Foto: Jan von Holleben
Ich war’s
Ich hab mich wieder mal gedrückt, hab eine praktische Ausrede ge­funden oder einen armen Sündenbock beschuldigt. Die Technik! Der Stau auf der A 5! Der Held dieser Erzählung würde da nicht von Lügen sprechen, höchstens von sozialem Schmierstoff. Und jetzt soll das Leben ohne so was laufen, sieben Wochen lang?
Lena Uphoff
18.02.2011

Ja klar! Natürlich! Haben wir doch alle drauf. Seit Kindesbeinen: Lügen haben kurze Beine. Und ehrlich währt am längsten. Oder: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Weiß doch jeder. Ist doch logisch.

Und jetzt kommt die Fastenaktion der evangelischen Kirche und posaunt uns entgegen: „Ich war’s! Sieben Wochen ohne Ausreden!“ Typisch evangelisch! Alles immer mit richtigem Ernst. Auf Bier verzichten – okay. Keine Zigaretten – sind wir doch längst dabei. Medienkonsum ­reduzieren – machen wir. Alles Herausforderungen im normalen Bereich.

Aber ein selbst auferlegter zwanghafter Umgang mit der Wahrheit, das ist entweder ein bisschen übertrieben oder sowieso normal. Ganz ehrlich: Als Grundlage einer Kultur, einer vernünftigen Kommuni­kation wird niemand bestreiten, dass man wahrhaftig sein soll. Aber evange­-lisch ­säuerlich wird es, wenn die kleine Schwindelei nicht mehr möglich sein soll. Unter uns: Das spart doch einfach Zeit, man kommt schneller zur Tagesordnung. Nehmen wir an, ich bin zu spät zu Hause weggefahren. Gebe ich das zu, stehe ich dumm da.

Gut, dass es den Spam-Ordner gibt

Also erfinde ich einen kleinen Stau auf der A 5. Den gibt es sowieso täglich, ist absolut glaubwürdig. Oder: Ich habe versehentlich ein paar E-Mails ­meiner Frau auf dem Familien-PC gelöscht, die ­offenbar wichtig gewesen sind. Sagt sie zumindest. Wenn ich jetzt sage: „Sorry, ist mir passiert. Aus Versehen!“ – dann weiß ich schon, was kommt. Kann doch niemand was dagegenhaben, dass man sich so einen Zoff erspart. Die Sch...technik, sind wir uns doch einig, raubt einem den letzten Nerv.

Oder: Wer so unglaublich viele E-Mails bekommt wie ich, kann die doch gar nicht alle lesen, geschweige denn beantworten. Gut, dass es den Spam-Ordner gibt, wo der Mail-Müll automatisch reinläuft, all die ­Viagra- und Rolex-Sonderangebote! Wen kann es da überraschen, dass auch die eine oder andere echte Mail dort landet? Sorry, deine Mail habe ich nicht bekommen. Wird vermutlich im Spam-Ordner gelandet sein.

Die Technik ist übrigens von alters her mit das beliebteste Ausredenthema. Es ist einfach eine elegante Methode, die Verantwortung wegzudrücken für etwas, das dumm gelaufen ist. Mein Opa hat gerne gesagt: „Wenn der Vadder nicht schwimmen kann, ist die Badehose schuld.“ Und? Tut ja niemandem weh.

Die Macke war kaum der Rede wert

So habe ich bisher gedacht. Ehrlich. Und Sie werden zugeben müssen, dass Sie es nicht wesentlich anders machen. Aber am Samstag war ich einkaufen. Riesengewimmel auf dem Parkplatz. Ich habe mein Auto wirklich auf Kante zwischen zwei andere gequetscht, bin kaum zur Tür rausgekommen. Als ich nach einer Stunde wieder zu meinem Wagen kam, stand ein freundlicher junger Bursche davor und sprach mich an: „Entschuldigen Sie bitte, ich habe beim Ausparken Ihren rechten Außenspiegel angedeppert. Wir können es uns einmal zusammen anschauen. Ansonsten nehmen Sie bitte meine Visi­tenkarte. Lassen Sie den Schaden reparieren, und schicken Sie mir die Rechnung.“

Die Macke war kaum der Rede wert. Hätte man auch unter ganz normalem Schwund abbuchen können. Der Kotflügel links sieht da weit schlimmer aus. Ist mir letztes Jahr jemand reingeschrammt. Ja, gut – und ich habe einen anderen vor acht Wochen touchiert, aber nur ganz leicht. An dessen Auto war praktisch gar nichts. Deswegen bin ich auch gleich weggefahren. Zu dem Burschen habe ich deshalb gesagt: „Halb so wild. Lass mal! So einen Minischaden meldet man doch nicht seiner Versicherung.“

"Tja, mein Schatz, tut mir unendlich leid"

Er war ganz erfreut. „Okay. Aber dann darf ich Sie am Imbiss da vorne auf einen Latte macchiato einladen oder was anderes. Würde mich freuen.“ Ich habe auf die Uhr geguckt. Na ja, ich musste Billy noch vom Fußball abholen. Aber ein Vier­tel­stündchen ging schon. War ein außer­ordentlich nettes Gespräch.

