„Nun ist sie da, die große Zeit“, schrieb Karl Friedrich Stellbrink 1933 im Pfarrblatt seiner Gemeinde: „Jubelnd und dankbar wollen wir Gott loben, der unserm Volk zu den drei großen Deutschen Hermann, Luther, Bismarck den vierten geschenkt hat: Adolf Hitler, den Einiger der Deutschen!“ Zehn Jahre später wurde der evangelische Pastor aus Lübeck zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wegen Hochverrats, „Wehrkraftzersetzung“ und „Rundfunkverbrechen“, zusammen mit den drei katholischen Kaplänen Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller. Die vier Geistlichen hatten die Unmenschlichkeit der Naziherrscher angeprangert und kritische Worte über das NS-Regime nicht gescheut.
Heute sind sie bekannt als die Lübecker Märtyrer. Die katholische Kirche wird Prassek, Lange und Müller am 25. Juni dieses Jahres seligsprechen, und bei den Feierlichkeiten wird auch Stellbrinks ehrend gedacht werden. Doch anders als die drei jungen Kapläne ist der 1894 geborene evangelische Pastor ein schwieriger Märtyrer, mit dem sich manche in seiner Kirche auch heute noch schwertun. Denn vor seinem Wandel zum Regimegegner hatte er sich allzu sehr als Nationalist, Judenfeind und Katholikenhasser hervorgetan.
"Kriegspielen" als Schulfach
In der evangelischen Kirche war er damit nicht alleine. Der Historiker Peter Voswinckel, der die Geschichte der Lübecker Märtyrer erforscht hat, spricht von einer „babylonischen Gefangenschaft des deutschen Protestantismus im Nationalen“. Der Protestantismus habe sich im Kaiserreich auf fatale Weise mit Deutschtümelei, Militarismus, Antikatholizismus und Antijudaismus verbunden.
Ein Jahrhundert lang, seit etwa 1850, hatte diese nationalprotestantische Strömung den deutschen Protestantismus bestimmt. So gehörten tägliches Exerzieren und das Fach „Kriegsspielen“ zum Schulprogramm auf dem Internat im Evangelischen Johannesstift Spandau, das auch Stellbrink von 1911 bis 1913 besuchte. Die damaligen Schulleiter waren Anhänger des Hofpredigers Adolf Stoecker, der den Judenhass im protestantischen Milieu hoffähig machte.
Hitlerjugend statt Gottesdienst
„In dieser Perspektive“, so Voswinckel, „ist das Jahr 1933 nicht mehr Wendepunkt, sondern Endpunkt auf der abschüssigen Bahn, die der deutsche Protestantismus lange zuvor betreten hatte.“ Die Lübecker Kirche war besonders stark von den NS-freundlichen Deutschen Christen geprägt. Landesbischof Erwin Balzer gehörte schon seit 1931 der NSDAP an. 1934 berief er Stellbrink, bis dahin Pastor in Thüringen, an die Lutherkirche. Und der erwies sich zunächst ebenfalls als strammer Gefolgsmann: „Unsere Parole lautet: Gehorsam und Treue! Diese Parole hat uns unser Führer gegeben. So dienen wir dem deutschen Volkstum“, predigte er 1934 bei einer großen Parteiveranstaltung für Lübecker Schüler.
Zum Reformationstag 1935 schrieb der Pastor: „Wir müssen Luthers Reformation fortsetzen und vollenden und an einer von römischem und jüdischem Geist völlig gesäuberten deutschen Nationalkirche bauen.“ Der Bruch bahnte sich erst an, als ihm in den folgenden Jahren bewusst wurde, dass das Regime mehr und mehr eine totale Inanspruchnahme der Jugend durchsetzte. Die Jugendlichen gingen zu den Treffen der Hitlerjugend und nicht mehr in den Gottesdienst. HJ- und Parteifunktionäre äußerten sich abfällig über die Kirche. Stellbrink, seit 1933 NSDAP-Mitglied, wehrte sich gegen solche Kirchenfeindlichkeit und beschwerte sich bei der Parteileitung. Seine wachsende Distanz zur Hitler-Partei wurde spätestens dann sichtbar, als zwei seiner Kinder aus der HJ austraten, um weiter am kirchlichen Leben teilnehmen zu können. Ende 1937 wurde er aus der NSDAP „entlassen“ – eine schonendere Form des Ausschlusses.
Annäherung an den "vielgehassten Feind"
Als Stellbrink im Mai 1941 dem katholischen Kaplan Johannes Prassek zum ersten Mal begegnete, vermutlich bei einer Trauerfeier, war aus dem Nationalsozialisten schon der Regimegegner geworden. In Johannes Prassek fand er einen Gleichgesinnten. Über ihn lernte er noch zwei ähnlich denkende Kapläne aus dessen Lübecker Kirche kennen. Die vier Männer begannen, kritische Flugblätter, Zeitungsberichte und Informationen ausländischer Rundfunksender auszutauschen. Sie gaben sich untereinander auch Predigten weiter wie die des Münsteraner Bischofs von Galen, in denen dieser den Terror der Gestapo und das NS-Euthanasieprogramm verurteilte.
