Urban Zintel
Kind, aus dir wird was!
Kind, aus dir wird was! Das ist heute schwer vorherzusagen. Die Schulleiterin Margret Rasfeld und der Topmanager Thomas Sattelberger über Bildungskarrieren
Tim Wegner
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Sie waren doch bestimmt schon auf Klassentreffen. Haben Sie mal gedacht: Dem oder der hätte ich das nicht zugetraut?

Margret Rasfeld: Auf dem Abiturtreffen unseres Mädchengymnasiums gab es nicht viele Überraschungen. Im Gespräch kam raus, wie sehr sich alle damals in der Schule unterfordert fühlten. Das war also schon vor 40 Jahren so!

Herr Sattelberger, wie viel geben Sie auf Abschlusszeugnisse?

Thomas Sattelberger: Nicht viel. Ich war ja selber Ausbilder. Es ist faszinierend zu sehen, wie bei Menschen, die erst nur mittelmäßig abschneiden, im Beruf plötzlich der Knoten platzt.

Sie haben selber das Studium abgebrochen und mit Joschka Fischer Straßenkampf gemacht. Hat so einer heute in Ihrem Assessment-Center eine Chance?

Thomas Sattelberger

Thomas Sattelberger, Jahrgang 1949, ist als Personalvorstand der Telekom auch für die Talentsuche zuständig. Außerdem engagiert er sich im Rahmen einer Unternehmerinitiative dafür, dass sich Schüler mehr für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik interessieren. Mit Bildung und Personalentwicklung befasst sich Sattelberger seit 1975, zunächst bei Daimler, später auch bei der Lufthansa.
Margret RasfeldUrban Zintel

Margret Rasfeld

Margret Rasfeld, Jahrgang 1951, war 16 Jahre Gymnasiallehrerin. Seit 1992 hat sie drei Gesamtschulen mitaufgebaut und gegründet. Ihre Essener Gesamtschule Holsterhausen orientiert sich an der Agenda 21, einem internationalen Umweltplan. Das Projekt "Verantwortung" an ihrer 2007 gegründeten Evangelischen Schule in Berlin-Zentrum wurde vom Bundesfamilienministerium als "Leuchtturmprojekt" ausgezeichnet.

Sattelberger: Wo ich selber dabei bin, allemal, aber auch sonst. Die Zeit, als man an die glatten Lebensläufe geglaubt hat, ist vorbei. Wichtig ist nicht, ob jemand Höhen und Tiefen hat, sondern wie er damit umgeht.

Frau Rasfeld, wenn sich unsere Kinder später auf dem Arbeitsmarkt gegen super ausgebildete Chinesen durchsetzen müssen, wie bereiten Sie sie darauf vor?

Rasfeld: Durch eine starke Persönlichkeit. Drill und Frontbe ladungsmentalität haben ausgedient. So lernte man im vorigenJahrhundert, als man Maschinen bedienen musste. Viele kommen ja nicht so weit, dass sie bei Herrn Sattelberger vorsprechen können. Und deswegen muss die Schule die Neugierde und die Entdeckerlust, die Kinder ja mitbringen, erhalten und nicht zum Absterben bringen.

Rechnen sollten sie aber schon können, oder?

Sattelberger: Ich bin da bei Frau Rasfeld. Wir haben mal untersucht, wie Ingenieurstudenten in verschiedenen Ländern lernen. In China beispielsweise wird relativ roboterhaft gelernt. Aber schauen Sie, was ein Ingenieur heute machen muss: mit anderen Nationalitäten umgehen, mit Kunden Problemlösungen erarbeiten, im Team mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen klarkommen. Insofern stehen unsere Schüler heute, wo die Phase der disziplinierten, fast sadistischen Lernproduktion in Deutschland fast vorbei ist, gut da. Gerade wenn sie Kreativität mitbringen.

Aber laut Bildungsbericht kann jeder Siebte nicht mehr richtig lesen und schreiben...

Sattelberger: Ach, ältere Generationen klagen meist über die Bildungsdefizite der nachfolgenden. Jammern hilft nicht. Entscheidend ist: Helfen wir jungen Menschen, sich aus ihrem bildungsarmen Milieu herauszuarbeiten? Wenn nicht, bekommen wir Hauptschulklassen, in denen 20 Prozent PISA-Stufe 1 nicht packen.