Als ich nach Hause kam, habe ich es gleich meiner Frau erzählt. Barbara fand das ganz toll von dem jungen Mann. „Hast du die Hosen mitgebracht?“, fragte sie. Welche Hosen? Oh, Mist, die Reinigung! Ich wollte schon sagen, die habe leider schon zugehabt. Aber dann bin ich wie mein neuer Bekannter einfach in die Offen­sive gegangen. „Tja, mein Schatz, tut mir unendlich leid.

Habe ich nach dieser Geschichte glatt vergessen. Entschuldige bitte! Kann ich dir irgendetwas Gutes tun, damit du mir nicht allzu böse bist?“ Sie lächelte und sagte: „Wie wär’s, wenn du heute auf Fußball im Fernsehen verzichtest und stattdessen mit mir ins Kino gehst?“ Und Billy? „Der geht zu Bauers. Hat mir Eri schon angeboten für einen solchen Fall.“ Hmm. Auf Fußball verzichten! Quasi die Höchststrafe.

Ich ließ das U-Boot auf Tauchgang gehen

Ich spürte, wie aus meiner Magen­gegend ein kampferprobtes U-Boot auftauchte, ­eine Allzweckwaffe gegen jegliche Intervention dieser Art. Seine Kanonen hießen „Hexenschuss“, „Kopfschmerzen“ oder „grippaler Infekt“. Ein Leichtes, eine von ihnen abzufeuern. Borussia gegen Bayern, Eintracht gegen Werder – und ich sollte derweil im Kino sitzen! Ich griff mir an die Nase, ich hustete testhalber, legte meine Hand auf die Bronchien. Und dann ließ ich das U-Boot auf Tauchgang gehen. „Okay, können wir machen“, hörte ich mich sagen – und auf ihre Antwort hoffen: „War alles nur Spaß. Selbstverständlich gehört der Samstagabend dem Sportstudio.“ Doch nichts dergleichen war zu hören.

Wir brachten Billy zu den Bauers. „Super“, rief Eri in einer Mischung aus Mitfreude und Neid, „finde ich ja klasse, dass ihr etwas zusammen macht! Das muss ich bei Werner gar nicht probieren. Entweder daddelt er am Computer oder guckt Sport. Samstags müsse er sich erholen.“ Na ja, ­wenigstens hatte ich den Rekorder programmiert; konnte ich mir nach unserer Rückkehr die Aufzeichnung ansehen.

"Kannst Du mir verzeihen?"

Es wurde ein schöner Abend. Wir beide alleine unterwegs. Ein spannender Film und eine kleine Schorle im „Adler“. Lange nicht mehr so miteinander geredet und gelacht. Nachdem wir Billy abgeholt und ins Bett geschickt hatten, setzten wir uns nach Mitternacht mit einem Gläschen Riesling vor den Fernseher. Ein noch selteneres Ereignis: Barbara wollte mit mir zusammen die Aufzeichnung vom Sportstudio ansehen.

Ich schaltete den Rekorder ein, aber nichts tat sich. Die Aufzeichnung war nicht zustande gekommen. Ich wollte schon aufstehen und mir das Gerät vornehmen, als mir Barbara die Hand auf den Arm legte: „Ich war’s! Ich habe heute die Fenster geputzt. Und da habe ich das Kabel rausge­zogen, weil es mir im Weg war. Kannst du mir verzeihen?“ Es fiel mir nicht ganz leicht.

Aber als sie anbot, zum Ausgleich mit Billy und mir am nächsten Samstag ins Stadion zu fahren, konnte ich ihr nicht mehr böse sein. Fußballstadien zu be­treten, hatte sich mein Schatz fünfzehn Jahre lang glatt geweigert. Damals war sie einmal mitgekommen, nachdem ich lange darum gebettelt hatte. Prompt waren wir einer Horde alkoholisierter Hooligans begegnet, was Barbara in einen panischen Zustand versetzt hatte.

