Ein hartes politisches Pflaster
Über die Opposition in der DDR fand sie zur evangelischen Kirche. Nun ist Ulrike Poppe erste Stasibeauftragte des Landes Brandenburg
Hedwig Gafga, Autorin
07.10.2010

Eine Wasserflasche, Gläser und Kekse auf dem Boden, drum herum sind Stühle aufgestellt. Ulrike Poppe empfängt die nächste Besuchergruppe. Es sind Studenten der FU Berlin, Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung, die etwas über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit erfahren wollen. "Welche Systematik werden Sie Ihrer Arbeit zugrunde legen?", will einer wissen. "Das wüsste ich auch gern", sagt Ulrike Poppe, alle lachen. Fremdheit zu vertreiben, ein zwangloses Klima zu schaffen, das gelingt ihr schnell. Sie strahlt etwas Fürsorgliches aus.

Seit März dieses Jahres ist die Bürgerrechtlerin die "Beauftragte des Landes Brandenburg für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur", berufen von der rot-roten Regierung von Ministerpräsident Matthias Platzeck, die unter Druck geraten war, als die Stasiverwicklungen von immer mehr Landespolitikern bekanntwurden. Der Kurzname für ihr neues Amt variiert. Im Angebot sind Auf-arbeitungs-, Diktatur- oder Stasibeauftragte. Zuvor war Ulrike Poppe 18 Jahre lang Studienleiterin in der Evangelischen Akademie in Berlin, zuständig für die Zeitgeschichte der DDR.

Aus der gesellschaftlichen Nische begibt sie sich nun auf hartes politisches Pflaster. Kaum etwas rührt so sehr an das Selbstverständnis der Menschen in den neuen Bundesländern wie die Frage, ob Leute, die dem DDR-Staat beflissen gedient hatten, heute vertrauenswürdige Politiker sein können. Ulrike Poppe soll helfen, Antworten zu finden - und Anlaufstelle für die Opfer der DDR-Diktatur sein.

Ob sie es richtig findet, dass Jan-Hendrik Olbertz der künftige Präsident der Hum-boldt-Universität wird, obwohl sich der studierte Pädagoge in seinen vor der Wende verfassten wissenschaftlichen Arbeiten systemtreu geäußert habe, fragt ein Student. "Ich hätte mir gewünscht, dass Olbertz sich ernsthafter mit seinen früheren Arbeiten auseinandergesetzt hätte und dass ihn das Berufungsgremium nach seiner Haltung gegenüber dem System in der DDR befragt und seiner Arbeit in der DDR gefragt hätte. Seine befremdlichen und völlig unnötigen Beweihräucherungen der damaligen Ordnung sollten schon Anlass für kritische Nachfragen sein, wenn es um eine Präsidentschaft geht. Damit ist eine Eignung ja nicht per se ausgeschlossen. Wichtig ist, wie er sich heute dazu verhält." Poppe verlangt vor allem schonungslose Offenheit. "Wer als Politiker wirken will, muss sich befragen lassen. Daran erweist sich seine Glaubwürdigkeit."

Für schnelle Verurteilungen ist die frühere DDR-Bürgerrechtlerin nicht zu haben. Parteizugehörigkeit und Zusammenarbeit mit der Stasi geben für sie nicht unbedingt den Ausschlag. Es ist komplizierter. Sie erzählt von einem Arbeitskollegen, einem Mitglied der SED, der sich weigerte, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sich das Arbeitskollektiv von ihr, der Regimegegnerin, distanzierte. Damit hatte er in der DDR seine Chance auf beruflichen Aufstieg verspielt. Auf den konkreten Fall komme es ihr an. Sie will differenzieren, und sie findet es wichtig, wie sich Menschen heute zu ihrer Vergangenheit stellen. Ihre eher vorsichtige, fragende Haltung könnte darin begründet sein, dass sie sich an ihre eigene politische Bewusstwerdung erinnert, und auch bei nahestehenden Menschen, zum Beispiel ihrem Vater, einem frühen SED-Mitglied, erlebt hat, dass sich politische Einstellungen verändern können.