Rasfeld: Unser Schulsystem produziert ein Drittel Verlierer, die sitzenbleiben oder ihre Schule verlassen müssen. Die Erfahrung, zu scheitern, geht gerade jungen Menschen sehr nahe. Sie speichern sie ab als: Ich bin zu blöd, ich kann nichts. Das selektive Schulsystem trägt erheblich dazu bei, dass sich so wenig verändert. Weil die Lehrer ihren Unterricht nicht auf das Kind ausrichten müssen. Wer nicht passt, wird nach unten weitergereicht.

Sattelberger: Die indische Kastengesellschaft ist vor der Haustür. Unten bleibt unten, und oben bleibt oben. Am Einfluss der sozialen Herkunft auf erworbene Bildung konnten auch 200 Jahre rhetorische Gleichheitspolitik nichts ändern.

Sie sortieren bei der Telekom doch auch aus.

Sattelberger: Ja, aber wie, das ist doch die Frage: Nehme ich auch die Begabung und das Potenzial wahr, oder messe ich nur am Soll-Standard? Wir prüfen gerade, ob wir 60 jungen Menschen aus Hartz-IV-Familien, die bisher immer in Bewerbungsschleifen enden, eine Ausbildung anbieten können. Die Pilotphase des Projekts ist abgeschlossen, und es zeichnet sich eine Erfolgsgeschichte ab, die wir so nicht erwartet haben. Wir werden viele der jungen Menschen direkt ins zweite Ausbildungsjahr übernehmenkönnen! Denen ist vorher Dutzende Male gesagt worden: Ihr schafft es gar nicht. Um es geschäftlich zu sagen: Wir müssen die Talentstechnische Experten, die in den Ruhestand gehen, nur noch 85 Nachwuchskräfte. Wir müssen junge Menschen aus bildungsferneren Milieus ansprechen, Menschen mit Migrationshintergrund und Mädchen, die den Charme der technisch-mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer entdecken könnten. Unternehmen sind bescheuert, wenn sie jetzt nicht Talente in der Gruppe suchen, an der sie vorher achtlos vorbeigegangen sind.

Lernen Kinder, dem Leistungsdruck standzuhalten, wenn Sie bis Klasse neun keine Noten vergeben, Frau Rasfeld?

Rasfeld: Wir sind nicht leistungsfeindlich. Wir legen großen Wert auf Wertschätzung, also auf eine Atmosphäre, in der individuelle Leistung zählt. Wir haben jede Woche öffentliches Lob in der Schulversammlung. Dann gehen Schüler nach vorne und loben andere für Engagement, Hilfe und Zivilcourage. Und auch die Telekom macht ja nicht nur Druck...

Sattelberger: ...sie macht aber auch Druck. Da unterscheiden wir uns, Frau Rasfeld. Für mich ist es die notwendige gute Mischung aus Anerkennung, Lob, Ansporn, Streicheleinheiten und auf der anderen Seite auch Nein sagen.

Rasfeld: So ist es. Wertschätzung bedeutet bei uns, Anspruch mit sehr vielen Anregungen zu verbinden - und mit Konsequenz.

Müsste man, wenn man in den höheren Etagen Karriere macht, nicht eigentlich Unethik lernen? Ein Schwein sein?

Sattelberger: Nein. Wenn Sie ein Schwein sind, dann werden Sie irgendwann mal dafür büßen.

Auch die Verursacher der Bankenkrise?

Sattelberger: Ich habe in 35 Berufsjahren oft erlebt, dass Gier, Hochmut und Fresssucht vor dem Fall kamen. Der größte Verlust für einen Manager ist ja der Verlust von sozialer Achtung, nicht der Verlust von Geld. Die Gesellschaft ächtet heute viel schärfer als noch vor zehn Jahren. Ich sehe Verzerrungen in der Finanzbranche, das ist ein ungesundes, krankhaftes System geworden, das sich selber frisst. Aber die meisten Führungskräfte in meinem näheren Umfeld sind anders. Da gilt das Bild des ehrenwerten Kaufmanns und der ehrenwerten Kauffrau nach wie vor.

