chrismon: Herr Kauder, Ihre Eltern flohen 1947 aus dem damaligen Jugoslawien. Warum?
Volker Kauder: Die dort lebenden Deutschen wurden von Partisanen und nachrückenden Russen vertrieben. Viele Deutsche sind umgekommen, viele junge Frauen in Lagern brutal misshandelt worden. Meine Eltern sind als Flüchtlinge nach einigen Umwegen in Hoffenheim gelandet. Dort bin ich auf die Welt gekommen.
Herr Grenz, waren die Eltern von Herrn Kauder Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention?
Wolfgang Grenz: Die Flucht aus einem Bürgerkrieg allein reicht rechtlich nicht, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Aber wenn, wie Herr Kauder beschrieben hat, Frauen misshandelt werden, kann das schon als politische Verfolgung gewertet werden.
Kauder: Sie waren heimatvertriebene Deutsche. Das ist eine ganz andere Situation.
Damals wurden sehr viele Menschen heimatlos. Die Deutschen mussten zusammenrücken. Wie haben Sie das erlebt?
Kauder: Die Heimatvertriebenen waren in Deutschland nicht immer willkommen. Die Einheimischen waren selbst in Not und sollten auch noch teilen. In der Schule wurden wir darauf angesprochen, dass wir Zugezogene waren. Aber ich bin hier aufgewachsen, ich habe mich von Anfang an als Einheimischen betrachtet. Mir war immer klar, dass man selbst einen Beitrag bringen muss, um dazuzugehören.
Beeinflussen die Erfahrungen Ihrer Eltern Ihre Haltung heute?
Kauder: Meine Mutter hat mir gesagt, die Nazis seien schuld an ihrem Unglück. Hätten die nicht den Krieg begonnen, hätte sie ihre Heimat nicht verlassen müssen. Schon als Kindern war uns klar, dass wir Nazis politisch bekämpfen müssen. Extremismus, ob rechts oder links, darf bei uns keinen Platz finden.
"Als Flüchtling habe ich mich nie gefühlt."
Herr Grenz, Sie flohen 1952 aus der DDR in den Westen.
Grenz: Ich bin in Lützen bei Leipzig geboren. Als ich fünf war, ist ein Teil meiner Familie übergesiedelt. Meine Schwester hat man allein über die Grenze geschickt. Beim ersten Mal ist sie verhaftet worden. Als Flüchtling habe ich mich aber nie gefühlt.
Sie befassen sich seit 32 Jahren bei Amnesty International als Jurist mit der Flüchtlingspolitik.
Grenz: Mir hat immer der frühere Artikel 16 (2) des Grundgesetzes imponiert: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Im Zweiten Weltkrieg hatten viele, die am Grundgesetz mitgearbeitet haben, selbst die Erfahrung des Exils gemacht und deshalb dieses Recht im Grundgesetz verankert.
Wie hat sich der Umgang mit Flüchtlingen verändert?
Grenz: 1980 hatten wir in der alten Bundesrepublik über 100 000 Asylsuchende. Für die Bootsflüchtlinge aus Indochina gab es große Sympathien. Flüchtlinge aus Afrika wurden dagegen als Wirtschaftsasylanten und Schmarotzer beschimpft. Nach 1986 brachte man Asylsuchende teils auf Tennisplätzen, in Schulen und Turnhallen unter. Anfang der Neunziger stieg die Zahl der Asylsuchenden weiter an. 1992 kamen 438 000 Asylsuchende. In die Zeit fallen Anschläge wie der Brandanschlag in Rostock-Lichtenhagen. Die politische Führung steuerte nicht dagegen, sondern zeigte zum Teil für die Sorgen der Rostocker Verständnis.
Kauder: Die Jagd auf Asylbewerber ist aufs Schärfste zu verurteilen. Aber was die Aufnahme von Verfolgten angeht: Deutschland geht wie kaum ein anderes Land fair und rechtsstaatlich mit Flüchtlingen um. Wir haben die meisten Flüchtlinge in Europa aufgenommen. Wir setzen uns in der ganzen Welt für Menschenrechte ein. Wir dürfen aber den Blick nicht verengen. In der deutschen Öffentlichkeit wurde lange kaum beachtet, dass in vielen Ländern christenfreie Zonen errichtet werden sollten. Beispiel Irak. Der UN-Sicherheitsrat hat noch nie eine Resolution gegen Länder verabschiedet, in denen Christen verfolgt werden. Noch nie.
