Foto: Manfred Grohe
Soll ich denn ein Schlecht Mensch werden?
Er ist ein Friedensfreund vom alten Schlage, ein wahrer Gutmensch, voller Hoffnung und Moral. Walter Jens wird 80, blickt zurück und nach vorn ­ auf den Krieg, die Liebe und den Tod. Ein Geburtstagsbesuch.
07.10.2010

"Sie haben sich Gedanken gemacht?" Es ist eine freundliche Frage, die dem Besucher gestellt wird ­ aber eine ernst gemeinte. Ja, natürlich, selbstverständlich.

Wie kann man zum großen Walter Jens kommen, einem der letzten verbliebenen Universalgelehrten, zu einem, der diese Republik mit geprägt hat, und sich vorher keine Gedanken machen: Sind die Batterien des Aufnahmegeräts aufgeladen? Soll man das Thema "Reich-Ranicki" ansprechen? Was tun, wenn der Gastgeber anfängt, lateinische Originalzitate zu bemühen - ­ stumm nicken oder um Übersetzung bitten? Und auch solche Gedanken hat der Besucher: Ist der fast 50 Jahre ältere Gesprächspartner nicht einer dieser hoffnungslosen Gutmenschen, um die er sonst immer einen großen Bogen macht? Einer jener Zeitgenossen, die irgendwie immer für "das Gute" sind, aber nicht sagen, wie das in einer chaotischen Welt gehen soll...

Der Mann im hellbraunen Sakko schlägt die Beine übereinander und schaut dem Besucher zu, wie dieser seine Papiere ordnet.

Erste Frage: Warum machen Menschen Krieg, Herr Jens? "Der Grund kann nur irrational sein. Und zwar um des eigenen Vorteils und des Nachteils von anderen willen."

Seltsame Gutmenschen-Logik, denkt der Besucher. Was ist denn daran irrational, wenn einer seinen eigenen Vorteil sucht, selbst wenn es zum Nachteil der anderen ist.

Muss ein Christ Pazifist sein? "Für mich muss ein Christ Pazifist sein. Ein Christ kann nicht hinnehmen, dass Unschuldige ermordet werden. Dass Frauen, Kinder, Greise, Zivilisten als Kollateralschäden eingestuft werden. Ich glaube, dass die Worte des Neuen Testaments da sehr eindeutig sind."

Okay, ja, aber, dritte Frage: Gibt es nicht auch einen dummen Pazifismus, einen, der größeres Unheil verursacht, weil er die Konfrontation scheut? "Pazifist ist ja heute ein Schimpfwort. Der Pazifist gehört ja zu den so genannten Gutmenschen. Ich frage mich immer: Soll ich Schlechtmensch werden? Was erwartet man von mir? Der wahre Pazifismus im Sinne der Bergpredigt kann nicht töricht sein. Es gibt Wegläufer, Menschen, die dem Schrecken nicht ins Auge sehen wollen. Aber ich denke, der aufrechte Pazifist kann nicht töricht sein."

Und was ist mit Auschwitz? "Auschwitz hätte es nicht ohne den Krieg gegeben. Der Krieg war der Auslöser, der Krieg ermöglichte alles. Der Ansatzpunkt für ein Bedenken von Auschwitz ist Hitlers Angriffskrieg. Von da an konnten die Deutschen tun, was sie wollten. Und daran muss man zuerst denken."

Wie soll man dann einem Diktator Widerstand leisten? "Ich bin zwar ein konsequenter, aber kein absoluter Pazifist. Deshalb denke ich zum Beispiel, dass, als Hitler das Rheinland besetzte, eine harte Reaktion durch Frankreich hätte erfolgen sollen. Aber selbst da hätte eine entschiedene Androhung polizeilicher Maßnahmen wahrscheinlich genügt, um den Diktator und Massenmörder in Deutschland zur Ordnung zu rufen. So hätten ohne große Verluste Millionen von Menschen gerettet werden können."

