Reklamation! Warum auch begabte Kunden irgendwann an ihre Grenzen kommen
Lena Uphoff
29.12.2010

Kaufen ist wichtig, damit die Konjunktur wieder läuft. Das Problem ist nur – es macht keinen Spaß mehr. Neulich zum Beispiel. Da war ein Paar Kinderschuhe fällig. Wir haben uns für die Hausmarke einer großen Kette entschieden, sportlicher Jungsschuh für knappe vierzig Euro. Nick hat die nur dreimal getragen. Weil nämlich sofort der Klettverschluss gerissen ist. Ich habe die Schuhe zurückgebracht, und man hat sie eingeschickt zum ­Nä­hen. Ist ja an sich sinnvoll. Ich habe aber gleich gesehen, dass das nicht funktionieren wird. Hat es auch nicht. Also wieder ins Geschäft. Geld zurück.


Ich meine, mich zu erinnern, dass der Klettverschluss, den es seit den Fünfzigern gibt, unter anderem in der Raumfahrt verwendet wird. Und nun stellen Sie sich vor, Neil Armstrong wäre auf dem Mond, beim Abstieg aus der Fähre, der Anzug gerissen. Dann hätte sich’s gehabt mit „ein kleiner Schritt für einen Menschen“ und so. Dann hätten wir als erstes Wort vom ersten Menschen da oben ein sattes „Fuck!“ gehört.

Ein besonders kritischer Kunde war ich eigentlich nie. Überall, wo gearbeitet wird, selbst in der Raumfahrt, gibt es einen ge­wissen Prozentsatz an Murks. Mit gelegentlichen Fehlkäufen ist also zu rechnen. Und ich gehe davon aus, dass ein Kinderschuh für vierzig Euro eine kürzere Halbwertzeit hat als einer für achtzig. Aber ich kann mich nicht recht daran gewöhnen, dass mir sämtliche Konsumgüter, die der Exportweltmeister und Qualitätsstandardsetzer Deutschland heutzutage so auf den Markt wirft, praktisch unter den Händen zerbröseln.

Bei unserem Auto, ein Jahr alt, fallen jetzt schon kleine Teile ab – das Lämpchen an der Innentür (das es früher nicht gab) zum Beispiel. Und dann lag da letzte Woche so ein graues Plastikding am Boden, das ich partout nicht mehr zuordnen kann, ich hoffe, es war nichts Wichtiges. Die neue Fahrradlampe, ein ganz raffiniertes Ding, hat sich gar nicht erst montieren lassen. Und bei Taschen habe ich in einem kostspieligen Reihenversuch eine universelle Sollbruchstelle ausgemacht: Da lösen sich immer die Lederflicken ab, mit denen die Schulterriemen befestigt sind.

Anspruchsdenken? Nein. Es ist ein Akt der Notwehr. Eine Revolte

Dabei scheint es inzwischen sogar egal zu sein, ob man günstig oder exklusiv shoppt. Eine Bekannte hat mir erzählt, wie sie versuchte, eine 300-Euro-Geldbörse von einem Luxushersteller umzutauschen, bei der nach einer Woche der Druckknopf den Dienst quittiert hatte. Im Geschäft hieß es: „Sind Sie eigentlich in unserer Kundenkartei?“ Und dann: „Ich glaube, das ist nicht die richtige Geldbörse für Sie.“ Aber mir ist an diesem Fall klarge­worden, dass sich im Kapitalismus, von dem es mal hieß, er sei wie keine andere Gesellschaftsform geeignet, die Bedürfnisse der Massen zu befriedigen, inzwischen die Verhältnisse umgekehrt haben: Nicht der Konsument hat Ansprüche an die Ware zu stellen – die Ware beansprucht den Konsumenten.

Wobei das Wort Konsument ohnehin ein Missverständnis ist. Viel zu passiv gedacht. Sie müssen verstehen, dass Sie eine Be­ziehung eingehen. Und die kann fürchterlich kompliziert sein. Ein Baby dürfen Sie nach der Entbindung einfach mit nach Hause nehmen. Aber ein Kaffeeautomat oder eine Spülmaschine werden mit 40-seitigen Bedienungsanleitungen ausgeliefert. Sie, der Kunde, sind gehalten, sich zu informieren und an der Ware zu wachsen. Die Soziologie hat das schon vor zehn oder fünfzehn Jahren gemerkt. Das Ideal unserer Wirtschaft ist „Der arbeitende Kunde“, so ein Klassiker zum Thema, der beschreibt, wie Konsumenten zu „unbezahlten Mitarbeitern“ der produzierenden, handelnden und übrigens auch dienstleistenden Unternehmen werden. Die Angelsachsen haben in diesem Zusammenhang den Begriff des „pro­sumers“ geprägt: Das Wort beschreibt einen Kunden, der gleichzeitig Verbraucher und Produzent eines Gutes ist.