Sie ist leise, eindringliche Erzählerin, Zeitzeugin und Geschichtslehrerin in einem. Wer nur ihren Lebenslauf liest, in dem sechs Wochen Gefängnis erwähnt werden, könnte den Dauerkonflikt des Ehepaars Poppe mit dem DDR-Staat leicht als Bagatelle betrachten. Beim Zuhören ist das anders. Sie beschreibt, wie Mitarbeiter der Stasi jeden ihrer Schritte verfolgten, jeden Kontakt registrierten, in der Wohnung der Familie jedes Wort mithörten.

Als 15-jährige Schülerin geriet Ulrike Poppe zum ersten Mal ins Visier des Staates. Mit anderen Schülern hatte sie eine Anfrage an die Volkskammer entworfen, in der auch die Chance einer Wiedervereinigung erwähnt wurde. Ein Mitschüler aus kirchlich engagierter Familie musste deswegen die Schule verlassen, sie durfte bleiben. Während ihres Lehrerstudiums in Berlin schloss sie sich staatskritischen Kreisen an. Da erst erfuhr sie von den Verbrechen des Stalinismus, las Margarete Buber-Neumann und Jewgenija Ginsburg. Im dritten Studienjahr brach sie ihr Lehrerstudium ab. Ihre Bildungsorte fand sie nun vornehmlich am Rand der DDR-Gesellschaft, in Psychiatrien, in Kinderheimen und in den Gruppen der Opposition. "Ich hab mir überhaupt keinen Kopf gemacht, mir war eine berufliche Karriere nicht wichtig." Wirklich? Sie relativiert. Unter den Dissidenten in der DDR habe ein umgekehrtes Wertesystem gegolten: "Wer seine Seele nicht an den Staat verkaufte, war in der Opposition angesehen."

An der DDR lässt sie kein gutes Haar. Die angebliche Gleichberechtigung von Frau und Mann in der DDR und die angebliche Kinderfreundlichkeit nennt sie einen "Mythos". Da hätte der Staat die Parole "Alles für die Kinder" ausgegeben, während in den Geschäften keine Windeln zu kaufen gewesen wären. Die vielen Nachrichten über das gute Leben in der DDR hätten in der Bevölkerung, die unter Mangel litt, "ein Gefühl der permanenten Demütigung" ausgelöst. Weil Poppe ihre Kinder nicht der staatlichen Fürsorge in den Kinderkrippen anvertrauen wollte, gründete sie 1980 den ersten Kinderladen der DDR. Er wurde nach nicht einmal drei Jahren von der Staatssicherheit aufgelöst.

Eine Abschiebung in den Westen wäre nach ihrer Haftzeit durchaus denkbar gewesen. "Aber da wollten wir ja nicht hin", sie und ihre Familie, ihr früherer Mann Gerd Poppe und ihre beiden Kinder. Auf Nachfragen erklärt sie: "Ich gebe nicht gerne auf." Weder wollte sie vor dem Streit mit den Partei- und Staatsorganen davonlaufen, noch die Menschen verlassen, mit denen sie diskutierte, Dichterlesungen organisierte, Manifeste schrieb. Darin hat sich ihre Haltung nicht geändert: "Ich würde es nicht einmal schaffen, aus der Stadt wegzugehen", sagt sie. Liest man die Liste der Oppositionsgruppen, in denen sie seit den 70er Jahren mitgearbeitet hat, wird deutlich, dass Leben für sie zu einem guten Stück aus reden und zuhören, erzählen, streiten und Texte schreiben besteht. Und sie rezitiert selbst gerne Verse. Ihr Lieblingsdichter? Ihre Favoriten wechselten mit der Zeit, sagt sie. Dann fällt ihr doch einer ein: Ihr Sohn, der in einer Hardrockband singt und Lieder schreibt.