Aber das wäre doch genau so eine Art Drohung mit einem Präventivschlag gewesen, wie sie jetzt von der amerikanischen Regierung im Fall Irak vertreten wird. "Davon kann im Irak überhaupt keine Rede sein. Die Situation ist eine ganz andere." Wie also droht man einem Diktator richtig? "Nun, man muss glaubwürdig drohen, aber dies braucht nicht verbunden zu sein mit einem Aufmarsch von gewaltigen Militärkräften, der nur zeigt: Ihr könnt machen, was ihr wollt ­ wir schlagen auf jeden Fall zu. Heute hat man im Irak ja nicht die geringste Chance: Man kann Zugeständnisse um Zugeständnisse machen ­ ,the game is over', hat er gesagt, der US-Präsident. Was sollten die Iraker da noch tun?"

Der Besucher weiß es nicht. Warum ist dieser Walter Jens ein so vehementer Friedensmensch?

Rührt Ihre Haltung aus den eigenen Kriegserlebnissen? "Ja. Bei mir war das der Angriff auf Freiburg, den ich in der dortigen Universitätsklinik erlebte. Das war eine Stunde, in der ich leibhaftig verstand, was Krieg ist. Damals ging die Schwester Oberin durch die Gänge und betete: ,Steh uns bei, Herr, jetzt und in der Stunde unseres Todes.' Sie legte den wimmernden Schwestern, den weinenden Patienten die Hand auf die Stirn: ,Seien Sie gefasst, Bruder, ich bete für Sie.' Aufrecht, inmitten des Infernos. Später las ich dann einmal die ,Neue Züricher Zeitung' vom gleichen Tag über einen Ball der Studierenden im Tessin, ein großes Ereignis, und dass der Wochenmarkt da und da ist. Was für ein Gegensatz!"

...zwischen Krieg und Frieden? "Das war wie bei Grimmelshausen: Da ist das Kriegsland und da ist das freundliche, friedliche, das andere Land. Nur ein paar Kilometer weiter. Und es tritt eine humane Region ins Blickfeld, wie sie vielleicht am schönsten im 21. Kapitel der Apokalypse beschrieben worden ist. Das selige Jerusalem, leuchtend im Glanz Gottes. So wie damals in Freiburg ist Krieg und so wie im Tessin kann Frieden sein, Frieden als Inbegriff der Seligpreisung. Das ist mir damals klar geworden, und da hab ich mich mit dem Frieden immer intensiver beschäftigt."

Wie würden Sie Menschen trösten, die heute Angst vor einem Krieg haben? "Ich glaube, man muss so sprechen wie Geistliche vor Jahrhunderten einmal am Grabe der Menschen gesprochen haben. Nicht: Sei nicht verzagt! Sondern: Ich habe auch Angst. Ich habe die Angst mit dir zusammen. Und in diesem Augenblick kann ich nichts anderes tun, als mit dir diese Angst auszuhalten, hoffend, dass wir sie in nicht allzu ferner Zeit überwinden. Weiter käme ich nicht."

Fürchten wir uns hier in Deutschland nicht zu sehr? "Angst ist auch ein Erkenntnismittel. Solange Ödipus Angst hat, ist er gefeit. Erst wenn er der Hybris verfällt, ist er dem göttlichen Verderben ausgesetzt. Ich wünschte, viele Mächtige dieser Welt stellten mehr Fragen und hätten weniger rasche Antworten parat und hätten mehr Angst als inhumane Selbstgewissheit."

Wie sieht das bei Bundeskanzler Schröder aus? "Schröder hat zumindest bei der Frage von Krieg oder Frieden das einzig Vernünftige getan und wird dafür von Millionen von Menschen in aller Welt hoch geachtet."

