Draußen im Stadtteil Neukölln prügeln sich arabische Gangs durchs Leben. Drinnen in Henning Viercks Garten müssen sie die Pflanzen achten und die Früchte gut behandeln. Vierck hat seinen Garten nach Ideen des friedliebenden Philosophen Johann Amos Comenius angelegt - was manchem Außenstehenden vielleicht naiv anmutet. Aber sein pazifistisches Konzept funktioniert im rauen Berliner Stadtteil. Die Jugendlichen lieben Vierck wie einen Vater und den Garten wie ihr Zuhause.
Tim Wegner
07.10.2010

Der Wettstreit der Kulturen ist auch ein Wettstreit um saure und süße Früchte. Die arabischen Jugendlichen wollen die Pflaumen im Garten essen, wenn sie noch grün und hart sind. Sind sie weich und lila, sagen viele "bäh, wie eklig". Sie sagen das auch hier in Deutschland, obwohl ihre Heimat weit weg ist. Henning Vierck aber, der Hüter des Gartens, möchte die Früchte erst pflücken, wenn sie reif sind.

"Am Sonntag ist eine Katastrophe passiert", sagt Henning Vierck und streicht sich durch den blond-grauen Bart. "Ich hab sie alle vertrieben und den Garten abgeschlossen." Die Jungs haben versucht, Äpfel abzureißen. Früchte schlecht zu behandeln, ihnen Gewalt anzutun, das ist hier ein böses Vergehen. Zur Strafe dürfen die Jugendlichen den Garten zwei Tage lang nicht betreten. Für sie ist das schlimmer als eine Woche im Gefängnis.

Denn der Garten, um den es hier geht, ist ein Garten Eden. Wer hier nicht rein darf, ist ausgeschlossen aus der Schönheit, aus dem Guten und aus der Gemeinschaft. Draußen ist die Welt. Draußen ist Berlin, Nord-Neukölln. Jeder Zweite bis Dritte arbeitslos, 70 Prozent der unter 25-Jährigen leben von Hartz IV. Der Bürgermeister sagt, nirgendwo sonst in Deutschland gibt es so viele Probleme auf engem Raum. Fast drei Viertel der Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss oder mit Hauptschulzeugnis. Viele prügeln sich durchs Leben. Draußen machen sie sich wenig Gedanken, und erst recht keine über Bäume, abgeknickte Zweige, unreife Früchte.

Die ersten Veilchen waren am nächsten Tag ausgerissen und auf den Straßen verstreut

Wohl aber hier drinnen. Auf einer Fläche so groß wie ein Fußballfeld zwischen der Karl-Marx-Straße und der Sonnenallee wächst alles, was man gern von der Hand in den Mund bringen möchte: Äpfel, Birnen, Kirschen, weiße, rote und schwarze Johannisbeeren, Stachelbeeren und natürlich Himbeeren und Brombeeren. Es blühen Feuerbohnenstauden, Weißer Phlox und Roter Hibiscus, in Beeten gedeihen Thymian, Salbei und Minze.

Schon Anfang der neunziger Jahre wollte Henning Vierck ein Brachgrundstück mitten in den Überresten einer böhmischen Siedlung in Neukölln bepflanzen. Die Grünanlage sollte nach den Ideen von Johann Amos Comenius angelegt sein, einem friedliebenden Philosophen, Theologen und Pädagogen aus dem Böhmen des 17. Jahrhunderts. Vierck gewann das Land Berlin, das ein Vorzeigeprojekt für seine Städtepartnerschaft mit Prag brauchte und seit 1992 für die Kosten aufkommt - zur Pflege des europäischen Kulturgutes.

Vor 14 Jahren wurden die ersten Beete angelegt. Die ersten Veilchen waren am nächsten Tag ausgerissen und auf den Straßen verstreut. Was erwartest du anderes in Neukölln, sagten die Leute zu Henning Vierck. Der Wissenschaftshistoriker weiß, dass Veränderungen manchmal Zeit brauchen. So hob er Pflanze für Pflanze von Bürgersteigen und Straßen auf. Kinder schauten ihm zu. "Ja, es macht bestimmt Spaß, die auszureißen und rumzuwerfen", sagte er ihnen. "Aber es macht auch Spaß, sie wieder einzusammeln." Nach einer Weile bückte sich ein Junge nach einer Blüte, dann noch einer. Am Ende halfen alle, die Veilchen wieder einzupflanzen. Seitdem hat sie keiner mehr ausgerissen.

