Die Sperrzone. Weiß noch jemand, was das war? Ein Streifen an der DDR-Grenze zum Westen, fünf Kilometer breit. Stacheldraht, Hundelaufanlagen, Wachtürme immer in Sichtweite. Wer dort lebte, wie Friedemann Goßlau, der durfte keinen Besuch bekommen von der Schwägerin aus Bielefeld, der durfte überhaupt nur genehmigten Besuch bekommen. Unzuverlässige Bewohner mussten wegziehen. „Aktion Ungeziefer“ hieß die erste Umsiedlungsaktion 1952. Die zweite von 1961 trug einen schöneren Namen: „Aktion Kornblume“.
Goßlau, damals vor 50 Jahren ein hochgewachsener Mann von 32 Jahren, lebte in Wanzer, einem Dorf in der Altmark, keine drei Kilometer vom Westen entfernt. Sein Gegenspieler: Werner Barm. Er war der Kreisratsvorsitzende in Seehausen und Osterburg, nur zwei Jahre älter, promoviert und schon oben auf der SED-Karriereleiter. Er war zuständig für die Zwangsumsiedlungen und Einschüchterungsversuche, und er tat, was man tun muss, als Funktionär und Kader. In Berlin wurde eine Mauer mitten durch die Stadt gebaut – am 13. August 1961. Als hoher SED-Funktionär hielt Werner Barm die Sperrzone in der Altmark ruhig und siedelte Bürger, die Unruhe stifteten, ins Hinterland der DDR um. Für Pfarrer Goßlau verkörperte Barm das Unrechtsregime in der DDR. Barm war der ranghöchste SED-Funktionär im Landkreis. Er hatte Ende der fünfziger Jahre die Zwangskollektivierung der Bauern im Landkreis Havelberg vorangetrieben. Viele Bauern hassten ihn dafür.
Der Pfarrer und seine Frau mussten mit ihrer Ausweisung rechnen
Barm sorgte dafür, dass die politisch Unangepassten in den Kreisen Seehausen und Osterburg aus der Sperrzone gebracht wurden – in einer Nacht- und Nebelaktion. Früh morgens fuhr der Umzugswagen vor. Die überraschte Familie musste sofort alles Hab und Gut packen, um ins Hinterland der DDR zu ziehen. Und Barm schüchterte Bürger ein, wenn sie nicht zur Wahl gingen. Bei einer Veranstaltung für kirchliche Mitarbeiter sind sich Barm und Goßlau damals begegnet, wenige Tage vor den DDR-Kommunalwahlen am 17. September – vor 50 Jahren. Barm hatte alle kirchlichen Mitarbeiter im Landkreis zu sich geordert, in die HO-Gaststätte „Goldener Stern“ von Seehausen. Auch Goßlau war da. Ihm fiel Barms schnörkellose Art zu reden auf. Goßlau kann sich auch an einige Sätze Barms erinnern: „Wer nicht zur Kommunalwahl geht, ist in der Sperrzone nicht tragbar.“ Goßlau fragte nach, was das heiße: nicht tragbar. Da sei ihm Barm ins Wort gefallen: „Wer nicht zur Wahl geht, muss mit seiner Ausweisung rechnen.“ Barm erinnert sich heute nicht mehr an die Begegnung.
Der Pfarrer und seine Frau wollten nicht durch ihre Stimmabgabe eine unfreie Wahl legitimieren, obwohl sie mit ihrer Ausweisung rechnen mussten. Die Goßlaus begannen, private Unterlagen zu verbrennen. Post von Freunden, Bekannten und auch von alten Liebschaften. Predigten, sogar alte Schulbücher und Landkarten gingen in Flammen auf. Regimekritisches war nicht darunter. Sie wollten verhindern, dass Stasimitarbeiter bei ihrer Ausweisung in den Privatsachen herumwühlten. Am Morgen des 17. September fuhr ein Lautsprecherauto durch das Dorf Wanzer. Alle Bürger wurden aufgerufen, bis 9 Uhr wählen zu gehen. Friedemann Goßlau war übel. Bis zum Mittag habe er sich dreimal übergeben müssen, berichtet er. Aber er blieb standhaft. Er ging nicht zur Wahl. Womit sie nicht gerechnet hatten: Goßlau und seine Frau durften in der Sperrzone bleiben.
Ein Blick in alte Stasiakten
Nach der Wende wollte Goßlau wissen, was damals vorgefallen war. Er recherchierte in alten Stasiakten und fand heraus: Tatsächlich hatte die Staatsmacht zeitweilig vor, ihn und seine Frau auszuweisen. 2010 stieß er auf ein Buch über das Sperrgebiet von Dr. Werner Barm, dem Kreisratsvorsitzenden aus der HO-Gaststätte. Auch Barm erwähnt den Namen Goßlau in Zusammenhang mit den Ausweisungen. Goßlau recherchiert. Er findet heraus, wo Barm heute wohnt. Er ruft ihn an. Er will ihn wiedersehen und mit ihm über die Zeit damals sprechen. Er will wissen, wie Barm diese Zeit heute aus der Distanz sieht, ob er zur Einsicht bereit ist. Vereinbarter Treffpunkt: Remagen am Rhein, südlich von Bonn.
