Das kann doch ein Anfang sein: etwas eingestehen, Abbitte leisten. Bei mir ist das mal ganz schiefgegangen. Da war ich wohl so sechs Jahre alt, mit dem Nachbarsjungen habe ich damals oft gespielt. Dessen Familie hatte ein Kindermädchen, das mochte niemand. Sie war groß und ältlich und furchteinflößend. Und eines Tages bestand mein Vater ganz milde, wie es seine Art war, darauf, dass ich mich bei dem Kindermädchen entschuldigen sollte. Die hatte sich bitter beschwert, dass ich ihr einen üblen Streich gespielt hätte, das könne sie nicht durchgehen lassen. Aber ich war das gar nicht gewesen, sicher nicht, ich weiß bis heute nicht, was für ein Streich das hätte sein sollen. Vielleicht war der Nachbarsjunge das selbst gewesen und hatte in seiner Kindesnot mich angeschwärzt. Aber alle glaubten nicht mir, sondern dem Kindermädchen. Lügen wollte ich nicht, keinesfalls, wenn mir schon keiner glaubte. Da bin ich denn zum Nachbarhaus hin, habe geklingelt, stand dem breiten, großen Kindermädchen gegenüber und habe gesagt, es täte mir leid, wenn ich etwas falsch gemacht hätte. Sie hat das akzeptiert, ich habe mich umgedreht, bin gegangen, und ich war empört.
Ich spüre diese Empörung noch heute, anders, freundlich, aber ich spüre sie noch. Da hatte ich mich irgendwie herausgewunden, nicht gelogen, nichts eingestanden, aber ich hatte mich nicht genug gewehrt, ich hatte mich ja doch unterworfen, und vor allem, ich war nicht wirklich wahrhaftig gewesen. Seither habe ich ein besonderes Verhältnis zu Entschuldigungen. Ich bin empfindlich geworden gegenüber Tricksereien, gegenüber diesem Sichherauswinden, zu dem ich damals in der Schwäche des Kindes gegriffen hatte, halb unbewusst, empfindlich geworden gegenüber dem Missbrauch der Entschuldigung.
Wer Verzeiung erbittet, gibt sich in die Hand des anderen
Verzeihung zu erlangen oder zu gewähren ist eine großartige Sache. Entschuldigen, von der Schuld frei werden, von großer und von kleiner, sich der Schuld entledigen. Dazu gehören zwei. Und dazu gehört Wahrheit. Es muss einen geben, der schuldig ist, und einen, der von der Schuld freispricht. Diese Beziehung erlebt auch der, der darum ringt, sich selbst zu verzeihen.
Es ist viel um Verzeihung gebeten worden in letzter Zeit. Bischof Mixa hat um Verzeihung gebeten, dass er vielen Menschen Kummer bereitet habe, und er hat dann den Papst um Entbindung von seinen Ämtern als Augsburger Ortsbischof und als Militärbischof gebeten. Gerold Becker, der frühere Leiter der Odenwaldschule, hat um Entschuldigung gebeten für sexuelle Übergriffe an Internatsschülern. Und auch der junge Mann, der vor Jahren in meiner eigenen evangelischen Kirchengemeinde die Orgel gespielt hat, hat um Entschuldigung gebeten, als er zum wiederholten Male wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht stand. Über all diese Entschuldigungen ist viel Häme ausgegossen worden. Aber man muss sehen, was für ein schwerwiegender Schritt eine solche Bitte ist, wie viel Selbstüberwindung sie kostet, wie viel positive Veränderung der eigenen Persönlichkeit mit ihr verbunden ist. Jetzt ist öffentlich gemacht, dass man selbst ganz konkret fehlbar ist und falsch gehandelt hat. Wer um Verzeihung bittet, gibt sich in die Hand des anderen. Das sollte nicht gering geschätzt werden.
Reue mildert die Strafe
Um Verzeihung bitten kann auch der Abwehr dienen. Da will man dann einfach nur seine Ruhe haben. So wie ich damals als Kind. Aber es kann auch Strategie für echte Täter sein. Dann macht man sich sozusagen unangreifbar. Man habe ja alles eingesehen, eingestanden, Vorwürfe gehen dann ins Leere. Das dient der Milderung der Folgen, das ist Schadensbegrenzung, und das ist Lüge. Vor unseren Gerichten ist das ein probates Mittel, die Strafe möglichst gering zu halten. Wenn man sowieso überführt ist, wenn alles Leugnen nicht hilft, dann versuchen Täter oft, sich reuig zu zeigen. Es stimmt schon: Wer um Verzeihung bittet, verringert schon ein Stück weit seine Schuld und damit die Strafe. Wer Reue zeigt, von dem lässt sich eher erwarten, dass er keine Straftaten mehr begehen wird, auch das mildert die Strafe. Und wer sich bemüht, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, kann ebenfalls auf mildere Strafe hoffen.
