Am Anfang ist es nur ein Stück Holz, Martin Schleske nimmt es aus dem Regal, reibt mit den Fingerkuppen über das keilförmige Brett, Bergfichte, fünf Jahre alt, und da: Es rauscht. Klopft man an den richtigen Stellen, klingt es wie ein Glöckchen. Als wolle es gleich loslegen.
Gute Vorzeichen. Aber es braucht noch mehr: Wissen und Können, Intuition und Inspiration. Und Zeit. Eine Geige baut man wie vor drei Jahrhunderten, von Hand, rund 100 Arbeitsschritte, 250 Arbeitsstunden. Wenn Martin Schleske, 45, Geigenbaumeister und Diplom-Physiker, fertig ist, hat er zwei Produkte, eines sichtbar, eines hörbar, im besten Fall beides wunderschön, ein Instrument und seinen Klang.
Passendes Holz ist rar, nur einer von zehntausend Baumstämmen ist gut genug, ist ein Sängerstamm mit feinen, regelmäßigen Jahresringen. „Letztlich muss ich dem Holz gerecht werden, nicht umgekehrt“, sagt Martin Schleske. Auch aus gutem Holz kann eine schlechte Geige entstehen. „Diener des Holzes“, so nennt er sich selbst. „Einen der besten Geigenbauer der Welt“, nennen ihn andere.
Martin Schleske, groß und schlank, trägt Cordhose, Pulli, Arbeitsschuhe, Schürze und eine braune Kappe auf dem kahlen Kopf. Jedem Arbeitsschritt misst er Bedeutung bei, ein Gleichnis fürs Leben. Darüber hat er ein Buch geschrieben, „Der Klang – vom unerhörten Sinn des Lebens“*. „So, wie sich das Holz zu erkennen gibt“, sagt er, „so geben wir uns auch zu erkennen. Krisen und Alltag klopfen an, und es wird sichtbar, wie es um mich steht.“
Zurzeit recht gut. Wobei – Schleske findet, er könnte ein besserer Geigenbauer sein. Wie bitte? „Ich habe noch nie eine Geige mit einer schöner singenden E-Saite gespielt“, sagt Ingolf Turban, Solist und Professor für Violine an der Musikhochschule München. „Ich habe das Gefühl, dass jeden Tag neue Klangfarben hinzukommen, und es ist immer noch aufregend, sie zu entdecken“, sagt Jehi Bahk, Konzertmeister des Seoul Philharmonic Orchestra in Südkorea.
„Mein Klangbewusstsein ist stärker gewachsen als mein Können“, sagt der Hochgelobte, ein Perfektionist, ein Skeptiker. „Es gibt ein paar Geigen von Antonio Stradivari, die haben im Kern ein Knirschen, einen konzentrierten Klang, der etwas sehr Sinnliches hat und trotzdem eine große Wolke an Modulierbarkeit.“ Das will er auch bei seinen Geigen hören, das ist sein Ziel: den Nimbus Stradivaris anzukratzen.
„Er war auch nie zufrieden“, sagt Schleske. „Jede neue Geige muss eine Weiterentwicklung der vorigen sein.“ Den Klang einer „Strad“ zu übertreffen, ist in den knapp 300 Jahren seit dem Tod des Geigenbauers nie gelungen. Deshalb kosten dessen Geigen, etwa 500 gibt es noch, bis zu 3,6 Millionen Euro. Eine Schleske-Geige kostet rund 20 000 Euro, ein Cello 30 000 Euro.
Was das Geheimnis der Stradivaris ist? Wohl eine Kombination aus Holzlagerung, chemischer Vorbehandlung, Lackrezeptur und Handwerkskunst – und etwas, was niemand beeinflussen kann: Damals herrschte die Kleine Eiszeit, Bäume wuchsen langsamer, das Holz war von geringer Dichte, perfekt für guten Klang.
Martin Schleske verwendet Bergfichte für die Geigendecken, bosnischen Bergahorn für den Boden, die Zargen, die Schnecken und Ebenholz für das Griffbrett. Der Deckenrand ist eingefasst in geflammtes Akazienholz aus Tasmanien, Schleskes Handschrift – und Symbol: Auch die Bundeslade, das Wanderheiligtum der Hebräer, war aus Akazienholz. Martin Schleske, verheiratet, zwei Söhne, ist sehr gläubig.