Was fragt man jemanden, dessen Anweisungen und Schikanen man vor einem halben Jahrhundert ausgesetzt war, ohne sich wehren zu können? Goßlau überlegt. Vielleicht dies: warum Barm überhaupt eine Karriere in der SED beginnen konnte. Es war von Anfang an zu erkennen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Oder warum sich DDR-Funktionäre anmaßten, ihre Bürger zu erziehen. Ein Volkspolizist hat Goßlau davon abgeraten, seine Verlobte Ute Hartmann aus Bielefeld zu heiraten, eine Frau aus dem Westen. „Ist doch irre“, sagt Goßlau, „stellen Sie sich mal vor, ein Polizist würde Ihnen heute sagen: Heiraten Sie eine andere Frau.“
"Ick versteh die Welt nicht mehr"
Goßlau stützt sich auf einen Gehstock. Sein Gang ist wackelig. Er quält sich die Stufen zum vereinbarten Treffpunkt hoch. Oben auf dem Balkon steht ein älterer Herr. Er winkt. Ein Herr im schwarzen Anzug mit dezentem Schlips, am Revers ein schwarz-goldenes Abzeichen vom Zürich-Club. Ein gebräuntes und gepflegtes Gesicht, das graue Haar ordentlich gestutzt, wache Augen. Seine 84 Jahre sieht man Werner Barm nicht an. Aufrecht und ruhig steht er da, die Schultern hängen entspannt. Kaum erkennbar zupfen die Finger der rechten Hand nervös am Ärmelsaum.
Friedemann Goßlau wankt aus dem Fahrstuhl auf ihn zu. Der pensionierte Pfarrer im roten Pollunder ist einen Kopf größer als Barm. Er hat sich vorher überlegt: Wie nehmen das die Leute in der Altmark auf, wenn er Barm die Hand reicht? Der 80-jährige Landwirt aus Pollitz würde bestimmt sagen: „Ick versteh die Welt nicht mehr.“ Bauernschinder – so nennt der Landwirt noch heute den Exkreisratsvorsitzenden. Weil er ihm seinen Hof nahm und ihn zum Angestellten in einer Produktionsgenossenschaft machte.
Keine feierliche Begrüßung
Jetzt stehen die beiden älteren Herren im Gedränge vorm Fahrstuhl. Keine feierliche Begrüßung, keine Anklagen. Stattdessen ein geschäftiges Menschengewühl in einem postmodern aufgemöbelten Empire-Restaurant. „Sie haben reserviert?“, fragt die Bedienung. Schon geht es zu dem Tisch mit dem silbern glänzenden Besteck und den hochgestellten Servietten. Barm und Goßlau sitzen sich schräg gegenüber. Barm lehnt sich zurück, seine Hände sind über der Tischkante ineinandergelegt. Mit dezenten Gesten unterstreicht er seine Worte. Er ist im freien Vortrag geübt. Wenn er ausschweift, redet er, als hätte er alles schon sehr oft gesagt.
Werner Barm kann sich an vieles aus seiner achtjährigen Dienstzeit als Kreisratsvorsitzender von Seehausen und Osterburg erinnern. Aber er erzählt nicht von Bauern, deren Hass er auf sich gezogen hat. Stattdessen erinnert er sich an Einladungen zu fröhlichen Hoffesten bei der Vorzeigegenossenschaft aus seinem Landkreis. Er zeigt einen Zeitungsartikel über sich, wie er in Gollensdorf, dem „ersten vollgenossenschaftlichen Dorf“, eine Urkunde überreicht – an Bauern, die ihren Privatbesitz an eine Genossenschaft abtreten mussten. „Wer wird Gollensdorf folgen?“, lautet der Titel. Wer da noch nicht zwangskollektiviert war, wird dies wie eine Drohung gelesen haben.
Im schnieken Westanzug im Westfernsehen
Goßlau stützt seine Ellbogen auf den Tisch und legt die Wangen in seine großen Hände. Er weiß, dass Barm schon wenige Jahre nach ihrer Begegnung aus der DDR geflohen ist – über die Grenze, die er zuvor selbst dichtmachen ließ. Es war am 12. August 1969, dem Vorabend zum achten Jahrestag des Mauerbaus. Der Kreisratsvorsitzende Barm hatte sich bei den Grenzsoldaten zum Angeln im Flüsschen Aland angemeldet. Als hoher SED-Funktionär gelangt er ungehindert mit seinem Skoda bis an die letzte Sperranlage. Er hält nach Wachsoldaten Ausschau. Keiner da. Unauffällig zieht er eine Aktentasche aus dem Wagen, lässt seine Anglerausrüstung fallen und läuft. Stolpert über die erste Rolle Stacheldraht, über die zweite. Ein Angler im Westen beobachtet ihn. Barm läuft und läuft und lässt sich erschöpft unter einer Weide im Westen niedersinken. Erst 30 Stunden später wird seine Flucht im Osten bemerkt.