Die Bilanz konnte sich sehen lassen

Nein, das konnte ich nicht annehmen. „Lass gut sein“, sagte ich. „Irgendwann heute Nacht wird eine Aufzeichnung vom Sportstudio noch mal ausgestrahlt. Das nehme ich auf. Kann ich morgen früh anschauen.“ Sie gab mir einen dicken Kuss. „Lass uns schlafen gehen.“ Als ich mich morgens hochrappelte, schliefen Barbara und Billy noch tief und fest. Ich holte Brötchen, kochte mir einen Tee, schaltete die Glotze ein und freute mich an einem grandiosen Sieg der Eintracht.

Und dann dachte ich irgendwie wieder an diese Fastenaktion. Gar nicht so schlecht. Dreimal hatte gestern jemand „Ich war’s“ gesagt und um Nachsicht gebeten. Die Bilanz konnte sich sehen lassen. Für mich hat „Sieben Wochen ohne Ausreden“ schon im Februar begonnen. Und zwar ­ohne ­Fasten. Barbara hat mir am Sonntag noch meine Leibspeise gemacht: Schupfnudeln mit Käse überbacken und reichlich Butter drauf. Deshalb war mir klar, warum die Waage am Montagmorgen unverschämte anderthalb Kilo mehr anzeigte. Und als mich Biggi am Kopierer fragte: „Du siehst irgendwie anders aus als sonst. Hast du zugenommen?“, sagte ich: „Ja, und zwar anderthalb Kilo!“

Biggi schüttelte erstaunt den Kopf: „Du bist wenigstens ehrlich. Ich weiß nicht, ob ich das brächte. Ich würde wahrscheinlich sagen, das sei meine neue Hose, die ich ein wenig zu eng gekauft hätte, oder so was Ähnliches. Aber dir kann ich es jetzt ja zugeben: Ich habe auch gesündigt am Wochenende. Bienenstich, Schwarzwälder Kirschtorte. Hab mich nicht mal auf die Waage getraut. Aber bald ist ja Fastenzeit. Da mach ich sieben Wochen ohne.“

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Durch Zufall und mit ein bißchen Verspätung fiel mir das Chrismon-Heft 3/2011 mit dem Artikel „Ich war’s“ in die Hände. Eine hübsche Geschichte, ein Plädoyer für Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und den Verzicht auf jene kleinen Lügen, die das Leben einfacher machen. Man ertappt sich dabei zu denken, stimmt eigentlich, so sollte das laufen, immer schön bei der Wahrheit bleiben – bis sich der Erzähler „an einem grandiosen Sieg der Eintracht“ freut. Moment mal – Eintracht? Grandioser Sieg? Es kann sich dem Zusammenhang nach nur um jene Eintracht aus Frankfurt handeln, die im Mai nach einer wahrhaft abgründigen Rückrunde aus der Bundesliga abgestiegen ist. Das Team musste lange Wochen gar auf sein erstes Tor im Jahre 2011 warten. Genau in jene Zeit fällt der besagte „grandiose Sieg“. Gegen Werder, nicht wahr? Das Spiel war erst am 8. April und endete 1:1. Einem Fußballfan, zumal einem, der wie behauptet gelegentlich sogar ins Stadion geht, wäre dieser Fehler nicht unterlaufen. Diese Fußballfaneigenschaft ist aber für die Erzählung nicht ganz unerheblich, und so fällt die ganze Geschichte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Wenn schon die nachprüfbaren Fakten so grundfalsch sind, wie mag es dann um den Wahrheitsgehalt des Restes stehen? Vermutlich ist nichts davon wirklich passiert. Vermutlich ist die ganze Story von vorne bis hinten, von der Latte Macchiato bis zu den Schupfnudeln, frei erfunden. Wer einmal lügt... Das Ganze wäre ja nicht so schlimm, wenn es sich nicht ausgerechnet um einen Text handelte, der für Wahrhaftigkeit und Lügenabstinenz eintritt und der sich durch die Ich-Form der Erzählung und Aussagen wie „Für mich hat ‚Sieben Wochen ohne Ausreden’ schon im Februar begonnen“ um Authentizität heischt. Was nun, Herr Brummer? Was werden Sie sagen? Dass der Artikel schließlich geschrieben werden musste, der Redaktionsschluss nahe war und absolut nichts Ausredentaugliches passierte? Dass Sie selbst tatsächlich, zugegeben, kein Fußballfan sind, Ihnen aber ein Bekannter die Geschichte haarklein genau so erzählt hat, und woher sollten Sie denn wissen...? Oder werden Sie sagen: Ja, ich war’s! Ich habe mir die ganze Geschichte einfach aus den Fingern gesogen und um der Wahrhaftigkeit willen das Blaue vom Himmel herunter gelogen! Das wäre doch mal eine Haltung. Und in Zukunft könnte man tatsächlich einfach mal bei der Wahrheit bleiben, auch außerhalb von Fastenaktionen. Oder zumindest nichts über Fußball schreiben.