Eine begabte Netzwerkerin muss sie schon gewesen sein, als das Wort noch nicht erfunden war. In den kleinen Gruppen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung fand Ulrike Poppe eine Heimat. Sogar um über die Existenz Gottes zu diskutieren, gründete sie eine Gruppe, vom Stasiinformanten als Gruppe "Wo ist Gott" in den Stasiunterlagen notiert. Leicht vorzustellen, dass die Frau - unbeugsam in ihrer politischen Haltung und fürsorglich zu den Menschen um sie herum - zu einem bedeutenden Mitglied der Opposition aufstieg.

In dieser Zeit näherte sich Ulrike Poppe der evangelischen Kirche an. Vom Kind, das im Elternhaus das Beten lernte, über die materialistisch denkende Schülerin bis zur Bürgerrechtlerin, die zur Kirchgängerin wurde, hat sie einen weiten Weg zurückgelegt. Mit leuchtenden Augen erzählt sie den Studenten von ihrer Arbeit in der evangelischen Akademie, die ihr die Tür zu einer "Tätigkeit des permanenten Lernens" geöffnet habe.

Ulrike Poppe vertraut darauf, gesellschaftlichen Wandel durch Bürgerinitiativen, öffentliche Debatten und Aufrufe zu erreichen. Sie nennt es das Prinzip "Exit or Voice", das sich schon zur DDR-Zeit bewährt habe. Es besagt so viel wie: Geh oder erheb deine Stimme!

Heute ist es ihre Rolle, zu vermitteln. Bei einer Tagung mit dem Titel "DDR - Unrechtsstaat oder was?", organisiert vom "Forum Justizgeschichte", treffen der brandenburgische Justizminister, Juristen, DDR-Justizopfer, frühere Funktionäre des DDR-Staates und die neue Stasibeauftragte aufeinander. Von der ersten Minute an herrscht im Saal eine hochexplosive Stimmung. Zuhörer stürmen bei den Redebeiträgen früherer SED-Funktionäre aus dem Raum.

Nach einem wissenschaftlichen Vortrag über das DDR-Rechtssystem im internationalen Vergleich brüllt ein Besucher, dass ihm und seiner darüber irre gewordenen Mutter in der DDR durch Enteignung schreckliches Unrecht widerfahren sei. Ein ruhiger Austausch ist kaum möglich, für viele im Saal geht es vor allem um Anerkennung. Andere fürchten, dass die eigene Biografie entwertet wird. Auf ihre ruhige, konzentrierte Weise, die immer auch das Persönliche einbezieht, gelingt es ihr, die aufgewühlten Besucher im Saal zu fesseln und die Stimmung zu wenden. Sie erzählt von ihren Erfahrungen als Häftling und beschreibt von dort aus den Charakter der DDR-Justiz. Angeklagte hätten oft erst nach Wochen einen Anwalt zu Gesicht bekommen, der in der Regel Parteimitglied gewesen sei. Ihre Rechte hätten Beschuldigte nicht einklagen können. Neben dem politischen Strafrecht hatten andere Gesetze für Konformität gesorgt. Zum Beispiel eines gegen Asozialität, gerichtet gegen Leute, die nicht arbeiteten, ihre Stelle verloren oder häufig den Job wechselten wie sie selbst.

Sie bilanziert: "Mit der Wende sind wir vom Untertanen zum Bürger geworden, der Rechte hat." Aus der Gegnerin des DDR-Staates ist die Leiterin einer Behörde geworden. Ihr gefällt daran, dass sie sich nicht in eine fertige Institution einfügen muss, sondern das neue Haus selbst aufbauen kann. Mit Poppe als beratendem Mitglied hat eine Enquetekommission des Landtags ihre Arbeit aufgenommen. Sie soll klären, wie die Transformation von der DDR-Diktatur in den Rechtsstaat unter dem damaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe verlaufen ist, und herausfinden, wie es zur Übernahme früherer Funktionäre sowie Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nach der Wende hatte kommen können. Ein undurchsichtiges Kapitel der Vergangenheit aufzudecken, das heißt für Ulrike Poppe so viel wie eine neue Chance für die Zukunft eröffnen.

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