Als 13-Jähriger hatte er die Bibel entdeckt. Der Vater, Professor für Sportpädagogik, damals Nihilist, hatte den Glauben durch das Dritte Reich verloren: „Wenn es möglich ist, dass dem Volk Gottes so etwas passiert“, sagte er immer, „gibt es keinen Gott.“ Aber Martin, mittleres von drei Geschwistern, ging nicht unter in den vielen Diskussionen.
Das kann einen fertigmachen: Mal wird man in den Himmel gelobt – dann wieder fallengelassen
Schleskes Atelier in Stockdorf bei München ist fast 200 Quadratmeter groß und hell, an den Fenstern stehen Werkbänke, Schaukästen, Werkzeughalter mit Hohlmessern, Feilen, Ziehklingen. An der Decke der Werkstatt hängen durchsichtige Acrylglasscheiben, sie verbessern den Klang. Mitten im Raum steht eine Hobelbank, Licht gibt eine alte OP-Lampe; dort liegen die Instrumente wie Patienten auf dem Operationstisch.
Aus Holzbrettern schneidet Martin Schleske Resonanzplatten aus, verleimt zwei Hälften. Es gilt, die Wölbung des Gei-genbodens herauszuarbeiten. Schleske steht im Ausfallschritt an der Bank, in der Hand ein Abstecheisen, ein rhythmisches Zischen, bloß nicht zu tief stechen, sonst ist der Klang ruiniert. Es riecht nach frischem Holz und ein bisschen nach Turnhalle, die Arbeit ist anstrengend. „Wenn ich die Wölbung mache, ist das ein Schöpfungsakt und keine Konstruktion“, sagt er. Wie im Leben: „Oft genug sehen wir es wie auf dem Reißbrett und meinen, so müsste es sein. Anstatt hinzunehmen, dass Schöpfung etwas ist, das sich entfaltet.“
Schleske arbeitet parallel an mehreren Geigen, blickt prüfend durch seine Brille. Er bearbeitet eine Geigendecke mit immer feineren Eisen, Zehntelmillimeter sind entscheidend. Mit der Laubsäge schneidet er F-Löcher hinein, setzt den Bassbalken. Manchmal laufen durch die Decken Ästchen, solche Geigen sind nicht makellos, dafür einzigartig. Überhaupt: Was heißt schon makellos? „Das ist wie bei den Menschen: Am besten ist es, wenn man das Gute in seinem Nächsten hervorlieben kann“, sagt er.
Mit 17 Jahren brach er das Gymnasium im Schwäbischen ab, bewarb sich um einen Platz an der Mittenwalder Geigenbauschule – für den Jungen auch ein sportlicher Anreiz: 1200 Bewerberanfragen auf zwölf Plätze, ist das zu schaffen? 1982 wurden 28 937 junge Männer in Deutschland Kfz-Mechaniker. Aber Geigenbauer? Schleske spielte Geige, ihn interessierte die Kombination aus Handwerk und Musik.
Wenn Decke und Boden fertig sind, verleimt Schleske sie mit den Zargen, den Seitenteilen, zum Korpus. Hals, Griffbrett und Schnecke folgen, ebenso die Adergräben für Verzierungen. Dann: der Lack, 15 Schichten. Jeder Geigenbauer entwickelt Rezepturen, die er nicht verrät; mit Mastixharz, Myrrhe, Bernsteinharz oder Benzoe, das nach Weihnachten duftet und den Lack zum Leuchten bringt.
Lack schützt das Holz, beeinflusst den Klang, verleiht einer Geige Schönheit – es ist, als könne man ins Innere des Holzes schauen. Um den leuchtenden Orangeton zu schaffen, legt Schleske über den Lack eine später unsichtbare Spur Blau, die Komplementärfarbe, um das Orange zu intensivieren. „So ist es auch bei mir: Über mein Orange muss eine Schicht Blau, eine Auseinandersetzung mit anderen Religionen, damit sich mein Glauben vertieft.“
Nach der Ausbildung in Mittenwald arbeitete Schleske zwei Jahre in einem schalltechnischen Institut, holte das Abitur nach und studierte Physik. „Mir war es zu wenig, nur an der Werkbank zu sitzen und Arbeitsschritte auszuführen, ohne zu wissen, was dabei passiert“, sagt er.
Neben dem Atelier befindet sich Martin Schleskes zweite Welt, das Akustiklabor. Eine Glastür trennt die zwei Bereiche: Im Atelier arbeitet er instinktiv, da geht es um den Klang, das Zuhören; im Labor ist es die Empirie, die Akustik. Der Messaufbau: der Korpus einer Geige dreht sich um sich selbst, ein Impulshammer klopft auf den Steg, ein Mikrofon zeichnet auf, der Monitor zeigt die Analyse des Schallspektrums. Jede Resonanz bildet sich als Spitze ab: Wie viel Energie strahlt das Instrument in welchem Frequenzbereich ab? Mit einer Methode, die ursrpünglich aus der Luft- und Raumfahrt kommt, prüft Martin Schleske die Qualität seiner Geigen, wie ein Arzt die Herztöne seines Patienten. Über 200 Instrumente hat er analysiert, so kann er objektiv sagen, was nicht passt.