Stellbrink hatte zu der Zeit offenbar begonnen, seinen Katholikenhass zu überwinden. Vielleicht auch weil er sich in der eigenen Kirche isoliert fühlte. Noch wenige Jahre vorher, in einem Brief von 1937, hatte er die katholische Kirche „meinen alten, vielgehassten Feind: das internationale Rom“ genannt. Nun, um das Jahr 1941 herum, pflegte er freundschaftliche Kontakte zu einem katholischen Kaufmann, betete mit diesem gemeinsam, beide Familien besuchten sich. Das war zu der Zeit nahezu undenkbar für einen protestantischen Pastor.
Stellbrinks Schlüsselerlebnis
Stellbrinks Leistung, so Voswinckel, war das „Aufbrechen der Diktatur des nationalprotestantischen Milieus“, in dem er bisher gelebt hatte. Möglicherweise spielte dabei auch der durch gezielte Indiskretion bekannt gewordene „Bormann-Brief“ von 1941 eine Rolle. In dem Schreiben an alle Gauleiter stellte Martin Bormann, der Leiter der Reichskanzlei, fest, dass nationalsozialistische und christliche Auffassungen unvereinbar seien.
Genau das spürte Stellbrink wohl auch, als er im März 1942 in eine Friedhofskapelle kam, in der das große Kruzifix mit einem schwarzen Mantel verhängt war. Kurz zuvor war hier eine von der NSDAP veranstaltete Trauerfeier zu Ende gegangen – und deren Gemeinde war der Gekreuzigte wohl nicht zuzumuten gewesen. Für den evangelischen Pastor war das ein Schlüsselerlebnis. „Er hat gesehen, es geht Christus an den Kragen“, sagt Voswinckel. Und da erwies sich sein Christusglaube doch als stärker denn sein Glaube an das Deutschtum.
Alle vier Geistlichen wurden mit dem Fallbeil hingerichtet
Am Palmsonntag 1942, nach dem nächtlichen Luftangriff auf Lübeck, der weite Teile der historischen Altstadt zerstört und mehr als 15 000 Menschen obdachlos gemacht hatte, predigte Stellbrink: „Gott hat mit mächtiger Stimme geredet. Ihr werdet wieder beten lernen.“ Ein SS-Spitzel machte daraus ein „Gottesgericht“, das Stellbrink in dem britischen Bombenangriff erkannt habe wollte. Eine Woche später wurde er von der Gestapo verhaftet, wenig später auch die drei katholischen Kapläne. Am 10. November 1943 wurden alle vier Geistlichen mit dem Fallbeil hingerichtet.
Stellbrink hatte schon vor seiner Verhaftung den Rückhalt seiner Kirche verloren. Die Kirchenleitung hatte ihn bereits ein paar Tage vorher, aufgrund eines Gestapohinweises, vom Dienst suspendiert und seines Amtes enthoben. Und anders als die drei katholischen Geistlichen erhielt er im Gefängnis keinerlei Unterstützung oder seelsorgerliche Besuche von seiner Lübecker Kirche. Der dortige Bischof lehnte ein Gnadengesuch ab, mit der Begründung, Stellbrink sei ja ein „Volksverräter“. Nach dem Krieg dann hielten selbst Pfarrer der Bekennenden Kirche das Verhalten ihres früheren Kollegen für verurteilenswert. Erst 1993 rehabilitierte die nordelbische Kirche Stellbrink offiziell als „Zeugen der christlichen Wahrheit und Opfer eines unmenschlichen Regimes“.
Eine offene Frage
Es war die katholische Gemeinde, die nach dem Krieg das Gedenken an die Lübecker Geistlichen aufrechterhielt, und zwar an alle vier. 1963 gab es eine erste ökumenische Gedenkfeier. Mit der Seligsprechung wartete man so lange, bis die Beziehungen zwischen den Konfessionen stabil genug dafür waren. Auch wenn es unter den Protestanten Lübecks immer noch einige Kritiker gibt, trägt die nordelbische Kirche die Feier der Seligsprechung nun mit. Bischof Gerhard Ulrich wird am 25. Juni dabei sein und ein geistliches Wort und eine Fürbitte sprechen. Und in der Lutherkirche, der Wirkungsstätte Stellbrinks, wird es am Abend vorher einen Gottesdienst geben, zu dem der römische Kardinal Walter Kasper mit einem geistlichen Impuls beitragen wird.
Wie weit Karl Friedrich Stellbrink am Ende seinen Nationalismus überwunden hat, bleibt eine offene Frage. Aber er hat im Widerstand gegen ein Unrechtsregime Konfessionsgrenzen gesprengt und für die Wahrheit und für Christus sein Leben geopfert. Constanze Maase, die heute an der Lutherkirche Pastorin ist, sieht ihn als Vorbild: „Dass er solchen Mut bewiesen hat in seiner öffentlichen Position, daran müssen wir uns heute messen lassen – zum Beispiel wenn wieder Nazis in Lübeck demonstrieren wollen.“
Regierungsnähe damals und heute
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Verhalten der evangelischen Kirche damals und heute
Ich bin nicht sehr erstaunt, aber erschüttert, über das halbherzige Verhalten der evangelischen Kirche gegenüber dem Faschismus.
Wie kommt das nur?
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