Ein schwülwarmer Abend, auf dem Balkon ein Mann, eine Frau, zwei Gläser Wein, eins rot, eins weiß. Es geht um Liebe.
Sie: Sag mal, ich weiß gar nicht, was du willst, wenn du mal wieder zu schnell Rad gefahren bist und mit kaputtem Kopf im Krankenhaus liegst.
Er: Ich will Schläuche! Alles, was nötig ist. Und immer die neuesten Apparate!
Sie: Echt? Ich nicht.
So wird das den ganzen Sommer und den ganzen Herbst gehen. Was wäre, wenn du im Koma lägest, wenn du dement wärst – was möchtest du dann?
Angefangen hat alles damit, dass die Kollegin den Kopf zur Bürotür reinsteckte: Ob ich vielleicht wisse, wie man eine Patientenverfügung macht? 36 ist sie und pumperlgesund, aber jüngst hat sie junge Witwen interviewt. „Da wurde mir klar, dass wir doch alle gleich nah am Tod sind, ob meine Eltern am Schlaganfall sterben oder ich vom Auto überfahren werde.“ Jetzt will sie ihr Testament schreiben und eine Patientenverfügung gleich noch dazu, denn bewusstlos der Krankenhausmaschinerie ausgeliefert sein – bloß nicht.
Die Sekretärin hört’s und sagt: „Ich will auch nicht ewig an Schläuchen hängen!“ Der Kollege raunzt im Vorbeigehen: „So ein Blödsinn, man weiß doch gar nicht, was man als Schwerstkranker mal will.“ Kurzum: Viele Fragen, und ich soll die alle mal klären. Es wird eine Erkundungsreise, auf der ich viel lerne – warum ich Schläuche mögen könnte oder wie sich ein Leben im Wachkoma wohl anfühlen könnte. Am Ende habe ich eine Patientenverfügung, in der sogar von Zwiebeln die Rede ist.
Warum ich so was brauche? Weil ich vielleicht einmal halbverloren zwischen Leben und Tod hänge und nichts mitteilen kann, weil also niemand weiß, welche Art von Behandlung ich wünsche, wie viele Schmerzen und Beeinträchtigungen ich wie lange ertragen möchte.
Dass ich in solch einen Zustand gerate, ist gar nicht so unwahrscheinlich. Denn „einfach so“ – an einem Herzinfarkt, einem Unfall, einem Schlaganfall – sterben in Deutschland nicht mehr allzu viele, sondern jeder Zweite stirbt im Krankenhaus. Die hochentwickelte Medizin rettet manche Menschen in einen Zustand hinein, in dem sie leben, sich aber nicht äußern können. Jetzt könnte man noch Lebenszeit rausschinden, aber die Behandlung wäre belastend, und das Weiterleben wird wohl ein eingeschränktes sein. Würde ich das als Chance sehen oder als Qual?
Der Klinikdirektor wäre froh über ein Formular, denn alle quälen sich mit der Entscheidung
„Wir haben gerade so einen Patienten auf der Intensiv, und wir wissen nicht, was er möchte“, sagt Michael Zenz, Direktor der Unikliniken für Anästhesiologie-, Intensiv-, Palliativ- und Schmerzmedizin in Bochum. Der Patient, vielfacher Fachbuchautor, Ende 70, hat durch eine Hirnblutung große Teile seines Gehirns verloren, vielleicht für immer. Eine Patientenverfügung hat er nicht. Wahrscheinlich hätte er geschrieben, dass er ohne seine intellektuellen Fähigkeiten nicht leben mag, vermutet Zenz. Aber er weiß es nicht. Die Angehörigen quälen sich mit der Entscheidung.
