In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Beim Schwimmen, weil dann die Schwere weg ist; beim Skifahren oder wenn ich mit dem Hund im Wald bin. Aber ich fühle mich immer lebendig. Vor allem natürlich beim Schreiben, und da ich mit der Hand schreibe, ist das eine Tätigkeit, die von Kopf bis Fuß in Anspruch nimmt. Die Schreibmaschine ist nichts für mich, ich muss auf dem Schreibtisch liegen, und der Schreibtisch muss mitmachen. Ich kann nicht lebendiger sein, als wenn ich einen Satz zu einem guten Ende gehen sehe. Und wenn ich dann abends hinunterkomme, kann ich sagen: Es ist etwas auf dem Papier, von dem heute Morgen noch keine Ahnung möglich war. Dann habe ich das Gefühl, ich sei lebendig gewesen.
Wie furchtsam sind Sie?
Ich habe mich seit langem befreundet mit der Formel: Mir fällt ein, was mir fehlt. Die Basiserfahrung ist immer ein Mangel. Ich behaupte, nicht nur bei mir, sondern bei den Menschen überhaupt. Auf der zweiten Seite von „Muttersohn“ heißt es über die Hauptfigur: „Zwei Empfindungen waren Percy fremd: Furcht und Ungeduld.“ Der Satz kam von selber. So eine Figur will man, der Furcht und Ungeduld fremd sind. Meine Mutter war vollkommen angstbesetzt, und auch mir ist es nie gelungen, das wirklich abzustreifen. Ich fühle mich immer unsicher. Nicht beim Schreiben. Aber sobald ich aus dem Schreiben in die Realität komme mit einer bestimmten Problematik, beginnt eine Unsicherheit.
An welchen Gott glauben Sie?
Ich möchte keine Auskunft darüber geben, wie das bei mir ist. In meinen Büchern kann ich schreiben, was ich niemals sagen würde. Das Schreiben ist ein Entblößungs-Verbergungs-Vorgang: Nur weil ich mich verberge in irgendeiner Figur, kann ich weit gehen. Im direkten Gespräch würde ich mich genieren, mit Ihnen über meinen Glauben zu sprechen. Nur so viel: Die Hauptfigur Percy, dieser gläubige Tor, ist eine solche Erleichterung für mich, eine solche Wohltat! Über Glauben kann man eigentlich nicht sprechen, Glauben lässt sich nicht anmachen wie ein Licht. Karl Barth meint, dass Glauben ein unendlicher Prozess ist, bei dem immer eine Position die nächste verlangt und dadurch immer sogleich selber aufgelöst wird – und das geht in Sekundenschnelle. Über eine Sekunde des Glaubens zu sprechen als etwas Existierendes, das ist, wie wenn man einen Vogel im Flug abbildet, doch dann hat man nichts vom Fliegen. Vor 15 Jahren habe ich einen Vers gedichtet: „Ich bin an den Sonntag gebunden / wie an eine Melodie / Ich habe keine andere gefunden / Ich glaube nichts / aber ich knie.“ Das ist es.
Hat das Leben einen Sinn?
Von selber nicht. Es ist mit uns auf dieser Erde entstanden, dass wir Sinn brauchen, also machen wir Sinn, und dieser wächst in den Seelen. Für mich ist Sinn immer etwas auf den Augenblick Beschränktes. Lebendig zu sein ist der einzige Sinn, den es geben kann.
Muss man den Tod fürchten?
Tod ist abstrakt. Aber sterben, das steht mir bevor. Nach allem, was ich aus Erfahrung mit mir selber weiß, kann ich sagen, dass ich jetzt keine Ahnung habe, wie ich mich fühlen und benehmen werde, wenn ich weiß: Jetzt ist es so weit. Das Sterben ist nicht vorweg empfindbar. Das ist ein Ernst, der ist dann einmalig. Die Todesnachrichten um mich herum nehmen unglaublich zu, und dann weiß ich: Der ist gestorben und die ist gestorben – die haben es geschafft, dann musst du es auch schaffen. Im Augenblick tut mir überhaupt nichts weh, aber wenn es einmal ganz schlimm wird, dann gehe ich in die Schweiz zu „Exit“ und lasse mir einen anständigen Tod servieren. Das ist das Recht eines jeden. Unsere gesellschaftliche Einschätzung vom Sich-selber-Töten halte ich für mittelalterlich. Ein Mensch muss das selber entscheiden können, und wenn er das noch so blöde und grotesk macht.
Welche Liebe macht Sie glücklich?
Die Liebe – es gibt keine verschiedenen Arten von Liebe. Ich halte mich im Augenblick an Percy, der hat ja noch ein Gegenteil in einem Menschen, der am gleichen Tag geboren ist, und dessen erstes Gebot lautet: „Hasse deinen Nächsten statt dich selbst.“ Und Percy sagt: „Lieben, bevor du geliebt wirst. Und lieben, nachdem du geliebt worden bist.“ Wem das fremd ist, ist es fremd. Und wem nicht, der erlebt das andauernd, und zwar überall, an jedem Ort, in jeder Wirtschaft, in jedem Eisenbahnabteil. Das ist ein anderes In-der-Welt-Sein – liebend in der Welt zu sein.