"Meine Mutter hat ihr ganzes Leben darunter gelitten, dass sie vertrieben wurde."
Würden UN-Resolutionen den verfolgten Christen helfen?
Kauder: Ja, wie es auch helfen würde, wenn wir hierzulande darüber berichten. Kein Land will als Verfolgerland dastehen.
Warum setzen Sie sich für verfolgte Christen ein?
Kauder: Weil das meine Glaubensbrüder und Glaubensschwestern sind. Da empfinde ich eine besondere Verantwortung.
Helfen Sie als Christ auch verfolgten Bahai oder Ahmadiyya?
Kauder: Ja, natürlich genauso. Aber Christen sind die am stärksten verfolgte Religionsgruppe weltweit. Kopten stehen in Ägypten weiter erheblich unter Druck – trotz Freiheitsbewegung. Die neue Verfassung macht wieder die Scharia zur Grundlage des ägyptischen Rechts. Christen werden in Eritrea und anderen afrikanischen Staaten verfolgt, da ist Amnesty an meiner Seite.
Grenz: Dass das Christentum die am meisten verfolgte Religionsgruppe sei, kann ich so nicht bestätigen. Natürlich kann man sich als Christ für Christen einsetzen. Amnesty setzt sich generell für Menschen ein, die aus religiösen Gründen verfolgt werden – auch verfolgte Ahmadiyya, Schiiten und Sunniten. Die EU hat 2008 unter anderem Christen aus dem Irak aufgenommen. Da hat Deutschland eine sehr positive Rolle gespielt, auch wenn die Bundesregierung erst nur Christen aufnehmen wollte. Amnesty setzte sich mit der Evangelischen Kirche in Deutschland dafür ein, dass auch andere Verfolgte aus dem Irak Zuflucht bei uns finden.
Kauder: Es muss Ziel der Politik sein, dass Christen wie andere verfolgte Menschen immer in Sicherheit in ihren Heimatländern leben können. Meine Mutter hat ihr ganzes Leben darunter gelitten, dass sie aus dem Grenzgebiet zwischen Ungarn und Jugoslawien vertrieben wurde. Ihr Vater war ungarischer Staatsbürger, er konnte seinen Beruf als Rechtsanwalt in Jugoslawien nicht ausüben. Dass es meinen Eltern später materiell gut ging, hat den Schmerz über den Verlust der Heimat nie ausgleichen können.
"Menschen müssen für ihren Glauben öffentlich werben dürfen."
Im Irak und in Pakistan terrorisieren nichtstaatliche Gruppen Christen. Was kann ein Politiker wie Herr Kauder dagegen tun?
Grenz: Deutschland ist Bündnispartner von Pakistan. Herr Kauder kann seinen pakistanischen Kollegen sagen: Ihr müsst eure Minderheiten schützen, egal, welchen Glauben und welche politische Auffassung sie haben. Tut es Pakistan dennoch nicht, müssten wir in Deutschland Asylbewerber aus Pakistan anerkennen, die durch nichtstaatliche Gruppen verfolgt werden.
Kauder: Auf meinen Reisen mache ich den Schutz von Verfolgten immer zum Thema. In Indien habe ich mich etwa für die verfolgten Christen in Orissa eingesetzt. Natürlich hat Herr Grenz recht, wenn er sagt: Wenn diese Interventionen nicht wirken, dann müssen wir auch Verfolgte aufnehmen. Das Asylrecht wurde in Deutschland nie infrage gestellt. Der Begriff des Asyls ist nur zwischenzeitlich sehr weit ausgedehnt worden.
Grenz: Inzwischen wurde er eher zu sehr eingeengt. Wenn jemand vom Islam zum Christentum übertritt, fragen deutsche Gerichte nach, ob die Taufe ein wahrer Ausdruck des Bekennens sei oder nur eine Masche, um Asyl zu bekommen. Solche Unterstellungen sind problematisch. Wenn die evangelische oder katholische Kirche jemanden tauft, führt solch ein Übertritt im Iran zu Verfolgung. Da kann ein Gericht nicht sagen: Wir prüfen, ob der Glaubenswechsel auch wirklich ernst gemeint war.