Der Klinikdirektor ist froh, wenn die Patienten das Formular ausfüllen, das seine Klinik anbietet. Die Fragen passen auf eine Seite. Am Anfang steht eine Richtungsentscheidung. Zwei Antworten stehen zur Auswahl: „Ich möchte so lange leben wie möglich; auch Leiden und Beschwerden ertrage ich, solange ich nur leben kann“ – das kreuzen nur wenige an. Die meisten, erzählt Zenz, entscheiden sich hierfür: „Ein langes Leben wünsche ich mir nur bei guter Lebensqualität; Leiden und Beschwerden ertrage ich nicht gern; ich bin auch nicht gern von anderen abhängig.“
Klar, ich will auch nur „bei guter Lebensqualität“ weiterleben, da mach ich mein Kreuzchen. Oh, da sind ja noch anderthalb Zeilen auszufüllen: „Gute Lebensqualität bedeutet für mich...“ Logisch, darunter versteht ja jeder was anderes. Ein Stichwort reiche ihm, sagt Michael Zenz. Manche schrieben da „Reisen“ oder „Kultur“ oder „Sport machen“ oder „Kommunikation“ oder „geistige Fähigkeiten“.
Schreib ich halt: „Wenn ich nicht mehr Fahrrad fahren, lesen und reden kann, will ich nicht mehr leben.“ Bis mir auffällt, dass das bescheuert ist, denn dann wäre ja schon ein Leben im Rollstuhl oder als Blinde ausgeschlossen. Und in einer Patientenverfügung soll ich doch was zu den ganz, ganz schlimmen Situationen sagen, oder?
Ich kreuze überall Nein an
Jetzt lade ich mir doch mal eins der üblichen Formulare aus dem Internet runter, nehmen wir das vom bayerischen Justizministerium. Na bitte, da stehen sie, all die scheußlichen Situationen, in die ich geraten könnte: unheilbare Krankheit, Hirnschädigung, Hirnabbau... Darunter eine lange Liste von lebenserhaltenden Behandlungen. Ich kreuze überall „Nein“ an. Wenn ich einmal so krank bin, dann will ich keine Wiederbelebung, keine künstliche Ernährung, keine Dialyse, keine maschinelle Beatmung. Fertig! Ganz nach dem Motto: „Entweder gesund oder schnell tot.“
Obwohl – meine ich das wirklich so? Was will ich eigentlich? Manche meiner Kollegen sind sich da ganz sicher. Der Onlineredakteur, der schon eine Verfügung hat, sagt: „Wenn ich nicht mehr äußern kann, was ich möchte, will ich nicht mehr. Das ist für mich die Grenze. Ich muss nicht alles mitnehmen.“ Ganz anders der Kollege aus dem Nachbarressort: „Ich will, dass bis zuletzt alles getan wird, damit ich am Leben bleibe!“ Er hofft, dass die Künstliche-Intelligenz-Forscher bis dahin einen Hirnchip entwickelt haben, so dass er noch länger Fußball gucken, Bücher lesen und Rotwein trinken kann. So verschieden sind die Menschen.
Aber können sie heute – als Gesunde – wirklich wissen, was sie als Schwerstkranke wollen würden: der Krankheit ihren Lauf lassen oder doch weiterleben?
Man täuscht sich da leicht, sagt der Intensivmediziner Michael Zenz in Bochum. Er hat viele „hohe Querschnitte“ in der Klinik, Patienten also, die ab der Halswirbelsäule gelähmt sind. Kein Mensch kann so ein Leben wollen, solange er gesund ist. Aber dann? Diese Patienten sind bei Bewusstsein, können aber meist nicht sprechen. Also schaut Zenz ihnen tief in die Augen: „Manche sagen mir mit den Augen: ‚Lass dir Zeit, tu nichts!‘“ Und wenn sie eine Lungenentzündung bekommen – „die kriegt irgendwann jeder Patient, der beatmet wird, das ist was vom lieben Gott“ –, dann kommt ihnen Zenz nicht mit Antibiotika, sondern behandelt nur die Symptome: „zum Beispiel die schlimme Atemnot mit Morphin, so dass der Patient sie nicht empfindet; er schläft dann friedlich ein.“ Andere Augen aber flehten ihn an: „Bitte tu was, dass ich wieder Luft kriege!“ Bei ihnen zieht der Arzt alle lebenserhaltenden Register.
Oder die Krebskranken, die ganz anders als vorgehabt dann mehrere Chemos machen. Es gibt viele solcher Geschichten von Willenswandel. Hm, soll ich mich wirklich heute schon festlegen? Aber halt, all diese Geschichten handeln von Menschen, die zwar schwer krank sind, aber bei Bewusstsein. Sie können eine Entscheidung treffen und diese auch irgendwie mitteilen. Und natürlich kann man eine quälende Behandlung aushalten, wenn man das Ziel kennt und will. Wenn ich dagegen im Koma oder einem anderen Dämmerzustand bin, dann „weiß“ ich nichts von einem Ziel.