Saddam Hussein? "Über Saddam Hussein brauchen wir wenig zu sagen. Wir wissen, wie er gemordet hat. Ein großes, diplomatisches, gemeinsames Vorgehen ist das einzig Vernünftige, um mit ihm fertig zu werden."

Präsident Bush? "Bush ­ das ist der Ayatollah. Ein Mann, der auf ,christlicher' Basis einen heiligen Krieg zu führen sucht. Der die Realität hier auf Erden vollkommen mit einer von Gott gegebenen Mission identifiziert. Bush ist eigentlich für mich die provozierendste Gestalt, einer, der das Jesuanische und das dem Entgegenstehende, das Rüd-Militaristische, miteinander gleichsetzt. Angeblich betet er ja jeden Morgen und fragt: Was tut Jesus? Da sollte man vielleicht mal sagen: Jesus tötet keine Kinder."

Der Gastgeber hat sich in Rage geredet. Fast meint der Besucher darauf hinweisen zu müssen, dass Bush im Gegensatz zu Saddam Hussein noch kein Nervengas gegen Zivilisten eingesetzt hat.

Jetzt protestieren ja viele Friedensaktivisten gegen Präsident Bush und die amerikanische Politik. Warum protestieren so wenige gegen Saddam Hussein? "Es wurde gegen ihn nachdrücklich protestiert. Ich halte das auch für eine Selbstverständlichkeit. Trotzdem, der Mann, der Tausende von Unschuldigen auf dem Gewissen hat, hätte möglicherweise schärfer attackiert werden müssen. Am besten schon zu der Zeit, als Saddam Hussein und die Seinen noch die lieben Kinder der Amerikaner gewesen sind."

Gibt es so etwas wie einen latenten Antiamerikanismus in der deutschen Friedensbewegung? "Es ist ärgerlich, dass ich mich, wenn ich scharf gegen die inhumanen Praktiken der texanischen Oilconnection protestiere, des Vorwurfs erwehren muss, ich sei Antiamerikaner. Das ist eine der kuriosesten Behauptungen. Diese Behauptung wehre ich am liebsten mit einigen Sätzen des berühmten einstigen US-Senators William Fulbright ab. Es gibt nämlich zwei Amerikas. Einen Augenblick!"

Der Gastgeber verschwindet in den Tiefen seines Hauses und kommt mit einem kleinen, abgegriffenen Taschenbuch zurück. Titel: "Arroganz der Macht".

Die zwei Amerikas..."Ich zitiere: ,Das Amerika Lincolns und Adlai Stevensons ist das eine, und das andere Amerika Teddy Roosevelts und der modernen Superpatrioten. Das eine ist großzügig und human, das andere engherzig und egoistisch. Das eine ist selbstkritisch, das andere selbstgerecht. Das eine ist vernünftig, das andere romantisch. Das eine hat Humor, das andere ist feierlich. Das eine ist suchend, das andere autoritativ. Das eine ist gemäßigt, das andere von leidenschaftlicher Heftigkeit. Das eine ist einsichtig, das andere im Gebrauch großer Macht arrogant.'"

Also würden Sie sich nur als partiell antiamerikanisch sehen? "Wie gesagt: Es gibt zwei Amerikas. Und wir stehen auf der Seite des einen. Wir haben Friedensfreunde auch in Amerika. Die arrogante Macht, die nichts anderes als die These verbreiten kann: Wer nicht für uns ist, ist unser Feind, diesem Amerika stehen wir ­ um es ganz behutsam zu sagen ­, dem stehen wir skeptisch gegenüber. Da drücke ich mich nicht auf Rumsfeld-Niveau aus."

Apropos Mister Rumsfeld: Was halten Sie denn als Rhetoriker von den Äußerungen des US-Verteidigungsministers? "Rhetorisch sind das Provokationen, die sich in der Zone des Irreseins bewegen. Anders kann man das nicht ausdrücken. Das ist Provokation um der Provokation willen."