Vierck, 60 Jahre alt, ist ein geduldiger Mann. Mit Jugendlichen herumzubrüllen liegt ihm nicht. Es bringe auch nichts, ihnen zu sagen, mach dies und lass das. "Man muss Regeln mit ihnen gemeinsam leben." So wie das in Familien in bürgerlichen Stadtvierteln selbstverständlich geschieht. Und so klingelte Vierck eines Tages in der Nachbarschaft und lud alle ein, in den Garten zu kommen. Sie setzten sich auf die Eichenbänke und ins Gras und staunten, wie schön es bei Vierck ist, und halfen mit, das Schöne zu schützen.

Die Jungs machen sich lustig über die "Huren", über die "scheiß Lehrer"

300 Großfamilien nutzen den Garten heute, und vielleicht 1000 Kinder und Jugendliche. Vierck ist bei ihren Hochzeiten eingeladen, er kennt ihre Geschichten. Er weiß, in welchen Wohnungen Teppiche an der Wand hängen und in welchen Waffen. Viele Familien denken, dass der Garten ihm gehört, sie wissen nichts von den zwei Millionen Euro, die die Anlage gekostet hat und den 100 000 Euro, die Berlin jedes Jahr gibt, um Vierck zu bezahlen und die Gärtner. Frauen mit Kopftüchern und langen Röcken träumen unter den Maulbeerbäumen von ihrer Kindheit im Dorf in der Türkei. Verliebte halten Händchen und tauchen die Nase in Rosenknospen.

In einem hölzernen Pavillon in der Mitte des Gartens sitzen Teenager. Die Jungs ziehen die Kapuzen ins Gesicht und die Silberkettchen übers T-Shirt. Sie machen sich lustig über die "Huren", über die "scheiß Lehrer". Ihre Familien sind aus der Türkei gekommen, aus dem Libanon, aus Palästina, aus Bosnien und dem Kosovo, sie kamen mit Onkeln und Tanten und vielen Cousins und Cousinen. "Ich mache Tausende Raptext, sorge draußen für Respekt, spitte meine Parts, ficke die Charts ...", rappt ein Jugendlicher den anderen vor.

Zwischen dem Garten und dem Rest der Welt verläuft ein Zaun. Er ist 1,40 Meter hoch und aus robustem Holz. Tagsüber öffnet sich eine Tür, wenn man auf den Summer drückt. Nachts kann man drüberklettern. Das ist erlaubt, wenn man sich an die Vereinbarung hält: keine laute Musik, kein Müll, Rücksicht auf Flora, Fauna und andere Gartenbesucher. Ein abgeknickter Zweig ist abgebrochenes Leben, und das ist etwas ganz Schlimmes. Das sehen auch die Jugendlichen so, über die man jede Woche in den Zeitungen liest, wie sie in Neuköllns Straßen und Schulen pöbeln, klauen und schlagen. Hier drin aber halten sie sich an die Regeln. Meistens jedenfalls.

"Alles fließe von selbst, Gewalt sei ferne den Dingen"

"Herr Vierck, kannst du uns den Ball aufpumpen?", fragt ein Junge. Er ist sechs Jahre alt, hat schwarze Haare und steckt in kurzer Hose und T-Shirt. Der Junge kommt vom Fußballplatz nebenan gelaufen und ist verschwitzt. Es ist ein heißer Sommernachmittag. Vierck kennt den Kleinen gut und auch seine Familie. Sein älterer Bruder wurde in den Libanon abgeschoben, ein anderer sitzt im Gefängnis. Vierck steht vom Schreibtisch im kleinen Gartenhaus auf und sucht im Schuppen nach einer Pumpe. Als der Ball wieder drall ist, fragt der Junge, ob er Wasser trinken kann. Vierck schließt den Schuppen noch mal auf, der Junge hält die Hände unter den Wasserhahn. Vierck lässt ihn alleine.