Ich fürchte, ich bin der "Ja nach Situation-Typ"
Noch mal Balkon, Spätsommer mittlerweile:
Sie: Neulich hast du gesagt, du willst so viele Schläuche wie möglich und die neuesten Behandlungen. Aber eigentlich hältst du gesundheitliche Belastungen doch kaum aus. Du willst ja schon nicht mehr leben, wenn du bloß Rückenweh hast.
Er: Ja, ich halt nichts aus. Ich kann nicht mal vorm Kino warten. Man soll aber auf mein Jammern nicht hören. Hinterher gefällt’s mir doch wieder.
Sie: Und wo ist dann die Grenze?
Er: Wenn der Arzt sagt, das tut 23 Stunden am Tag weh und eine Stunde schläft man, das fände ich ein Scheißleben. Für Qualen bin ich nicht, da bin ich kein Held.
Ich fürchte, ich bin der „Je nach Situation“-Typ. Ein „Je nach Situation“-Feld sieht mein Formular aber nicht vor. Kann mich vielleicht mal jemand beraten! In den Hausarztpraxen, die ich anrufe, legen die Sprechstundenhelferinnen für Minuten den Hörer nieder, um meine Frage irgendwo im Hintergrund zu klären. Dann sagen sie: Nur „bei Medizinischem“ berate man, und das müsse privat bezahlt werden. Notare empfehlen sich gern, aber was ¬wissen die wiederum von Medizinischem? Ich glaub, ich bräuchte ein ganzes Beratungsnetzwerk.
So wie es das an einigen wenigen Kliniken gibt, etwa an den Frankfurter Agaplesion-Krankenhäusern oder am Uniklinikum Aachen die interdisziplinären Beratungsnachmittage. Auf nach Aachen, zu einem der größten Klinikkomplexe Europas. Am Eingang des Betonklotzes wartet Medizinethiker Arnd T. May, er hat über Patientenverfügungen promoviert und im vergangenen Jahr den Bundestag beraten. „Es gibt leider keine bundesweit tätige, qualitativ gesicherte Beratung zu Patientenverfügungen“, sagt er, während er mich in den Klinikinnenhof geleitet. Da sitzen die Patienten, weiß bandagiert bis unter den Kragen oder einen Tropfständer neben sich, und plauschen mit ihrem Besuch.
Ich reiche ihm meine Patientenverfügung. Aha, sagt er, Formularverfügung, kennt er. Sein Urteil ist vernichtend: „Ein steriles Dokument. Ich erfahre zwar was über Ihre Behandlungswünsche, aber nicht, warum Sie sich das wünschen.“ Und es gehe aus dem Formular auch nicht hervor, ob ich wirklich Bescheid weiß über die Behandlungen, die ich da so kühn ablehne.
Wortlos schiebt er ein Foto über den Tisch: Ein junger Mann im Klinikbett, einen Beatmungsschlauch im Mund, sein Blut läuft durch die Dialysemaschine, und in seine Hüfte ist ein Gestänge geschraubt. Ich bemühe mich, nicht zu zucken. „Ein verunfallter Motorradfahrer“, sagt May. Das Bild zeigen sie manchmal in der Be-ratung. Denn: Das grässliche Gestell ist ein Fixateur, eine super Methode, um einen Beckenbruch zu heilen. Das Foto soll zeigen, dass „Schläuche“ und Maschinen nicht per se schlecht sein müssen, sondern dass sie helfen können, eine lebensgefährliche Situation zu überbrücken.
Ist das kompliziert!
Ich gebe mich geschlagen. Okay, bei einem Unfall wäre ich wohl doch bereit, eine gewisse Zeit lang Belastungen auf mich zu nehmen, sogar eine maschinelle Beatmung. „Sehen Sie“, sagt der Medizinethiker, „wir müssen alle Situationen einzeln durchgehen.“ Man könne nicht wie in vielen Formularen erst alle schlimmen ¬Situationen auflisten und dann für alle zusammen die lebenserhaltenden Behandlungen verbieten.