Wie funktioniert eigentlich Kriegsrhetorik? "Zunächst einmal ist die Kriegsrhetorik gekennzeichnet durch das Ausschließen aller Fragen, aller Bedenken, aller möglichen Gegenargumente. Auffällig ist zudem der Verzicht darauf, die Welt von unten nach oben zu betrachten, so wie Jesus Christus es getan hat. Alles zu betrachten aus der Perspektive der Opfer, derer, die die Zeche zu zahlen haben. Was wird denn aus den Kindern? ,Und stell dir vor, es wäre dein Kind, das jetzt stürbe!' Das Ausfallen der Dimension des Opfers ­ das ist charakteristisch für diese moderne Kriegsrhetorik."

Außenpolitisch ist Deutschland durch seinen kompromisslosen Antikriegskurs isoliert. "Man kann sich auf zweierlei Weise isolieren: Indem man das Unrechte oder das Rechte tut. Wir tun das einzig Rechte, das einzig Vernünftige. Denn wir wissen, was Krieg ist. Gerade zurzeit werden im Fernsehen sehr viele Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Brennende deutsche Städte. Dann erschrecken wir. Ich halte es für pervers, diese Bilder zu sehen, und dann geht man ruhig zur Tagesordnung über und es wird über Zigtausende von Menschen befunden, denen es wie bald genauso gehen wird wie denen damals in Hamburg oder Dresden."

Wie unterscheidet sich die heutige Friedensbewegung von der früherer Jahre? "Sie ist sehr viel bescheidener. Die Menschen sind vereinzelt. Damals gab es stärkere Gruppen zur Zeit von Mutlangen, als Heinrich Böll und ich noch Texte vorlasen."

Mutlangen! Nato-Doppelbeschluss! Wie lange ist das her, denkt der Besucher. Damals kaufte er sich gerade den ersten Heimcomputer, spielte "Panzergeneral" und "Fort Apocalypse". Der Gastgeber aber hat sich 80 Jahre lang von Forts, Panzergenerälen und Computern fern gehalten...

Erleben wir eine Renaissance der Friedensbewegung? "Es kann eine ganz kleine Schar geben, die plötzlich wieder anschwillt. Das erleben wir im Augenblick. Flut und Ebbe. In gewissen Augenblicken reifen empörte Menschen in einer Weise, wie sie es sonst in Jahren nicht tun. Und der Augenblick ist jetzt gegeben, wo die Amerikaner ein einziges Interesse haben: die Weltherrschaft, das Öl, den Krieg. Und ich kann nicht verstehen, dass Menschen dem ergeben, unfrei, sich in der Haltung von Sklaven ­ was die Amerikaner normalerweise alles verachten ­ ducken."

Wie würden Sie Minister Rumsfeld und Präsident Bush vermitteln, wofür Sie ­ als Vertreter des so genannten Alten Europas ­ stehen? "Ich würde den Herren, wohl wissend, dass sie es kaum verstehen werden, ein Stück aus der Antigone zitieren: ,Ungeheuer ist viel, aber ungeheurer nichts als der Mensch.' Das Wesen des Menschen liegt in seiner Doppelheit. Perfekt im Technischen und ein Zwerg, was seine Moralität angeht. Die Moral ist der technischen Omnipotenz nicht nachgekommen. Es heißt in der Antigone: ,Weit über Erwarten begabt, schreitet der Mensch einmal zum Guten, einmal zum Bösen.' Er kann beides tun. Ich würde Bush diesen Text aus der Antigone, einer Grundschrift in europäischer Gesittung, vorlesen, vielleicht hört er mir ja so lange zu. Und dann würde ich ihm das Kapitel 25 aus dem Matthäus-Evangelium vorlesen: ,Ich war hungrig und durstig und ihr habt mich gepflegt, ihr habt mich umsorgt, ihr seid zu mir gekommen. Hier zu mir auf die eine Seite, die Guten. Und auf der anderen Seite, die, die mich preisgegeben haben.' Und dann würde er vielleicht mit einigen alttestamentlichen Zitaten mich zu widerlegen versuchen, und darüber käme man nach einem gemeinsamen Besuch der Slum-Viertel in aller Welt zu einem tiefergehenden Gespräch. Eine freundliche Utopie."