Aber wirkliches Verzeihen setzt echte Reue voraus, ehrliches Bedauern über das, was man getan hat. Und es setzt den Willen voraus, so nicht wieder zu handeln. Verzeihen ist ein komplexes Geschehen - und nicht leicht zu haben. In unserem Recht spiegelt sich das. Die Reue muss glaubhaft sein, sie muss verlässliche Grundlage sein, so nicht wieder schuldig zu werden.
Verzeihen können: das ist die eigentliche Kunst. Verzeihen entlastet. Verzeihen macht frei, frei von der Schuld der anderen, frei von der Last, anderen deren Schuld nachtragen zu müssen. Wer verzeihen kann, wird nicht mehr beherrscht von der Tat des anderen. Wer verzeiht, ist frei für Neues. Verzeihen heißt nicht gutheißen. Im Gegenteil, wer verzeiht, benennt das Unrecht, macht es gerade deutlich, und im Verzeihen wird dieses Unrecht überwunden. Dann zeigt sich, dass es Größeres gibt als das Unrecht, dann hat das Unrecht keinen Raum mehr. Wenn das gelingt, können Menschen sich wirklich versöhnen.
Oft tragen Institutionen Verantwortung für die Schuld von Menschen, die in ihnen tätig sind. Dann ist es gut, wenn diese Institutionen, wenn Staaten, die Kirche, eine Schule um Verzeihung bitten. Gewiss, Entschuldigung setzt Schuld voraus und Schuld ist höchstpersönlich. Aber in einem übertragenen Sinne gibt es auch von Institutionen die Bitte um Entschuldigung. Wenn die Vertreter von Staaten um Entschuldigung bitten, akzeptieren sie für den Staat Verantwortung. Wenn die Kirche um Verzeihung bittet, erkennt sie an, dass Menschen in ihr und oft genug gestützt durch ihre Strukturen Schuld auf sich geladen haben, für die sie, die Kirche, Verantwortung trägt. Das kann den Menschen helfen, die verletzt, gedemütigt, getroffen sind. Aber all das nutzt nichts, wenn nicht wirklich Vorsorge getroffen wird, wenn nicht wirklich Strukturen verändert werden, damit sich das Unrecht nicht wiederholt. Auf schöne Worte kommt es nicht an, nur auf den wirklichen Neuanfang.
Eine der großartigen Seiten unseres Rechts ist, dass es das Verzeihen kennt, ja nahelegt. Zugleich aber richtet es Barrieren auf gegen das Verzeihen-Können. Verzeihen hat in unserem Recht seinen Ort bei der Zumessung von Strafe und in der so oft gescholtenen Verjährung. Was verjährt ist, kann nicht mehr bestraft werden. Es soll einmal Schluss sein mit dem Immer-weiter-Wühlen, dem Nachtragen, dem Nicht-vergessen-Können, dem Nicht-verzeihen-Können. Auch Verjährung ermöglicht Neuanfang, Neuanfang für den Täter und Neuanfang für das Opfer.
Es ist gut, dass die meisten Straftaten verjähren. Aber es ist eben auch wichtig, dass die böse Tat verfolgt, dass das Unrecht gesühnt wird. Wer als Kind missbraucht worden ist, trägt diese Last oft ein Leben lang mit sich. Als Kind kann man sich nicht wehren, und wenn man es als Erwachsener kann, ist es oft zu spät, dann ist die Tat verjährt. Bei manchen Missbrauchsdelikten beginnt die Verjährung erst, wenn das Opfer achtzehn Jahre alt geworden ist, aber dann läuft sie rasch ab, und für viele Opfer ist es in diesem Alter noch zu früh, das Geschehen wirklich zu verarbeiten. Verjährungsfristen müssen immer wieder neu überdacht, immer wieder neu angepasst werden. Es gilt immer wieder zu prüfen, ob sie verlängert werden müssen, weil Opfer sonst keine Chance haben, zu ihrem Recht zu kommen, Entschädigungen zu verlangen oder ihr Unrecht gesühnt zu sehen, besonders aber, weil für den Prozess des Verzeihens nicht genügend Raum ist.
In unserem Strafrecht sind die Verjährungsfristen zu starr und unübersichtlich. In seiner Ungelenkigkeit verdunkelt unser Verjährungsrecht den Sinn des Verzeihens. Es nimmt zu wenig Rücksicht auf die Opfer, nicht nur bei Missbrauchsdelikten, auch bei anderen Straftaten, die den Kern der Persönlichkeit treffen und verletzen können. Es geht zu sehr nur darum, Schluss zu machen, Ruhe zu haben.
Hier heißt es umzudenken: Die Lage des Opfers muss mitentscheidend sein dafür, wann Verjährung eintritt.