Ist das kompliziert! „Ja“, sagt May, „das ist eben der Preis für die Chance, die uns der Bundestag eröffnet hat: mit einem Gesetz, das die Gültigkeit von Patientenverfügungen nicht begrenzt auf die Sterbephase.“ Seit September 2009 gilt es.
Natürlich muss niemand eine Patientenverfügung machen, auch das sagt das Gesetz. Und wer doch eine schreiben will, darf das auch ganz ohne Beratung tun. Aber am Tisch von Kristjan Diehl, dem Münchner Berater der Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung, sitzen manchmal Mehrfachakademiker, die sich über Jahre an ihrer Patientenverfügung festgebissen haben. Oder Paare, die ihre identischen Verfügungen nur noch kurz gegenchecken lassen wollen; am Ende verlässt das Paar das Büro mit höchst unterschiedlichen Verfügungen. Manchmal kommt auch nur die Ehefrau, der Mann wartet vor dem Haus im Auto. Und er wartet lang, im Schnitt anderthalb Stunden.
Bei mir wird es sogar drei Stunden dauern. Alles am Telefon, die Organisation berät bundesweit, für Mitglieder kostenlos. Schlimm ist das nicht, so ein Gespräch, nur anstrengend. „Multiorganversagen“, sagt Berater Diehl gerade, „zum Beispiel durch einen Unfall oder multiresistente Keime. Sie liegen auf der Intensivstation, und jetzt stellt sich heraus, dass Sie die nächsten Wochen kaum überleben können.“ Dann, sage ich fest, dann sollen sie die lebensverlängernden Maßnahmen einstellen, dann möchte ich sterben dürfen. Aber sie sollen mich nicht einfach im Stich lassen! Also fordert Herr Diehl für mich die ganze palliativmedizinische Kunst: Luftnot, Angst und Schmerzen lindern, den Durst löschen durch Befeuchten der Mundschleimhaut...Eigentlich alles Selbstverständlichkeiten, doch der Übergang vom Behandlungsziel „Leben erhalten“ zum Behandlungsziel „Leiden lindern“ fällt Ärzten oft schwer.
Und wenn mir mein bisschen Leben dann doch gefällt?
Jetzt ist die Demenz dran, weit weg für mich, aber da weiß ich recht genau, was ich will. Wenn ich nicht schreiend durch die Gänge irre, sondern einen zufriedenen Eindruck mache – dann sollen sie auch eine Lungenentzündung noch behandeln. Aber keine dauerhafte Ruhigstellung mit Tabletten! Und einen Schreibtisch möchte ich, mit Zeitungen darauf, damit ich wichtige Artikel rausreißen kann. Diehl lacht. „Solche Details sind hochwillkommen.“ Tatsächlich, in der ausformulierten Verfügung, die er später schickt, steht: „In meinem Wohnbereich soll mir ein Schreibtisch zur Verfügung gestellt werden, auf dem Zeitungen liegen. Diese werde ich aller Wahrscheinlichkeit nach nutzen und einer anderen, aus meiner Sicht sinnvollen Verwendung zuführen.“
Und da steht noch was, zum Essen: Keine Ernährungssonde, solange ich noch schlucken kann! Genau, ich will von jemand Nettem mit dem Löffel gefüttert werden, egal wie lange das dauert. Doll, ich kann in einer Patientenverfügung auch was fordern. Das sollte ich auch, sagt Kristjan Diehl. Schon damit nicht Klinikärzte sagen: „Wieder einer mit Patientenverfügung, ich soll hier eh nichts mehr tun.“ Sie sollen sehr wohl was tun.
Natürlich graust mir davor, dement zu werden. Aber was wäre, wenn ich mir dann jede lebenserhaltende Behandlung vorab verbeten hätte, etwa eine Dialyse, und dann schmeckt mir dieses so andere Leben doch? Da möchte mich das Gesetz schützen: Denn zuallererst muss geprüft werden, ob meine Verfügung überhaupt auf meine „aktuelle Lebenssituation“ zutrifft. Und wenn ich nun tagein, tagaus munter die Dementen-WG auf den Kopf stelle, dann passt meine frühere Verfügung nicht zu meiner jetzigen Lebenssituation. Das wäre dann wohl so was wie ein Widerruf. Der darf durchaus „formlos“ sein.
