Fotograf: Michael Ondruch
Demokratie in der Kirche
Lässt sich Religion demokratisch organisieren? „Man lasse die Geister aufeinanderplatzen“, riet noch Martin Luther. Zur Mündigkeit in der Kirche gehört auch die in der Politik
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
11.07.2011

Ob der Heilige Geist etwas mit Maria hatte, fragt der Junge. Eine Mutprobe. Die anderen Konfirmanden ­kichern. Der Pfarrer holt mit der flachen Hand aus, die Ohrfeige knallt. – Die Szene liegt bald ein halbes Jahrhundert zurück. Der Junge von damals versteht bis heute nicht, warum diese harmlose Frage den Pfarrer zu der Gewalttat provoziert hat. Christen, die mitdenken und mitgestalten, wachsen so jedenfalls nicht heran.

Passen Religion und Mündigkeit zusammen? Lässt sich Religion überhaupt demokratisch organisieren? Der römische Politiker und Philosoph Cicero (106 bis 43 v. Chr.) leitete das Wort Religion von „relegere“ ab, von „aufmerksam befolgen, gewissenhaft beachten“. Für ihn war Religion der gute Kult der Vorväter, den es zu erhalten gilt. Traditionspflege aber lässt sich nicht demokratisch organisieren. Über die Einhaltung überlieferter Riten und Dogmen kann man nicht abstimmen.

Wenn sich jeder Christ ein eigenes Urteil bildet, kommt Gottes Wahrheit ans Licht

Viele Christen verstehen ihren Glauben jedoch anders. Für sie ist mit Jesus Christus etwas völlig Neues in die Welt gekommen. Der christliche Rhetoriker Laktanz (circa 250 bis 320 n. Chr.) deutete das Wort Re­ligion daher um. Es stamme vom lateinischen Begriff „re-ligare“ und bedeute „wieder verbinden“. Religion sei eine ­erneuerte Verbindung mit Gott. Für die Verbindung mit Gott komme nicht der Priester, sondern nur Christus selbst infrage, sagten die Reformatoren im 16. Jahrhundert. In religiösen Fragen sei daher ­jeder getaufte Christ mündig.

Die Reformatoren waren überzeugt: Wenn sich jeder Christ ein eigenes Urteil darüber bilde, was die Bibel ihm zu sagen habe, werde die eine Wahrheit Gottes ans Licht gebracht. Doch ihre Anhänger spalteten sich in unterschiedliche Konfessionen auf. Martin Luther hatte noch einer Art freiem Austausch der Glaubensgewissheiten das Wort geredet: „Man lasse die Geister aufeinanderplatzen... Die Fäuste haltet still.“ Dennoch vergingen Jahrhunderte, bis Protestanten tatsächlich Toleranz lernten. Zwar herrschte innerhalb jeder Konfession weitgehend Einigkeit darüber, welche Grundwahrheiten zum christlichen Glauben gehören. Doch mussten auch hier Entscheidungen getroffen werden, die mit dem Glauben zu tun hatten.

Bis 1848 kämpften auch viele Theologen für die Demokratie

Protestanten, die sich auf den Genfer Reformator Johannes Calvin beriefen, unterschieden drei Formen der Kirchenregierung: Episkopalisten überließen dem Fürsten die Rolle des Bischofs, er wachte über die „reine Lehre“. Presbyterianer wählten hierfür Gemeindeführer, die ­wiederum ein Kirchenparlament wählten, eine Synode. Bei Kongregationalisten entschieden Gemeinden autonom über ihre eigenen Belange, meist über gewählte Gemeinderäte.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts forderten Puritaner die englische Kirche zu weitreichenden Reformen auf. Sie kamen damit nicht durch und wichen nach Neuengland aus. Dort war der König, das englische Kirchenoberhaupt, weit weg. Nun fragten sie sich, wie die Mündigkeit der Christen in ihrem neuen Gemeinwesen Gestalt annehmen könne. 1639 schrieb der puritanische Prediger Thomas Hooker im heutigen US-Staat Connecticut die „Fundamental Orders“ – das älteste demokratische Verfassungsdokument. Sein Demokratieverständnis ist nach heutigen Maßstäben zwar unterentwickelt. Doch schon für ­Hooker lag die Staatsgewalt in der freien Zustimmung des Gottesvolks, das seine Magistrate selbst wählen solle; Gott herrsche dadurch, dass Christen frei wählen. Mit den „Fundamental Orders“ beginnt die Geschichte der modernen ­Demokratie.

Bis zur 1848er-Revolution kämpfen auch in Deutschland viele Theologen für die Demokratie. Doch dann folgte eine Phase der Restauration. Lutheraner beriefen sich zunehmend auf die sogenannte Zwei-Reiche-Lehre. Glaube sei Privatsache, hieß es irgendwann, Glaube und Politik seien strikt zu trennen. Ein Jahrhundert lang unterstützten Lutheraner den Obrigkeitsstaat und pflegten antidemokratische Reflexe. Bis in die frühe Bundesrepublik Deutschland war vielen Gehorsam wichtiger als Mündigkeit. Davon sind sie heute weit ­entfernt. Aber Protestanten könnten sich ruhig wieder an die Spitze der Demokratiebewegungen stellen.

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