Rasfeld: Wo Menschen ihre Potenziale nicht in Wertschätzung entfalten können, entstehen Ersatzbedürfnisse. Ein Gefühl des Mangels, Neid, Gier. Wenn man aber Schüler, so wie wir, drei Wochen in die Welt hinausschickt, mit 100 Euro in der Tasche, um sich Herausforderungen zu stellen, dann wachsen Selbstvertrauen und Teamfähigkeit. Sie lernen, Probleme selbstständig zu lösen. Kinder können viel mehr, als wir ihnen zumuten.

Sattelberger: Bildung hilft, sich charakterlich zu formen. Fachwissen muss da sein, es wird aber im Lauf des Lebens immer löchriger und muss neu erworben werden. Es muss ein Methodenwissen da sein, das die Wissensveralterung überdauert. Es muss Sozialwissen da sein, wie man sich selbstbewusst in einer Gemeinschaft bewegt. Und es muss Herzenslernen dabei sein. Egal ob in der Schul- oder in der Führungsausbildung.

Auch für Philipp Melanchthon, den Reformator, war Bildung Entrohung, um eine friedensfähige Generation heranzuziehen.

Sattelberger: Wohlwissend, dass sich die Menschheit immer wieder in Krisen stürzt, aber auch immer wieder herausfindet.

Melanchthon war ein Bildungskanon wichtig. Gibt es den noch?

Rasfeld: Dazu zähle ich Grundlagen wie Prozentrechnen oder Geschichte. Aber warum gehört nicht längst Technik zum Bildungskanon der Gymnasien? Ich meine nicht Technik als Fach, sondern als Anlass zum Experimentieren. Melanchthon wollte auch, dass Schüler mit ihrem Wissen ihre Umwelt gestalten. Warum lassen wir sie nicht mal eine Solaranlage selber bauen?

Sattelberger: Auch die betriebswirtschaftliche Ausbildung muss ihre Ketten abwerfen und sich wieder mit Geschichte, Soziologie und Psychologie verheiraten. Nicht als Zusatz - und dann noch ein Fach Ethik nebenbei. Das wäre ja wie beim mittelalterlichen Ablasshandel! Man führt ein Fach Ethik ein, um sich vom Thema zu befreien. Nein, das alles muss quer in die Bildungsinhalte integriert sein. So unterschiedlich wir in unserer Perspektive argumentieren, wir sind Pioniere einer neuen Lernkultur.

Rasfeld: Es ist Zeit für radikale Innovationen. Viele Schulen begeben sich ja auf den Weg. Aber wir brauchen ein neues System, eine völlig neue Denke.

Müssten Sie nicht ganz neue Schulen bauen?

Sattelberger: Nein. Auch Systeme können lernen. Manchmal braucht es allerdings einen Schock, damit was passiert. Als ich zur Telekom kam, mussten wir den größten Streik der Unternehmensgeschichte meistern. Das war schmerzhaft, aber auch Aufbruch in eine neue Welt. Ein Jahr später die Datenskandale. Zwei Jahre also mit massivsten Verwerfungen. Wenn man versäumt, Dinge nach und nach zu ändern, brechen sie sich auf einmal mit aller Härte Bahn. Wir reden jetzt im Unternehmen über Werte.

Das nennen Sie neue Welt?

Sattelberger: Da sagen Sie: alter Käse, klar. Ich habe auch schon vor 30 Jahren bei Daimler Werte erarbeitet. Das ist wie bei den Zehn Geboten, man muss sie immer neu vermitteln. Aber ich sage Ihnen: Menschen bei uns beziehen sich jetzt auf diese Werte.

Rasfeld: Ich glaube, wir müssen den alten Frontalunterricht abschaffen. Schüler vertragen heute mehr Selbstständigkeit und Individualität, ja sie fordern sie. Bei uns haben Schüler 200 Klimabotschafter ausgebildet. Die ziehen alleine in andere Schulen los, um Vorträge zu halten. Kommt super an. Die laden sich hier am Prenzelberg die Cafébesitzer ein, die Heizpilze im Freien haben, und konfrontieren sie mit der Ökobilanz: Klimakiller!

Sattelberger: Ganz schön mutig! So weit sind wir in den Unternehmen noch nicht.

Rasfeld: Klar, Mut! Jeder, der in unsere Schule kommt, kriegt eine Mutkarte mit einem Stern, der nachts Mut ins Herz leuchtet. Und eine Salztüte mit der Aufschrift: Ihr seid das Salz der Erde.