Fertig! Ach nee, Wachkoma hatten wir noch nicht. Drei Monate, sage ich. Mein Berater wendet ein, dass man da aber oft noch nicht genau wisse, wie weit sich das Gehirn noch erholen wird. Na gut, ein Jahr. Er provoziert mich: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der Rehaklinik in Bad Aibling und schauen ins Chiemgau...“ Okay, zwei Jahre. Ich weiß ja auch, dass manche Wachkomapatienten noch nach Jahren Fortschritte machen. Andererseits lass ich sonst auch allerlei Chancen an mir vorbeisausen.
Abends nach 21 Uhr darf ich zu Hause mittlerweile nicht mehr über das Thema Patientenverfügung reden. Also morgens, beim Walken.
Sie: Sach mal, was ist mit Wachkoma? Willst du dann noch leben?
Würdest du auch im Wachkoma noch leben wollen?
Er: Wenn da noch ein bisschen was ist, ein Bewusstseinsrest, dann zehn Jahre. Mir hat mal eine Neurologin gesagt, das könnte ja vielleicht auch so sein, wie am Strand zu liegen und nichts zu denken.
Sie: Aber wenn du nichts denkst, dann hast du doch nichts davon!
Er: Zehn Jahre wären vielleicht doch zu langweilig. Lieber nur sechs.
Sie: Und wenn es dann doch nicht ist wie Am-Strand-Liegen?
Er: Diese Ärztin sagte, sie könne sehen, ob es jemandem gutgeht oder nicht.
Mit der muss ich reden! Andrea von Helden, Chefärztin am Zentrum für Schwerst-Schädel-Hirnverletzte des Vivantes-Klinikums in Berlin-Spandau, nimmt sich sofort Zeit, das Thema ist ihr ein Herzensanliegen. Sie ärgert sich, wenn Angehörige sie bitten, einen Patienten „abzuschalten“, weil der immer gesagt habe: „Ich will nicht behindert sein.“ Was für eine Arroganz der Gesunden! Erstens wachten viele wieder auf, manche führten sogar wieder ein relativ selbstständiges Leben, zweitens müsse das Leben im Wachkoma, gut gepflegt natürlich, nicht der Horror sein, den sich jeder immer vorstelle.
Woher weiß sie das? „Es gibt Zeichen, ob jemand im Stress ist“, sagt die Ärztin. Wenn die Patienten aus der Intensivstation zu ihr kommen, sind sie im Stress, klar, sie hatten eine todesnahe Situation. Sie schwitzen, sie liegen verkrümmt da, Blutdruck und Atemfrequenz sind hoch. Aber dann, in der Frührehabilitation, beruhigt sich der Körper. Und – nur mal als gedanklicher Gegenentwurf – das könnte ja auch so sein, wie am Strand zu liegen und nichts zu denken. Andrea von Helden vergleicht Wachkomapatienten mit Säuglingen: Die sind zufrieden, wenn sie liebevoll versorgt werden, obwohl sie auch weder laufen noch sprechen können – „und, ist das schlimm für die?“
Die Chefärztin hat keine Patientenverfügung. „Ich glaube, dass die Patienten selbst entscheiden können – indem sie zum Beispiel aufhören zu kämpfen. Es gibt bei uns manchmal Patienten, die sterben ohne nachweisbare Ursache.“ Aber sie hat eine Vorsorgevollmacht. Die brauche jeder. Denn – Überraschung! – Ehepartner, Geschwister oder erwachsene Kinder dürfen keineswegs automatisch für ihre Angehörigen entscheiden, wenn die sich nicht selbst äußern können.
Richtig flott geht das: eine „Vorsorgevollmacht“ aus dem Internet runterladen, zum Beispiel von der Homepage des Bundesjustizministeriums, den Namen meines Lebensgefährten reinschreiben und als Ersatz den meiner Freundin, beiden ein unterschriebenes Original geben und mir selbst eine Karte in den Geldbeutel stecken, auf der steht, wen ich bevollmächtigt habe. Endlich was geschafft.
Und was ist, wenn man keinen hat, den man bevollmächtigen könnte? Wie der Bekannte, jüngst geschieden, Freundeskreis seitdem zerfleddert, Eltern sehr alt, mit der Schwester zerstritten. Für ihn würde im Fall der Fälle das Gericht einen Betreuer bestellen. Und dieser Fremde hätte sich genauso an eine Patientenverfügung zu halten wie jeder nahestehende Bevollmächtigte.