Daraus spricht ja ein ungeheurer Glaube in die Verständigkeit von Menschen, ein aufklärerischer Idealismus! "Selbstverständlich. Es ist auch zu erwarten, dass wir uns nicht durchsetzen werden."

Und dann erzählt der Gastgeber von Lessing und seinem "Nathan" und wie das Stück 13 Jahre lang nicht aufgeführt werden konnte und dann doch. Und davon, warum die Juden später nicht glauben konnten, dass so etwas Schreckliches wie der Holocaust in Deutschland, dem Lande Lessings, geschehen könnte. Leise ist da die Stimme des Gastgebers. Manchmal blickt er zur Bücherwand zu seiner Rechten ­ und schaut doch nur ins Leere.

Hier liegt sie, die Hoffnung des Herrn Jens, niedergestreckt von der Chronik menschlichen Irrsinns: jene Hoffnung in die Einsichtsfähigkeit der Menschen, in das Gute und Vernünftige. So denkt der Besucher und beginnt zu ahnen, was für eine Traurigkeit es ist, die sich jetzt in den Augen des Gastgebers zeigt.

"Ich weiche Ihrer Frage aber nicht aus", sagt der Gastgeber nach einer Pause. "Wahrscheinlich werden wir ­ in der typischen Haltung der Intellektuellen, die zwischen allen Fronten stehen ­ unterliegen. Man muss dann eher verlieren können als sich anzupassen."

Der Intellektuelle also als tragischer Held, als Warner ohne Hoffnung? "Das Wort Held gehört nicht zu meinem Wortschatz, darum geht es auch gar nicht. Sondern nüchtern seine Pflicht zu tun, sich um Menschen zu kümmern, die in Not sind. Sachlich und ruhig und ohne große Emphase, nicht pathetisch oder gar mit Schaum vorm Mund. Das Vernünftige zu tun im Sinne der heute weniger denn je preiszugebenden Aufklärung. Auch die Gebote der Aufklärung sind neu zu durchdenken. Immer unter der Perspektive, dass die Aufklärung auch im Gefolge immer größerer Rationalisierung bis zum wahren Schrecken führen kann."

Sie gelten als "streitbarer Christ". Sind Sie immer überzeugt, dass Sie richtig liegen? "Sie merken vielleicht, dass ich bei all meinen Überlegungen eher aus der Position des Angefochtenen und Beirrbaren komme. Jesus hatte Angst, er wusste, was Furcht ist. Und eine letzte Angst wird ihn erfasst haben, als er den gerammten Pfahl auf der Schädelstätte sah, zu dem er den Querbalken hintrug. Auch wenn ich sehr konsequent spreche, ist mir Rechthaberei unangenehm. Ich versuche, Fragen zu verschärfen. Fragen zu verdeutlichen. Nicht rasche Antwort zu geben."

Welche Rolle spielt Versöhnung für Sie? "Ich kann mir eine menschliche Welt, in der Versöhnung kein Zentralbegriff ist, nicht vorstellen. Man muss sich im Sinne der jesuanischen Botschaft miteinander versöhnen können. Es fällt gegenüber unreflektierten Tollköpfen, gegenüber rüden Tätern und vor allem gegenüber Denunzianten ­ die sind für mich das Verächtlichste ­ sehr, sehr schwer. Die Aufgabe, daran zu arbeiten, ist ungewöhnlich schwierig, und niemand kann von sich sagen, er hätte den Spruch ,Liebe deine Feinde' ein Leben lang ins Zentrum seines Denkens gerückt. Ich ganz bestimmt nicht. Nein."