Es mutet paradox an: Barm wird zum Kronzeugen gegen die Ost- und Entspannungspolitik der SPD. Westfernsehen, -radio und -zeitungen berichten erregt. Der Verleger Axel Springer räumt dem Überläufer eine Seite in der Tageszeitung „Die Welt“ ein – jedes Thema, jede Länge, jederzeit, üppiges Honorar. Barm schreibt sein Buch über die Sperrzone: „Achtung Sperrgebiet! Insider-Report: Staatsterror an der ‚Staatsgrenze West‘, Zwangsaussiedlung, Internierungslager, Stasi-Überwachung, ‚Schwarze Listen‘“. Friedemann Goßlau sieht eines Abends mit seiner Frau Ute den SED-Mann Barm in der Glotze – in einer Talkshow mit Kanzleramtschef Horst Ehmke. Und er denkt: Das kann doch nicht wahr sein, dieser Hundertfünfzigprozentige! Und jetzt zeigt er sich im schnieken Westanzug im Westfernsehen!
Er betont andere Wendepunkte seiner Biografie
Goßlau blickt über den Tisch zum früheren Kreisratsvorsitzenden. „Warum haben Sie sich überhaupt dafür entschieden, als Funktionär für die DDR tätig zu werden?“, fragt er. „Ich habe mich nicht entschieden“, sagt Barm. „Ich bin entschieden worden.“
Damals, nach seiner Flucht in den Westen, als Barm mit der DDR hart abrechnete, betonte er stets, wie nah er dem Machtzentrum des SED-Apparats stand. Diese Nähe machte ihn als Kronzeugen interessant. Doch nach dem Fall der Mauer 1989 wurden die Stasiarchive geöffnet. Man braucht keine Kronzeugen aus dem Innern des SED-Machtapparates mehr, um zu erfahren, wie es dort ausgesehen hat.
Seither betont er andere Wendepunkte seiner Biografie. Diejenigen, die belegen, dass er mit der Partei zeitweilig über Kreuz lag. Und die zeigen, dass ihn die Partei drängte, im Amt zu bleiben – obwohl er am Anfang seiner Karriere eine oppositionelle Druckschrift genehmigt hatte; obwohl er in Nachterstedt bei der Wahl zum ersten Parteisekretär der Sozialistischen Einheitspartei als SPD-Kandidat gegen einen Kommunisten angetreten war; obwohl er gegen seine Ernennung zum Kreisratsvorsitzenden im ländlichen Seehausen protestiert hatte und so weiter.
"Sie hatten es leichter"
„Sie waren aber doch ein Parteifunktionär der SED. Waren Sie da manchmal innerlich gespalten?“, fragt Goßlau. – „Das war jeder“, sagt Barm. „Drehen wir die Zeit 50 Jahre zurück“, sagt Friedemann Goßlau. „Und ich schlage Ihnen vor: Werden Sie Pfarrer. Ich habe drei Fälle erlebt, die wurden vom Staat kaputtgemacht, die sind dann ins Pfarramt gegangen.“ „Ich bin ein Analysator“, sagt Barm. „Das System der DDR ging immer weiter bergab. Ich hatte eine bestimmte Zahl im Kopf, ab wann alles zusammenbricht. Ich wollte wirklich raus aus der Parteiarbeit.“
Die Männer lassen ihr Leben Revue passieren. Das Kriegsende, die Anfangsjahre in der DDR: Barm kam kriegsversehrt nach Aschersleben. Er hatte niemanden und geriet über eine Anstellung beim SPD-Oberbürgermeister in die Politik. Goßlau studierte in der Schweiz und kehrte in die DDR zurück, just als dort die Reisefreiheit eingeschränkt wurde. Und sie erzählen von der gemeinsamen Zeit in der Altmark. Goßlau fragt nach, wen Barm alles gekannt haben könnte. Die Männer kommen ins Schwärmen, der Landrat über den Arbeitseinsatz bei der Trockenlegung der Wische. Und der Pfarrer über das naturbelassene Flüsschen Aland hinterm Pfarrhaus, in dem Aale schwammen; über den Pfarrgarten mit den 20 Apfelbäumen; über sein Motorrad, die AWO 250, mit der er im Herbst in Gummistiefeln über die verschlammten Wege schlidderte.
„Sie hatten es leichter“, sagt Barm. „Ich bin auf der Seite der Schlimmen gewesen, und nie auf der Seite der Guten. Sie konnten denken und sagen, was Sie wollten, ich konnte es nicht.“ – „Na ja“, sagt Goßlau spöttisch. Nach seiner Erinnerung war doch einiges andersherum. Beim Abschied wirkt Friedemann Goßlau gelöst. Er hat Barm eigentlich alles Wichtige gesagt, was er loswerden wollte. „Rufen Sie mich an“, sagt Barm vergnügt. „Dann können Sie mich wieder beschimpfen.“ Er lacht.