Kauder: Gesinnungsprüfungen sind immer schwierig. Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Natürlich wechseln Leute die Religion, um sich aus einer persönlich schwierigen Situation zu befreien. Dennoch: Wenn jemand eine Religion annimmt, ist dies zu akzeptieren. Das muss der Grundsatz sein.
Grenz: Menschen müssen auch für ihren Glauben öffentlich eintreten und werben dürfen. Werden sie deshalb verfolgt, muss man sie als Flüchtlinge anerkennen. So legt es eine EU-Richtlinie fest. Die deutsche Rechtsprechung hält bisher dagegen, die Leute könnten ihre Religion ja im stillen Kämmerlein ausüben.
Kauder: Ich stimme zu. Zur Religionsfreiheit gehört, dass ich meine Religion öffentlich leben darf. Wenn andere Religionen dies nicht zulassen oder wenn Länder den Wechsel der Religion unter Strafe stellen, verletzen sie die Menschenrechte.
Grenz: Sagen Sie das dem Bundesinnenminister! Bislang sträubt sich sein Haus dagegen. Auch die Gerichte sträuben sich. Der Europäische Gerichtshof verhandelt den Fall eines Ahmadiyya-Angehörigen aus Pakistan. Und da sagt die Bundesrepublik: Es reicht, wenn er seinen Glauben zu Hause ausübt. Wird er angegriffen oder wegen Unruhestiftung verhaftet, weil er sich öffentlich zu seinem Glauben bekennt, sei das nicht asylrelevant.
"Ich finde Ihre Haltung hartherzig."
Der Erzbischof von Tunis, Maroun Lahham, schrieb während des libyschen Bürgerkriegs, ihm sei unbegreiflich, warum die Europäer so abweisend seien. Hunderttausende Libyer wurden in Tunesien freundlich aufgenommen. Und Europa sagte, es sei mit zehntausend überlastet. Wie erklären Sie als Christ, der mit Christen solidarisch ist, das Verhalten Deutschlands?
Kauder: Wir sind nicht abweisend. Während des Bürgerkriegs in Jugoslawien haben wir Zehntausende Bosnier und Albaner aufgenommen. Doch später müssen die Menschen in ihr Land zurückkehren und sich dort wieder einfinden können. Das müssen wir auch immer bei Aufnahmeentscheidungen beachten.
Grenz: Der Hohe Flüchtlingskommissar hat im März und im Mai an die EU appelliert: Etwa acht- bis zehntausend als Flüchtlinge anerkannte Menschen hätten in den Grenzgebieten von Ägypten und Tunesien keine Lebensperspektive. Da verstehe ich nicht, warum die EU-Staaten ablehnend reagiert haben. Es stünde Deutschland gut an, einen Teil der Flüchtlinge aufzunehmen.
Kauder: Deutschland hat sich immer der Aufgabe gestellt. Die Menschen müssen auch zu geordneten Verhältnissen kommen.
Der Hohe Flüchtlingskommissar bescheinigt, Deutschland habe mehr Flüchtlinge als jedes andere hochentwickelte Land aufgenommen. Im internationalen Vergleich stehe Deutschland dennoch nicht allzu gut da. Wie ist das zu verstehen?
Grenz: Malawi hatte eine Zeit lang eine Million Flüchtlinge bei acht Millionen Einwohnern. Aber die Flüchtlinge dort leben in Verhältnissen, die in Deutschland undenkbar wären. Deutschland hat nach Angaben des UNHCR zwischen 1953 und 2010 etwa 594 000 Flüchtlinge aufgenommen. Gemessen an der Größe Deutschlands, der Bevölkerungszahl und dem Bruttosozialprodukt stehen wir im internationalen Vergleich im guten Mittelfeld.
Kauder: Ich habe mich in Ägypten informiert. Ich weiß, wie viele Menschen das Land verlassen wollen. Natürlich wäre es schön, wenn wir allen ein besseres Leben ermöglichen könnten. Aber es ist keine Lösung zu sagen: Wir nehmen hier acht- und dort zehntausend auf. Wir müssen an die Wurzeln der Not. Darum wollen wir auch helfen, dass in Ägypten eine Demokratie entsteht. Nächstenliebe besteht auch darin, Perspektiven zu schaffen.
Grenz: Das eine tun heißt nicht, das andere lassen. Es geht auch nicht um alle. Ich finde Ihre Haltung sehr hartherzig.