Was sind die Bedingungen für Versöhnung? "Konkrete Empathie. Sich hineinversetzen in die Lage von Mühseligen und Beleidigten. Von Elenden und Benachteiligten. Und ein ständiges Umkreisen des Satzes ,Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht'. Ein bisschen mehr Helligkeit ins Dunkel zu geben. Das alles klingt pathetisch, und ist doch bescheiden und nüchtern und präzise gemeint. Das täte uns ganz gut."

(Später, als das Tonband abgeschaltet ist, sagt der Gastgeber noch etwas zu seinem Streit mit dem einstigen Freund Reich-Ranicki. Nicht viel. Und nichts, was er der Öffentlichkeit mitteilen möchte.)

"Ich bin Liebhaber alter Vokabeln", sagt der Gastgeber. "Höflich. Demütig. Sanft. Zart. Vernünftig. Ich liebe solche Worte." Er liebt sie wirklich, denkt der Besucher.

Was liebt er noch, der Gastgeber? Wieder verschwindet Herr Jens in den Tiefen seiner Büchersammlung und kehrt mit einem noch stärker abgegriffenen Band zurück: "Ich lese Ihnen ein Gedicht vor."

Gern. ",Sie ist mir lieb, die werte Magd, und kann ihr nicht vergessen. Lob, Ehr und Zucht von ihr man sagt, sie hat mein Herz besessen. Ich bin ihr hold, und wenn ich sollt groß Unglück haben...'"

Der Gastgeber hat sich über den Text gebeugt. Sein Gesicht arbeitet, die Stimme schwillt an, ebbt ab. Man muss Worte sehr lieben, um sie so vortragen zu können, denkt der Besucher.

",...mit ihrer Lieb und Treu an mir, dass sie zu mir will jezen und tun all mein Begier...' Ich bitte um Entschuldigung, dass ich so viel zitiere."

Von wem ist das? "Es ist von Luther. Also nicht ,Eine feste Burg ist unser Gott' und nicht ,gute Wehr und Waffen'. Sondern sanft und freundlich. So wie ein Liebender zu einer Geliebten spricht. Und es ist in der Tat ein Anruf an die heilige Gemeinschaft der Christen und die Kirche. Und eine solche Kirche sehe ich vor mir. Sie ist mir lieb, die werte Magd, ich kann ihr nicht vergessen. Lob, Ehr und Zucht von ihr man sagt, sie hat mein Herz besessen. So sehe ich die Kirche, wie sie sein könnte, leider nicht ist. Nicht die Amtskirche, nicht die Machtkirche, die Priesterkirche, sondern die Kirche, die aus der Schwesternschaft und Bruderschaft aller Gläubigen besteht."

Im März feiern Sie Geburtstag, Herr Jens. Ein mürrisches "Ja" des Gastgebers.

Mit welcher Laudatio könnten Sie sich identifizieren? "Es gab mal eine, mit der ich mich identifizieren konnte. In der hieß es: Es gibt bessere Schriftsteller als Walter Jens, natürlich. Es gibt klügere Wissenschaftler. Es gibt Menschen, die mehr in den Tempel des Denkens hineingekommen sind. Aber als Zehnkämpfer gibt's nicht viele, an der Grenze von Poesie und Wissenschaft. Vielleicht. Man wird, obwohl das eine etwas peinliche Behauptung ist, man wird im Alter weniger eitel. Man hat das Seine getan. Sollen die anderen auch mal.

Ihre Gefühle? "Mein Grundgefühl ist Dankbarkeit." Wem gegenüber? "Die Dankesliste ist unendlich lang. Meine Frau, die Familie, die Freunde, die mir beigestanden haben. Hans Küng. In finsteren Zeiten, als ich monatelang von Depressionen befallen war und er mir durch den ständigen Zuspruch half: Du musst arbeiten, du darfst dich nicht verkriechen. Ich bekenne mich zu diesen langen Tagen der Melancholie. Ich halte eine Depression für nicht ehrenrühriger als eine Prostatavergrößerung."