Wenigstens drüber sprechen sollte ich, viel sprechen
Ich aber hab jemanden, und vielleicht reicht es ja schon, dass ich ihn bevollmächtigt habe. Was würde denn passieren, wenn ich mir die ganze Patientenverfügungsarie einfach erspare? Das klärt ein Blick ins „Patientenverfügungsgesetz“, das sind die Paragrafen 1901 a, b und 1904 im Bürgerlichen Gesetzbuch. Da steht: Gibt es keine schriftliche Verfügung, muss der Bevollmächtigte meinen „mutmaßlichen Willen“ ermitteln. Dafür soll er frühere Äußerungen und meine „Wertvorstellungen“ berücksichtigen, möglichst auch Nahestehende befragen.
Da kommt natürlich einige Interpretation ins Spiel. Und es könnte sein, dass sich mein Bevollmächtigter und die Ärztin nicht einig werden, welche Behandlung jetzt in meinem Sinne wäre – dann entscheidet das Betreuungsgericht. Hoffentlich kann sich mein Bevollmächtigter dann an unsere Gespräche erinnern, denn er muss der Richterin etwas vortragen können wie: „2010, August, wir hatten gerade den Film ‚Million Dollar Baby‘ auf DVD angeguckt, saßen noch auf dem Balkon, da sagte sie den Satz...“
Nicht alle Situationen sind so eindeutig. Dann wird mein Bevollmächtigter grübeln und zweifeln. Diese Last würde ich ihm gern ersparen. Leider, leider erfordert also auch die Minimalvariante Vorsorgevollmacht noch einen zweiten Schritt: Ich sollte mit meinem Bevollmächtigten darüber sprechen, was ich im Fall der Fälle will.
Das fällt vielen schwer. „Da fließen auch Tränen“, erzählt der Medizinethiker und Seelsorger Kurt Schmidt, der an den evangelischen Agaplesion-Kliniken in Frankfurt zur Patientenverfügung berät. Da sagt ein Mann, dass er keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr möchte, wenn er seine Umwelt nicht mehr wahrnimmt und nach drei Monaten keine Aussicht auf Besserung besteht, und plötzlich schluchzt neben ihm seine Frau auf. Schließlich ergänzt er: „Aber wenn meine Frau noch nicht so weit ist, dass sie Abschied nehmen kann und medizinisch noch Restchancen bestehen, dann wäre ich damit einverstanden, dass weitere drei Monate alles versucht wird.“ Wir entscheiden nie nur für uns selbst, sagt Kurt Schmidt.
Wenn aber die Mutter partout nicht über das Thema reden will
Andersherum ist es aber auch schwer. Eine Kollegin versucht seit Jahren, mit ¬ihrer Mutter ins Gespräch zu kommen: „Mutti, was wäre, wenn es dir mal schlecht gehen sollte?“ Die Antwort ist immer dieselbe: „Nein, jetzt nicht, das deprimiert mich.“ Unfair findet das die Tochter, denn damit werde ihr die ganze Verantwortung aufgebürdet.
Vielleicht ganz anders fragen? Etwa so: „Sag mal, Lux-Seife hast du schon dein Leben lang, oder?“ Dann plaudert man über die alltäglichen Dinge, die die Mutter braucht, damit es ihr gutgeht. Die die Mutter also auch bräuchte, denkt die Tochter insgeheim, wenn sie pflegebedürftig würde. Und dass sie längere Zeit pflegebedürftig ist, ist viel wahrscheinlicher, als dass sie ins Wachkoma fällt. „Wenn ich dann nur festgelegt habe, ob ich eine Magensonde möchte oder nicht, kann es sein, dass vieles nicht so läuft, wie ich es mir wünsche“, sagt die Pflegewissenschaftlerin Angelika Zegelin von der Uni Witten-Herdecke.
Keine Schlager! Kein Brei!