Kauder: Nein, ich glaube, dass wir uns in Deutschland nicht den Vorwurf machen müssen, dass wir hartherzig seien.
Grenz: In dieser Frage schon.
"Nach Griechenland schieben wir auch nicht ab."
Europa streitet über eine gemeinsame Asylpolitik. Warum?
Grenz: Weil das System nicht funktioniert. Die EU-Grenzstaaten fühlen sich von den anderen im Stich gelassen. Flüchtlinge bekommen nur in dem Land Asyl, das sie zuerst betreten haben.
Kauder: Das System hat sich im Großen und Ganzen bewährt. Wir dürfen nicht vergessen: In den Neunzigern haben einige Länder bewusst Asylbewerber nach Deutschland befördert, obwohl sie gar nicht so viele im Land hatten. Deutschland ist das beliebteste Asylland, weil wir Asylbewerbern die besten Bedingungen bieten. So ging es nicht weiter: in Portugal landen und in Deutschland Asyl beantragen. Wir mussten zu einer Übereinkunft kommen.
Grenz: Vor einigen Monaten hat der Europäische Menschengerichtshof gegen dieses System entschieden. Einem Afghanen drohte Verfolgung durch die Taliban. Er floh über den Iran und die Türkei nach Griechenland und von dort nach Belgien. Belgien überführte zurück ins Erstaufnahmeland, nach Griechenland. Man brachte ihn in eine überfüllte Unterkunft, die Polizei misshandelte ihn. Er kam frei, wollte fliehen, wurde erneut inhaftiert und von der Polizei geschlagen. Der Gerichtshof verurteilte beide: Griechenland, wegen des unfairen Asylverfahrens und der menschenunwürdigen Unterkunft; Belgien, weil der Afghane keine Rechtsmittel gegen die Abschiebung einlegen konnte.
Kauder: Nach Griechenland schieben wir derzeit auch nicht ab.
Grenz: Seit klar war, dass dieses Urteil kommen würde.
Kauder: Wir haben jedenfalls vor dem Urteil reagiert. Grundsätzlich müssen wir davon ausgehen, dass in einem EU-Mitgliedsstaat die Menschenrechte gewährleistet werden.
Grenz: Rechtsschutz dagegen, ins Erstaufnahmeland überstellt zu werden – also in das fürs Asylverfahren zuständige EU-Land –, ist in Deutschland auch nicht immer gewährleistet.
"Leichter zu schwärmen als zu handeln"
Herr Kauder, Sie treten als Fürsprecher einer wertegeleiteten Außenpolitik hervor. Was meinen Sie damit?
Kauder: Oberster Gedanke ist, dass wir weltweit für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit eintreten.
Grenz: Doppelzüngig wäre es, wenn wir Menschenrechtsverletzungen nur anprangern, wenn uns die Kritik aus strategischen oder wirtschaftspolitischen Gründen passt.
Kauder: In Peking habe ich vor Ostern den Fall Ai Weiwei deutlich angesprochen, obwohl China ein wichtiger Partner ist. Ich gebe aber zu: Die Politik muss manchmal Kompromisse eingehen. Amnesty hat es leichter. Sie können anprangern. In Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ steht der bemerkenswerte Satz: „Wie viel leichter ist es, schön zu schwärmen als gut zu handeln.“
Grenz: Amnesty redet nicht schwärmerisch.
Kauder: Ich sage es, weil ich mit apodiktischen Forderungen konfrontiert werde. Stimmen die Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, müssen wir so reagieren, dass den Betroffenen geholfen ist. Die Wahrheit zu sagen, war noch nie ein Fehler.
Grenz: Na ja.
Kauder: Jetzt sind Sie baff, was?
Grenz: Gar nicht. Wenn ich im Ministerium Fakten vorlege, erkennt man das an. Im Übrigen: Wenn schwärmen heißt, engagiert für jemanden einzutreten, ist das gut. Unsere Mitglieder stehen voll dahinter, wenn sie sich für einen Gefangenen einsetzen.
Kauder: Dafür haben Sie meinen hohen Respekt! Ich finde die am überzeugendsten, die zu mir in die Sprechstunde wegen eines Menschen kommen, für den sie sich selbst einsetzen. Die nicht bloß sagen: Da ist ein Problem, jetzt muss sich jemand anderes darum kümmern.