Der Lack, Schicht um Schicht, verleiht der Geige Schönheit - als könne man dem Holz ins Innere schauen
Nur wenige Geigenbauer weltweit arbeiten wie Schleske. Früher versuchte er, den Kollegen zu erklären, wie Akustik den Geigenbau voranbringen könne. „Aber die meisten waren verunsichert oder fühlten sich provoziert.“ Missionarisch zu sein, zerstöre nur, sagt er heute. Manche Kollegen meinen, er beschädige das ehrwürdige Handwerk. „Die Kritik wäre berechtigt, wenn ich meine Intuition vergessen würde“, sagt Schleske. „Aber ich ergänze sie.“
Eine der Geigen ist fast fertig, das Griffbrett aufgeleimt, die Wirbel eingepasst; Schleske schneidet den Steg auf, setzt den Stimmstock, zieht die Saiten auf, dann: die ersten Striche. Das ist aber noch nicht saftig und kraftvoll und geerdet genug! Die Schallkontrolle am Prüfstand bestätigt Schleskes Gehör. Klingt das Instrument schrill, ist die Wölbungsbrust zu steif, muss er vom Holz etwas wegnehmen. Sehr schmerzhaft sei es, eine Geige zu öffnen.
Martin Schleske will nur schöne, gute Geigen bauen und forschen. Aber er muss seine Instrumente auch verkaufen. Unerbittlich sind die Musiker, schließlich sucht jeder das perfekte Instrument. „Das kann einen fertigmachen: Mal wird man in den Himmel gelobt, ist der zweite Stradivari und ein Zauberer – dann wieder fallengelassen. Oft von denselben Leuten.“ Lob steht er inzwischen ebenso skeptisch gegenüber wie Kritik.
Nach der Zeit im schalltechnischen Institut arbeitete Martin Schleske zwei Jahre bei einem Geigenbaumeister, legte die Meisterprüfung ab, 1995 machte er sich selbstständig. Schleske beginnt morgens um acht, hört oft erst abends um zehn auf. Die Mutter sagte immer, er solle sich nicht übernehmen, sich achten. „Das tue ich zu wenig, ich gehe oft an meine Grenzen.“ Seine Kraftquelle ist „der da oben“. Und der Klang: „Ich nehme eine Geige zur Hand, spüre unter den Fingern die Vibration...“
Der letzte Arbeitsschritt: Lack auspolieren, ganz wichtig. Schleske sitzt an der Werkbank, links hält er die Geige, rechts einen Leinenlappen. Er befeuchtet ihn mit Spiritus, drückt ihn mit kurzen Bewegungen aufs Holz. Auch hierzu hat er ein Gleichnis: Nur mit der richtigen Feuchtigkeit (Gnade), der intensiven Berührung (Glauben) und der permanenten Bewegung (Übung) erhalte der Lack Tiefe und Leuchten – „erst so entsteht ein inneres Feuer im Leben mit Gott“.
Pro Jahr verlassen etwa 15 Geigen Schleskes Werkstatt, gerade hat er Opus 138 fertig gestellt. Zur Hälfte arbeitet er Aufträge ab – wenn jemand dringend eine Geige braucht, dauert es drei, vier Monate –, die andere Hälfte baut er nach eigener Vorstellung, „sonst bleibt mein Beruf nicht lebendig“.
Martin Schleske nimmt Opus 137 aus der Vitrine, legt das Instrument unters Kinn, spielt einen Satz der Bach-Sonaten. „Hier, die G-Saite, ein satter Ton, in den man sich so reinfallen lassen kann. Wie ein Händedruck, bei dem man Druck zurückbekommt. Das suche ich, dieses samtige, stimmhafte ‚S‘ im Kern des Tones, und außen rum ist eine Fülle.“ Alles stimmig.
Aber in der Werkstatt passiert nur die Hälfte, die andere Hälfte des guten Klangs kommt mit der Zeit: Geigen werden immer besser – wenn sie gespielt werden.
* Martin Schleske: Der Klang – vom unerhörten Sinn des Lebens, Kösel, 352 Seiten, 21,95 Euro