Das schaffst du nie, haben alle gesagt. Weil ich so unsportlich bin und auch meistens mit der U-Bahn fahre. Und dann hatte ich nur Turnschuhe zum Wandern, von Aldi für 20 Euro. Mein Lehrer hatte gesagt: Leiht euch Wanderschuhe! Aber von wem denn? Ich komme aus Afghanistan, da geht niemand wandern. Und meine Freundinnen finden wandern langweilig.
Ich bin gerade in die achte Klasse gekommen, da beginnen an der Winterhuder Reformschule in Hamburg die „Herausforderungen“. Meine Freundinnen haben alle „Heraus aus dem Nest“ gemacht: Sie sind in Gastfamilien gegangen. Meine Eltern sagten: Geh doch zu deinem Onkel nach München! Aber ich wollte mal nichts mit der Familie machen. Manchmal ist mir zu Hause alles zu eng mit meinen drei Geschwistern. Und wenn ich rauswill, soll ich meine kleine Schwester mitnehmen. Samstags muss ich zur Koranschule, sonntags kommen die Verwandten.
Ich wollte die Alpen überqueren, drei Wochen, bis nach Italien. Ich war noch nie so hoch in den Bergen. Ich war überhaupt noch nie in den Ferien weg. Nur einmal in Kabul bei unseren Verwandten. Und eine Woche Klassenfahrt in den Harz. Da bin ich das erste Mal gewandert, das war toll.
Aber wie sollte ich meine Eltern rumkriegen? Die stellten lauter Fragen: Wo willst du denn in den Bergen schlafen? Ich musste erklären, dass Hütten richtige Häuser sind mit Betten, aber oft alle in einem Raum. Meine Mutter: Schlafen Jungs und Mädchen getrennt? Ich: Äh, nein. Sie: Dann bleib aber in der Nähe der Mädchen. Und was wollt ihr essen? Ich sagte, das kaufen wir unten im Tal ein und tragen es den Berg hoch. Sieben Euro konnte jedes Kind pro Tag für Essen ausgeben. Am Ende überzeugte ich meine Eltern mit einem Handy: Kauft mir eins, dann könnt ihr mich immer erreichen.
Gott sei mir dir, sagte der Vater zum Abschied
Mein Vater brachte mich morgens um fünf zum Bahnhof. Beim Abschied sagte er: Gott sei mit dir! Er drückte mir noch 50 Euro in die Hand. Dann fuhr der Zug los. Wir hatten alle ein mulmiges Gefühl. Nach zehn Stunden Fahrt war vielen schlecht, weil wir die ganze Zeit gegessen haben. Eigentlich war ja Ramadan, deshalb hatte ich eine Woche im Voraus gefastet.
Gleich am zweiten Tag sind wir neun Stunden gewandert. Ich war natürlich die Letzte. Es ging immer höher hinauf. Manchmal mussten wir uns an Seilen festhalten. Das hat Spaß gemacht. Aber meine Füße taten weh. Irgendwann konnte ich nicht mehr und setzte mich hin. Die anderen sind weiter, man konnte die Hütte ja schon sehen. Ich saß da, um mich nur Berge, Steine, Himmel. Ich dachte, ich hab die ganze Welt für mich. Dann kamen plötzlich Wolken, es wurde immer dunkler, ich bekam ein bisschen Angst. Es fing an zu regnen, immer doller, und da ich kein Wasser mehr hatte, versuchte ich, den Regen in der Wasserflasche aufzufangen. Klappte aber nicht. Jetzt wollte ich nur noch zur Hütte. Als ich ankam, sagte die Lehrerin: Boah, das hätte ich mich mit 14 nicht allein getraut! Ich bestellte mir einen Kakao und eine Suppe und fühlte mich einfach stark.
Am nächsten Morgen hatte ich schrecklichen Muskelkater. Ich musste mich am Geländer festhalten, um die Treppen in der Hütte runterzukommen. Aber so ging es einigen. Wenn jemand nicht mehr konnte, hat immer einer gesagt: Komm weiter, wir packen das! Das half. Überhaupt gab es bei jedem gute und schlechte Tage. Ich bin manchmal ganz vorn gelaufen und habe gesungen. Die anderen sagten, ich würde gute Laune verbreiten. Am Ende waren wir in Italien, und meine Turnschuhe hatten gehalten.
Wie dünn du bist, sagte meine Mutter, als wir zurück waren. Steht dir gut, sagte meine Cousine. Alle waren beeindruckt, dass ich das geschafft habe. Ich hatte so viel Kraft in den ersten Tagen! Jetzt komme ich schon wieder in den alten Trott, werde bequem und sitze vor dem Fernseher. Aber vielleicht fange ich einen HipHop-Tanzkurs an. Auf jeden Fall will ich nächstes Jahr wieder eine echte „Herausforderung“ mitmachen: 350 Kilometer zu Fuß auf dem Jakobsweg.
Protokoll: Ariane Heimbach