Vergleich der beiden konkurrierenden »Schneewittchen«-Versionen dieses Frühjahrs. Tarsem Singh inszeniert Spieglein Spieglein  wie gewohnt in überwältigenden Bildern mit prachtvollen, diesmal allerdings zu großen Teilen computergenerierten Dekors und aufwendigen Kostümen. Das Ergebnis bewegt sich irgendwo zwischen Bollywood und Disneyspielfilmen wie Verwünscht. Die Zwerge sind eine Bande respektloser Tunichtgute, der Prinz ist ein freundlicher Trottel, der sich für keinen Slapstick zu schade ist, und Julia Roberts darf als fiese Königin mehr schnippische Oneliner von sich geben als Bruce Willis zu seinen besten Actionheld-Zeiten.


Huntsman hingegen setzt ganz auf unheilvolle Düsternis und epische Schlachtengemälde. Die böse Stiefmutter wird hier von Charlize Theron verkörpert, die für ihre ewige Jugend anderen Frauen die Lebenskraft aussaugt und in den schwach beleuchteten Hallen ihres Schlosses dämonische Milchbäder nimmt. Schneewittchen darf nach ihrer Flucht zunächst im Wald gegen Monster kämpfen, bevor sie (wie Alice bei Tim Burton) eine ¬glänzende Rüstung anlegt und gemeinsam mit Zwergen und Jägersmann gegen ihre angeheiratete Verwandte in den Krieg zieht.

Grimmification

Das Popkultur-Wiki »TV Tropes« hat für diese Art der Rückführung von Stoffen auf ihre -angeblich düster-brutalen Wurzeln einen passenden Ausdruck gefunden: Grimmification. Gemeinsam ist beiden Filmen, und auch allen weiteren Kandidaten, dass sie sich nicht damit zufrieden geben, die klassischen Geschichten mit ein paar Ausschmückungen nachzuerzählen. Stattdessen geben sich die Drehbuchautoren revisionistisch. »Damit das klar ist: das ist nicht ihre Geschichte, sondern meine«, stellt Julia Roberts in Spieglein Spieglein gleich zu Anfang per Voiceover fest – wobei sie freilich die Aussage später zurücknehmen muss. Denn auch wenn es zu den Merkmalen der Updates gehört, dass Nebenfiguren wie der Jäger, der Schneewittchens Leben verschont, aufgewertet werden: Erstarken sollen vor allem die jungen, weiblichen Hauptfiguren. Die Prinzessinnen der neuen Generation sind nicht länger zarte Madames in hübschen Kleidern wie in den Disneyverfilmungen der 40er Jahre, sondern gestärkte Heldinnen, die ihre Geschichte in die eigene Hand nehmen. Auch wenn sie am Ende natürlich trotzdem mit Vorliebe in einer heterosexuellen, monogamen Beziehung landen, wir sind schließlich in Hollywood.

Ein ähnliches Schicksal wie KristenStewart in Huntsman und Lily Collins in Spieglein Spieglein dürfte somit auch Hailee Steinfeld (True Grit) erwarten, von der es zumindest vor einiger Zeit noch hieß, sie sei Teil eines noch unproduzierten »Dornröschen«-Pakets. Gleiches gilt für Harry-Potter-Star Emma Watson in Guillermo del Toros bevorstehender Adaption von »Die Schöne und das Biest« und für die noch zu findenden Hauptdarstellerinnen der zwei konkurrierenden »Cinderella«-Versionen, die sich derzeit bei Universal und Disney, dort soll Mark Romanek (Alles, was wir geben mussten) die Regie übernehmen, in Entwicklung befinden. Julia Roberts’ Traum von der bösen Königin als Hauptfigur hingegen wird eventuell in Maleficent erfüllt. Der Spielfilm um die »Dornröschen«-Schurkin aus Disneys Zeichentrickklassiker soll 2014 mit Angelina Jolie in der Hauptrolle ins Kino kommen.

Ob die Sache mit Glück und Zufriedenheit bis ans Lebensende aufgeht?

Eher ans männliche Publikum gerichtet sind zwei 3D-Produktionen, die 2013 die Leinwände erreichen werden. Hänsel und Gretel: Hexenjäger setzt 15 Jahre nach den Ereignissen des Märchens ein. Die berühmten Geschwister, gespielt von Jeremy Renner und Gemma Arterton, haben ihr Trauma zum Beruf gemacht und sind zu gefragten Kopfgeldjägern geworden. Sollte die von Will Ferrell produzierte Actionkomödie ursprünglich schon diesen März im Kino landen, so wurde sie vor kurzem auf nächsten Januar verschoben, wahrscheinlich weil Jeremy Renner – der nächste Jason Bourne – bis dahin mehr Star-Appeal angesammelt hat. Bryan Singer, der Mastermind der X-Men-Serie, hingegen versucht sich nächstes Frühjahr an Jack the Giant Killer, der Verfilmung eines klassischen Märchens aus Cornwall.

Ob die Sache mit dem Glück und der Zufriedenheit bis ans Lebensende aufgeht oder sich die neue Märchenkost doch eher als vergifteter Apfel entpuppt, ist derzeit noch nicht abzusehen, auch wenn Spieglein Spieglein bisher recht erfolgreich angelaufen ist. Falls einzelne Projekte als Verlustgeschäfte verbucht werden müssen, lässt sich jedenfalls zumindest in diesem Fall bestimmt trefflich eine Moral daraus ziehen.

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