Während er Wasser schlürft, streift der Sechsjährige mit einem Auge über Kisten, die im Halbdunkel des Schuppens lagern. Auch ganz besondere Sachen liegen da, Lupen zum Beispiel und ein Haifischgebiss. Schätze, die Vierck für seine "Werkstatt des Wissens" braucht, für seine Forschungen, die er zusammen mit den Kindern betreibt. - Nach ein paar Sekunden nimmt der Junge seinen Ball, ruft "Fertig! " in Viercks Büro und rennt wieder los. Vielleicht hat er das Gebiss und die Lupen beim nächsten Tritt gegen den Fußball schon vergessen, vielleicht setzen sich die Schätze auch in seinem Kopf fest und damit die Frage: Wie komme ich da ran, wo es doch der Schuppen vom Herrn Vierck ist? In so mancher Familie derer, die bei Herrn Vierck Wasser trinken, nimmt man sich einfach, was man will, auch wenn es einem nicht gehört. Anfangs bleibt Vierck neben den Kindern stehen, wenn sie trinken. Irgendwann lässt er sie alleine. Ich lasse euch trinken. Ihr klaut nicht die Lupen. Es ist eine große Leistung, wenn die Kinder der Versuchung widerstehen.

Neulich fehlte etwas. Vierck fragte in der Schule, in der Moschee, bei den Eltern. Dann stand ein Junge vor ihm und holte etwas aus der Hosentasche. Die Lupe. Er habe sie vor dem Schuppen gefunden, sagte er. Vierck akzeptierte die Erklärung. Der Junge hatte zumindest ein bisschen Schuldbewusstsein gezeigt, mehr wollte Vierck erst mal nicht. Ein anderes Mal, ein anderer Diebstahl. Vierck kam in eine Wohnung, der Vater bat um Verzeihung und gab das Diebesgut zurück. Der Sohn heulte und entschuldigte sich. Er habe ihn verprügelt, brüstete sich der Vater. Seitdem kündigt Vierck seine Besuche nicht mehr an. Dass ein Kind seinetwegen geschlagen wird, macht alles kaputt.

"Alles fließe von selbst, Gewalt sei ferne den Dingen", steht auf einem Stein gegenüber dem Garten. Johann Amos Comenius hat diesen Satz geschrieben. Henning Vierck hat seine Werke gelesen. Wenn er den Wasserhahn für die Kinder aufdreht, lenkt Comenius seine Hand. Trüge die Comenius-Skulptur im Garten bronzene Hose und Hemd statt des langen Mantels, man könnte den bärtigen Typen für Viercks Abbild halten.

Was Vierck von Johann Amos Comenius gelernt hat, hilft ihm, die muslimischen Familien zu verstehen.

Zu Comenius' Zeit waren sich Mensch und Natur näher. Man wusste nicht, dass das Ich ein freies Individuum mit unhinterfragbaren Rechten ist. Dennoch war Comenius überzeugt, dass man Kinder zu guten Menschen erziehen kann, wenn man ihnen keine Gewalt antut. Jeder Einzelne hat ein Gewissen, in dem Jesus Christus ein Wörtchen mitredet. "In jedem Menschen gibt es ein Fenster, durch das man ihn erreichen kann", übersetzt Vierck. Jeder hat eine Seele, ein Herz und Sinnesorgane.

Als Comenius lebte, waren Kinder oft sich selbst überlassen, der Anführer einer Bande erzog die anderen. Was er von Comenius gelernt hat, hilft Vierck, die muslimischen Familien zu verstehen. Das Prinzip großer Bruder erlebt er hier jeden Tag. Ali Kaya, 21, ist so ein großer Bruder. Er kommt mit breitbeinigem Gang den schmalen Gartenweg entlang. Über die Schulter hat er einen grauen Müllsack geworfen. Ali Kaya war einst der Anführer einer Bande von 60 Jugendlichen. Die Polizei kannte sie gut, viele kamen ins Gefängnis. Ali nicht. Er lässt sich im Pavillon auf die Bank fallen. Der Müllsack plumpst von seiner Schulter auf den Boden, Ali kramt daraus Red-Bull-Dosen, einen Beutel Kirschsaft und Zigaretten hervor. Kurze Zeit später kommen sein Cousin und ein paar andere junge Männer vorbei.