Angefangen hat das alles mit dem Kaufhaus und dem Supermarkt. Dann kam Ikea, die Kultur der Selbstabholer und des Inbusschlüssels. Mit dem E-Business hat die Entwicklung schließlich eine neue Qualität angenommen. Überlegen Sie mal, welche Tätigkeiten Sie heute beherrschen, die Sie nie gelernt haben. Sie erstellen vergleichende Preisstudien, checken Kundenbewertungen im Internet, machen sich zum Fachmann in Fragen der Elektronik, der Lebensmittelherstellung, der Wasser- und Stromversorgung. Sie führen Ihr Konto selbst, organisieren Ihre Mobilität – bis hin zum Ausdrucken des Tickets – und Ihre Telefonie, bestellen Waren, die Sie dann eigenhändig an der Packstation abholen. Sie drucken Ihre Fotos, layouten Vorträge und Bücher, verlegen Leitungen, pflegen Ihren Induktionsherd und konfigurieren Ihren Laptop. Plug & Play? Play! Fahr hoch, verdammt noch mal!
Wer so viel Aufwand betreiben muss, um Dinge des persönlichen Gebrauchs überhaupt erst in Gebrauch zu nehmen, hat irgendwann natürlich keine Geduld mehr übrig. Schlaue Branchen haben begriffen, dass Reklamation und Umtausch (sogar ohne Bon) heute zum Kaufvorgang gehören wie das Bezahlen. Andere machen es ihren Kunden schwer – das Reklamations-Lamento im Internet hat sich zu einer eigenständigen Literaturgattung entfaltet.


Was mich betrifft: Ich rechne nicht mehr damit, dass ich etwas, das ich kaufe, auch wirklich behalten werde. Bestimmt hat man mir wieder was untergeschoben, ist irgendwo ein Haken an der Sache. Ich bewahre sämtliche Kassenzettel auf, und ich nehme automatisch jeden Extragarantievertrag, der mir unter die Nase gehalten wird. Manchmal habe ich Erfolgserlebnisse. Zum Beispiel ist es mir gelungen, aus einem Handyvertrag rauszukommen, den man mir aufgedrängt hatte. Ich musste zwar nach zweimonatigen fernmündlichen Verhandlungen drohen, sie müssten mich jetzt aus dem Laden tragen, wenn das nicht sofort storniert werde. Hat aber geklappt. Haben Sie schon mal einen Handyvertrag storniert bekommen? Von einer Minute auf die andere?

Genervte und überforderte Profikäufer reagiere - das sind, liebe Unternehmen -  ihre eigenen Leute

So etwas befeuert mich. Und dann kann es passieren, dass ich in einen regelrechten Reklamationsflow gerate, dass ich anfange zu halluzinieren. Verehrter Herr Lehrer, nehmen Sie umgehend diese missratene Mathearbeit zurück – dass die Brüche dran­kommen würden, war nirgends ausgewiesen. Oder: Lieber Gott, wir möchten die Erde reklamieren – die mitgelieferte Aus­stattung entspricht nicht dem Standard, lassen Sie uns einen Planeten mit mehr Öl zukommen.

Mal abgesehen davon, dass der Anbieter im Fall „Erde“ wahrscheinlich sagen würde, der Schadensfall sei erst durch unsachgemäßen Gebrauch des Produkts eingetreten: So geht es natürlich nicht. Wir wissen alle, dass es Dinge gibt – Beziehungen, Kinder, Demokratie, Umwelt –, an denen es sich zu arbeiten lohnt. Der Schreibtischstuhl und das Handy gehören allerdings nicht dazu. Deshalb kann man in einem Reklamationsvorgang auch etwas anderes sehen als bloßes Anspruchsdenken. Nämlich einen Akt der Notwehr, eine Revolte. Der Tourist, der hundertfünfzig An­gebote gecheckt hat und, kaum aus dem Urlaub zurückgekehrt, Regress fordert, der Bankkunde, der bei einem namhaften Geldinstitut zwanzig Cent ungerechtfertigt abgebuchter Zinsen anmahnt, die Frau, die an der Supermarktkasse wegen eines Joghurts mit abgelaufenem Verfallsdatum rumschreit: das sind genervte, überforderte Profikäufer, das sind, liebe Unternehmen, Ihre eigenen Leute. In der Reklamation wird das Drama sichtbar, das sich im Untergrund der Konsumgesellschaft abspielt: Hier lehnen wir uns dagegen auf, dass man uns unserer letzten Freizeit beraubt, unsere privaten Bedürfnisse ausbeutet und uns unter der Hand zu unbezahlten Angestellten macht.

Jetzt sagen Sie nicht, das alles sei vom Kunden so gewollt. Man kann sich diesem System nicht verweigern – irgendwann werden Sie Ihre Regale nicht selbst einscannen dürfen, sondern müssen, und ich vermute, es wird mich niemand fragen, ob ich meine Steuererklärung wirklich elektronisch machen will. Das Einzige, was man tun kann, ist, den digitalen, sprechenden Turbokaffeeautomaten zurückzubringen und sich eine von diesen italienischen Espressokannen zu kaufen, die in vollendeter Schlichtheit Ge­nerationen überdauert haben. Solange es die noch gibt.

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