Also das alte Schulsystem abreißen?

Rasfeld: Ja.

Sattelberger: Nein. So gehen Wechsel nicht. Man muss an das Gute im Alten anknüpfen und klar benennen, was im Alten nicht funktioniert. Zu viel Veränderungseuphorie bleibt schnell auf der Strecke. Also: ein Schritt nach dem anderen. Es gärt doch jetzt, die Unzufriedenheit mit der alten Schule ist auf dem Tisch. Jetzt fängt das Management of Change, der Bergaufstieg, an. Und die Bergführer und Bergführerinnen müssen sich ab und zu umdrehen und gucken, dass ihre Truppe nicht im Nebel verschwindet.

Rasfeld: Ich sehe kaum Euphorie. Aber das liegt daran, dass wir die Veränderung nur verwalten, anstatt Visionen anzubieten. Die Vision muss groß sein, dann können die Schritte klein sein.

Sattelberger: Vielleicht bin ich realistischer geworden. Ich verspreche meist weniger und versuche das Wenige, das ich verspreche, zu übertreffen.

Bei der Telekom haben Sie eine Frauenquote versprochen!

Sattelberger: Da beschleicht mich ab und zu auch eine gewisse Demut vor dieser großen Idee. Dann sitze ich abends da und diskutiere mit mir selber: Gibt es in den männlichen Führungskadern der katholischen Kirche ähnliche Muster wie in anderen Trutzburg-Organisationen? Wozu führen geschlossene Systeme, die nur ein Fenster haben, durch das alle rausschauen? In ruhigen Zeiten funktionieren sie hocheffektiv mit exzellenter Routine, aber in der Krise - erratisch! Philosophische Fragen. Dabei wollte ich nur für diese 30 Prozent eintreten!

Frau Rasfeld, hat die Debatte um die Reformpädagogik Sie verunsichert?

Rasfeld: Nein. Die Odenwaldschule ist ins Zentrum der Debatte um sexuellen Missbrauch geraten. Wir müssen die Reformpädagogik kritisch befragen. Dennoch glaube ich, dass wir in staatlichen Schulen mehr von der Idee der Reformpädagogik brauchen, nicht weniger. Also das Kind in den Mittelpunkt stellen! Her mit Erfahrung und Herzensbildung! Lernen läuft über Beziehung!

Sagen Eltern jetzt: Weniger Beziehung reicht, haltet Abstand?

Rasfeld: Überhaupt nicht. Wenn ich achtsam bin, merke ich, ob ich einen Schüler in der Pubertät in den Arm nehmen kann oder nicht. Ich fände es tödlich, wenn kein Schüler allein mit einem Lehrer im Raum sein dürfte. Ich vertraue meinen Lehrern!

Sattelberger: Ich habe als junger Ausbilder Hartmut von Hentig verschlungen. Aber die Reformpädagogik hat sich selbst über den grünen Klee gelobt. Hybris kommt vor dem Fall. Im Übrigen: Dass Herzensbildung und seelische Entwicklung zum Lernen gehören, wusste man zu allen Zeiten. Ich hatte einen Griechischlehrer, der mich beim Spicken erwischt hat. Ich dachte, ich krieg eine 6. Dann kam er drei Wochen später und sagte: "Thomas, drei bis vier! Wenn der Bundestagspräsident Gerstenmeier - so hieß der damals - illegale Immobiliengeschäfte machen kann, ohne dafür bestraft zu werden, kann ich dir ja keine 6 geben." Anfang der 90er ist da was in schlimme Schieflage geraten, die Menschheit wusste alles schon mal besser.

Jetzt ist der Staat verschuldet. Wie überzeugen Sie in diesen Zeiten einen Politiker, Geld für Bildung auszugeben?

Sattelberger: 2013 machen die 12. und 13. Jahrgänge gleichzeitig Abitur. Dann erleben wir in Deutschland die letzte Riesenbugwelle an Talenten. Wenn wir jetzt nichts tun, haben wir uns bis ins Jahr 2025 hinein an diesem Land versündigt.

Rasfeld: Ich würde Politikern eine Riesenmutkarte schenken. Sie sollen nicht vor den Wählern einknicken. Unsere Gesellschaft will keine Einknicker!

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