Der Pavillon ist für Henning Vierck und Johann Amos Comenius das "Seelenparadies". Für die Jugendlichen ist er "P 2". Hier treffen sie sich, vor der Schule, in der Pause, abends. "Der Garten gehört uns, hier sind wir eigentlich immer." Er ist das erweiterte Wohnzimmer ihrer Gangs. "Klar sieht's hier ordentlich aus. Dafür sorgen wir. Ist doch unser Zuhause", sagt Ali Kaya und wirft einen Zigarettenstummel auf den Pavillonboden. Herr Vierck hat sie als kleine Kinder Wasser trinken lassen. Er hat gemeinsam mit ihnen geforscht und experimentiert, er hat ihnen bei den Hausaufgaben geholfen und bei den Bewerbungsschreiben und anderen Problemen, über die sie lieber schweigen wollen. "Er ist der korrekteste Mensch, den wir kennen, außer unseren Eltern", sagt Ali Kaya. Wenn das einer sagt, der in Rapsongs Hass und Brutalität besingt, klingt das merkwürdig. Er sagt es ohne Ironie.

Manche Jugendlichen werden Taxifahrer, Schlosser, ein paar studieren. Von anderen liest Vierck später im Polizeibericht

Draußen reden die Jugendlichen viel von Respekt. Es bedeutet Hierarchie, Unterordnung, Angst. Im Garten bedeutet es, dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Den 60-Jährigen mit dem Zauselbart lieben sie "wie einen Vater". Mit ihm die Pflanzen, Sträucher und Blumen. "Das sind die Kinder vom Herr Vierck." Wenn sich Jugendliche im Garten danebenbenehmen, wie einmal die beiden 14-Jährigen, die mit Messern aufeinander losgehen wollten, greifen die Älteren ein. Ali hat den Jüngeren das Messer abgenommen. "So was gibt's hier drin nicht. Punkt."

"Achtung zeigt sich im Handeln, im Gespräch, bereits schon im Denken", sagt Henning Vierck und unterscheidet da nicht zwischen Fünf- und Fünfzigjährigen. Was der kleine Mohamed, was Besnik und Rana denken, nimmt er so ernst wie die Arbeit seiner früheren Kollegen vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Zusammen mit ihnen betreiben sie hier, im Paradies, "Wunderforschung" und die "Werkstatt des Wissens". Wie kann man die alltäglichen Wunder erklären? Kann Zeit schneller vergehen? Woraus besteht Licht? Was kann Gott? In Workshops und Ausstellungen geht es um das "Nichts", das "Neue", um Weltbilder und Glaubensfragen. "Gott kann zaubern", ist Suad, 9, überzeugt. "Kann er nicht", sagt Rana, 7. "Das braucht er gar nicht zu tun, er kann trotzdem alles." Vierck ermutigt die Kinder, eigene Erklärungen für ihre Beobachtungen zu finden. Sie treffen oft in den Kern von Wissenschaftsdiskussionen. Und die Kinder fühlen sich ernst genommen. Vierck hat uns viel beigebracht, sagt Ali Kaya. Nicht, weil er müsse, wie die Lehrer, sondern weil es aus seinem Herzen komme.

Ali Kaya und sein Cousin Mustafa haben neulich ein Rapvideo unter den Obstbäumen gedreht. "Wir sind die Kings on the Streets. Die Straßen von Neukölln. Das ist die Wüste Berlins ..." Welt und Paradies haben sich für einen Moment getroffen.

Es ist Mittag. Kayas Frau hat ihn gerade auf dem Handy zum Essen gerufen. Ali Kaya sammelt seine weggeworfenen Kippen ein und die leeren Red-Bull-Dosen. Vor kurzem haben sie geheiratet. Für ihn und seine Freunde beginnt eine neue Lebensphase, sie müssen nun für Frauen und bald auch für Kinder aufkommen. Kaya sagt, dass er diesmal seine Lehre bis zum Schluss durchhalten will. In ein paar Monaten wird die nächste Generation von 13-, 14-Jährigen den Garten von den Älteren übernehmen und damit auch die Regeln, die hier gelten. Was die Jugendlichen aus dem Garten mit ins Leben nehmen, kann Henning Vierck nicht voraussagen. Manchmal besuchen sie ihn und präsentieren stolz ihre Kinder. Manche werden Taxifahrer, Schlosser, ein paar studieren. Von anderen liest er im Polizeibericht. 

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