Der Besucher denkt an die Frau, die ihm die Tür geöffnet hat. Gelächelt hat sie, ihren Mann geholt, den Tee gebracht, und dann ist sie schon verschwunden. Vielleicht führt es in die Irre, nur die eine Hälfte von Walter und Inge zu interviewen...

Mit Ihrer Frau Inge sind Sie jetzt 52 Jahre verheiratet. Kann man eigentlich lieben lernen, Herr Jens? "Das kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass der Satz ,Bis dass der Tod euch scheidet' für mich eine Selbstverständlichkeit ist. Eine Ehe ist auf das große Glück der Verlässlichkeit, auf Achtung und auf die Bereitschaft, auch mal die zweite Geige zu spielen, gegründet. Und da ist noch was: Wenn ich morgens meistens etwas nach meiner Frau erwache, dann empfinde ich Tag für Tag ein Gefühl des Glücks, bedenkend: In fünf Minuten wirst du sie sehen. Und es beginnt dann das lebenslange treibende, kontroverse Gespräch. Das kontroverse Gespräch. Mein Gott, wie haben wir uns bei unserem jetzt vollendeten Buch über Katja Mann gestritten! Aber wir haben uns immer wieder zusammengerauft. Und der Fontan'sche Satz ,Wer am meisten redet, ist der reinste Mensch' ist dabei ganz meine Losung."

Was meinen Sie damit? "Ein Beispiel: Wenn bei Tisch zwei Minuten mal nicht gesprochen wird, dann sag ich: Die Luft ist zum Durchschneiden. Hat hier keiner irgendwas zu sagen?"

Die Liebe ist stärker als der Tod ­ können Sie das glauben? "Ich glaube dieses. Und ich glaube auch an den meines Erachtens nie genug bedachten Satz aus den Korintherbriefen: ,Glaube, Liebe, Hoffnung ­ diese drei, das bleibt. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.' Paulus ­ höchst überraschend! Die Liebe vor den Glauben setzend! Die Liebe ist größer als der Glaube! Das ist revolutionär, das wird nicht genügend bedacht."

Eine Stille ist jetzt im Raum. Haben Sie Angst vor dem Tod? "Da erinnere ich mich des Lessing-Satzes: ,Ich glaube nicht, dass ich mich vor meiner Todesstunde fürchte. Ob ich mich in meiner Todesstunde fürchte, das weiß ich nicht.' Wahrscheinlich schon. Wahrscheinlich werde ich dann mit Ingeborg Bachmann sagen: ,Nichts Schöneres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein.' Darüber bin ich mir im Klaren. Ich habe oft, vielleicht zu oft, dem Wunsch Ausdruck gegeben, dass ich vor meiner Frau sterbe. Wobei sie mit großem Recht sagt: ,Das ist sehr egoistisch von dir gedacht ­ ich finde das ein wenig machoartig. Denkst du, dass ich nach deinem Tode weniger leiden werde als du.'"

Und das Danach? "Ein Peut-être." Keine Gewissheiten? "Der Satz von Kafka ,Unter deinen steigenden Füßen wachsen die Treppen aufwärts', der ist mir nah. Man fragt, fragt, fragt weiter und hat keine Antwort."

Das Gespräch ist zu Ende. Der Gastgeber verschwindet ein letztes Mal, um ein Buch zu holen. Ein Bildband mit Werken von Max Liebermann. "Neugier, Neugier", sagt der Gastgeber dem Besucher zum Abschied, immer noch den aufgeschlagenen Bildband in den Händen. "Neugierig bleiben ­ das ist es!" Dann überlässt er seinen Besucher dem Taxi vor der Haustür. Und dem Gedanken, dass diese Welt vielleicht ein paar Gutmenschen wie Walter Jens verkraften kann.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.