Deshalb hat Angelika Zegelin ihrer Patientenverfügung eine lange Liste angehängt. „Ein Fuß muss immer rausgucken“, steht da zum Beispiel, auf keinen Fall die Füße mit der Decke einschlagen! Sonst würde sie lieber sterben wollen. Und beschallte man sie mit Schlagern, ginge sie in die innere Emigration. Das Röhren eines Boliden hingegen könnte sie selbst im Koma erfreuen. Aber keine süßen Breie! Die feinen Haare täglich waschen!
Luxusansprüche? „Überhaupt nicht“, sagt die Pflegewissenschaftlerin, „das ist das klassische Leitbild der Pflege: die individuelle Pflege.“ Dass das derzeit oft nicht umgesetzt wird, weiß sie auch. „Aber verflixt nochmal, die Altenheime stehen doch in Konkurrenz miteinander! Wenn Heime die Fortsetzung des alltäglichen Lebens garantieren würden, wäre das ein Wettbewerbsvorteil.“
Ein Verdacht keimt in mir: Statt eines billigen Patientenverfügungsgesetzes hätte ich viel lieber ein gut ausgestattetes Pflegesystem, das mir auch für die letzte Zeit ein Leben nach meinen individuellen Bedürfnissen ermöglicht. Und statt dass ich mir abendelang den Kopf zerbreche über progredierende Demenz und „minimal conscious state“, mich schlau mache über Antibiose und Intubation, wäre mir viel lieber, wenn Ärzte und Ärztinnen nicht alle möglichen Maßnahmen vorschlügen, die rein theoretisch das Leben verlängern könnten.
Genau, sagt Michael de Ridder. Der ist Chefarzt der Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg und ein Mann, der gern für Patienten streitet. Wie oft hat er Fälle wie diesen beobachtet: Ein alter Mann mit metastasierendem Krebs, dann versagen die Nieren, nun steht auch noch das Herz still – er wird wiederbelebt. Dabei sei das absolut aussichtslos, reine Leidensverlängerung. De Ridder träumt in seinem Buch „Wie wollen wir sterben?“ von einer Revolution: dass sich Ärzte und Ärztinnen nicht mehr auf das Objekt Krankheit konzentrieren, sondern das an ihr „hängende“ Subjekt Mensch wahrnehmen und behandeln.
Es ist Herbst geworden. Ich habe eine Vollmacht und eine individuelle Patientenverfügung, jetzt bastel ich an einer Liste von Vorlieben und Abneigungen.
Ein Werktagabend, ein Mann, eine Frau, er bügelt Hemden, sie faltet Handtücher. Es geht um Liebe.
Sie: Was brauchst du, ich meine außer Opernmusik? Einzelzimmer?
Er: Nö, kann auch Schlafsaal sein. Nur Schnarcher müssen raus. Und Huster. Und Leute, die das Fenster nicht aufmachen. Auf keinen Fall Stinker, hörst du! Und du? Keine Zwiebeln, klar. Soll ich dir ein Kaninchen aufs Bett setzen?
Sie: Au ja! Und Singdrosselgesang möchte ich hören. Frisches Obst, gern sauer, auf keinen Fall Krankenhausäpfel. Und immer ein Fenster auf, sonst sterb ich.
Er: Ich werd dafür sorgen, dass du immer ein Lüftchen um den Kopf hast. Und wenn es stürmt, sag ich: „Rollt sie raus!“
Bundesweit tätige, qualitativ gesicherte Beratung
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Danke!
Liebes chrismon.de Team, liebe Christine Holch,
dieser Artikel trifft alles auf den Punkt und beschreibt die Situation in vielen Familien.
Ich habe dies selbst in meiner Jugend im engen Bekanntenkreis hautnah miterlebt, dieses "Die Angehörigen quälen sich mit der Entscheidung". Fürchterlich. Daher gefallen mir ihre Darstellung der verschiedenen Positionen, die zahlreichen Auflistungen und besonders in ihrer Schreibweise ihre Herzlichkeit zu diesem so wichtigen Thema. Die Dialoge sind eine wunderbare Veranschaulichung und alles in allem sehe ich ihre Arbeit, diesen Text als Kurzfilm um noch mehr Leute zu erreichen. "Er: Ich werd dafür sorgen, dass du immer ein Lüftchen um den Kopf hast. Und wenn es stürmt, sag ich: „Rollt sie raus!“" - wie wundervoll, Danke!
Elisabeth.
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